Am 7. Januar 2025, Oury Jallohs 20. Todestag, gingen in Dessau mehrere hundert Menschen auf die Straße. Der 35-Jährige aus Sierra Leone, Vater eines zweijährigen Sohnes, war am 7. Januar 2005 in einer Zelle der Polizeiwache Dessau-Roßlau, festgekettet an Händen und Füßen, bei lebendigem Leib verbrannt.
Auch 20 Jahre später weigert sich der deutsche Staat, die Todesumstände aufzuklären und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.
Die Menschen, die letzte Woche von der Polizeiwache in Dessau-Roßlau zum Gerichtsgebäude demonstrierten, trugen Schilder und Transparente mit sich, die außer an Oury Jalloh auch an die vielen anderen Opfer von Polizeigewalt erinnerten. So prangerte ein Transparent den Polizeimord an Mouhamed Lamine Dramé an, dem Jugendlichen, der in Dortmund vor zweieinhalb Jahren getötet wurde. Wenige Tage zuvor hatte das Dortmunder Landgericht am 12. Dezember 2024 alle fünf beteiligten Polizisten freigesprochen.
Über Oury Jallohs Tod lautet auch nach 20 Jahren die offiziell gültige Version immer noch, dass er sich selbst getötet habe. Obwohl er an Händen und Füßen angekettet war, sei es ihm gelungen, ein Feuerzeug aus der Hosentasche zu fischen, ein Loch in die schwer entflammbare Matratze zu reißen und diese und sich selbst innerhalb von nur 20 Minuten vollständig in Flammen aufgehen zu lassen. Diese Version ist nicht nur absurd, sie ist bereits mehrfach, auch durch professionelle Gutachter und internationale Experten, widerlegt worden.
Dies geht auch aus einer neuen, sechsteiligen ARD-Crime-Time-Serie hervor, die das Geschehen beleuchtet. Zwar suchten die Filmemacher dabei nach vermeintlicher „Ausgewogenheit“, indem sie immer wieder die zynischen Kommentare des Revierleiters Hanno Schulz einblendeten: Ihm zufolge waren die mit Oury Jalloh befassten Polizisten „zwei ganz ruhige, zurückhaltende Vertreter“; es müsse doch „irgendwann auch mal Schluss sein“ mit den Ermittlungen. Dennoch wird aus dem Film der Hergang des Geschehens hinreichend klar.
Am frühen Morgen des 7. Januar 2005 spricht Jalloh zwei Frauen auf der Straße an, weil er telefonieren möchte. Diese Frauen rufen den Notruf, zwei Polizisten erscheinen und nehmen Oury Jalloh fest. Sie bringen den unter Alkohol stehenden, sich wehrenden Mann aufs Polizeirevier. Kurze Zeit später liegt er schwer verletzt auf einer Matratze in Zelle 5. Wie eine spätere Obduktion feststellen wird, sind zu diesem Zeitpunkt sein Nasenbein und mehrere Rippen gebrochen, sein Trommelfell ist geplatzt und er hat einen Schädelbruch.
Während die Polizisten Jalloh verletzt, gefesselt und fixiert liegen lassen, geht aus Zelle 5 der Feueralarm auf der Wache los. Aber der diensthabende Polizeileiter schaltet ihn zweimal aus. Als endlich jemand nachschaut, dringt bereits dicker schwarzer Rauch aus der Zelle. Oury Jalloh ist nicht nur tot, sondern zur Unkenntlichkeit verbrannt.
Die offiziellen Ermittlungen werden äußerst schlampig geführt: Ein Videoteam verdirbt die Aufnahmen vom Tatort, so dass es kein Filmmaterial davon mehr gibt. Die Staatsanwaltschaft lehnt es ab, den Leichnam röntgen zu lassen – erst Oury Jallohs Freunde werden dies später auf eigene Kosten veranlassen und die Verletzungen feststellen. Eine Anklage wegen „fahrlässiger Tötung“ endet im Freispruch, da die Belastungszeugen ihre Aussage nachträglich ändern und alle Polizeikollegen mauern. Ein verkohltes Feuerzeug, das in den Asservaten aus der Zelle auftaucht, kann überhaupt nicht vom Tatort stammen – auch dies ergeben erst spätere Ermittlungen der freiwilligen Unterstützer.
Wie sich herausstellt, sind vor Oury Jalloh auf derselben Wache schon früher zwei weitere Männer zu Tode gekommen, wozu im Januar 2005 die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind. Geht es also auch darum, dass es hier keinen weiteren Polizeimord mehr geben durfte?
Im Lauf der Jahre zeigen weitere private und behördliche Brandversuche eindeutig, dass ein Feuer wie in Zelle 5 auf keinen Fall ohne Brandbeschleuniger hätte entstehen können. Auch hat die Forschungsgruppe Forensic Architecture (FA) den Tathergang nachgestellt. Sie kommt zum Schluss, dass ein derartiger Brand eine offenstehende Tür erfordert. Dies alles beweist klar, dass sich Oury Jalloh, eingeschlossen und an Händen und Füßen gefesselt, auf keinen Fall selbst anzünden konnte.
Mehr als zwölf Jahre nach seinem Tod leitet der Dessauer Oberstaatsanwalt deshalb doch noch Mordermittlungen ein. Aber der Fall wird ihm schon kurz danach entzogen und an eine andere Staatsanwaltschaft in Halle abgegeben, die ihn rasch für abgeschlossen erklärt. Als Politiker im Landtag Fragen stellen und Aufklärung fordern, belügt die zuständige Justizministerin das Parlament über den Stand der Ermittlungen. Im Herbst 2017 stellt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen offiziell ein.
Als sich Ourys Bruder Saliou Jalloh im Jahr 2019 an das Oberlandesgericht Naumburg wendet, weist dieses das Klageerzwingungsverfahren zurück. Schließlich geht Saliou Jalloh bis vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Doch auch dieses oberste Gericht legt im Februar 2023 den Mord in Zelle 5 abschließend zu den Akten. Hauptargument: Die Einstellung der Ermittlungen durch das OLG Naumburg habe nicht gegen das Grundgesetz verstoßen. Schließlich scheitert auch der Versuch, beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Klage einzureichen; die Klage wird unter Hinweis auf einen Formfehler abgewiesen.
Seit 20 Jahren leugnen Polizei, Justiz und Politik die Tatsache, dass sich Oury Jalloh auf keinen Fall selbst anzünden konnte. Bis heute wird in den Gerichtssälen von Dessau, Magdeburg, Halle und Naumburg, im Landtag von Sachsen-Anhalt, zuletzt in Karlsruhe und Den Haag die absurde Version von der Selbsttötung akzeptiert und festgeschrieben.
Juristisch sei der Fall in Deutschland damit abgeschlossen, heißt es. Aber wie die „Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“ in ihrer Presseerklärung richtig schreibt, sprechen die ermittelten Fakten „eine eindeutige Sprache: Das war Mord! Ein Mord, der kein Mord sein darf.“ Und Mord verjährt schließlich nicht, heißt es in der Presseerklärung weiter. „Der Kampf um Aufklärung und Gerechtigkeit wird so lange dauern, bis der Oury Jalloh-Komplex aufgelöst ist und die Täter zur Verantwortung gezogen werden!“ Saliou Diallo, Ourys Bruder, bezeichnete die Kundgebung letzte Woche in Dessau als einen weiteren „Jahrestag des Kampfes um die Wahrheit“.
Allerdings ist die jahrelange Vertuschung und Leugnung durch die deutsche Justiz in diesem und in anderen Fällen eine ernste Warnung. Von ihnen wird die Gerechtigkeit nicht ausgehen. Gerade in der heutigen Zeit eskalierender Kriege setzen die Regierung und der Staat einschließlich der Gerichte und Gewaltorgane nicht auf Aufklärung und Verständigung, sondern immer mehr auf Konfrontation. Tragische Attentate wie in Solingen, Mannheim und Magdeburg werden zum Anlass genommen, um die Polizei aufzurüsten und die Hetze gegen Geflüchtete und Migranten zu verschärfen.
Nicht nur die AfD, in der Alice Weidel inzwischen offen und laut nach „Remigration“ schreit – alle Parteien, von SPD und Grünen über FDP und CDU/CSU bis hin zur Linken und der Wagenknecht-Partei BSW betreiben diese Politik, obwohl (oder gerade weil) sie im Wahlkampf stehen. Diese Politik richtet sich im Kern gegen die Arbeiterklasse, die angesichts der Angriffe auf ihre Arbeitsplätze, Löhne und Rechte vor großen Kämpfen steht. Nur im Kampf für eine sozialistische, internationale Perspektive kann letztendlich Gerechtigkeit hergestellt werden.