Sechseinhalb Jahre nach den G20-Protesten in Hamburg begann am 18. Januar zum dritten Mal ein Prozess gegen Demonstranten, die damals in der Straße Am Rondenbarg festgenommen worden waren. Zwei Mal war ein Prozess gegen andere Demonstrationsteilnehmer vom Rodenbarg aus formalen Gründen gescheitert.
Der Prozess ist vor allem aus zwei Gründen bedeutsam: Zum einen versucht die Hamburger Staatsanwaltschaft hartnäckig und vehement, über eine Änderung der Rechtsprechung eine weitgehende Abschaffung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit herbeizuführen. Dies fällt mit Angriffen auf dieses Grundrecht im Zusammenhang mit Protesten gegen den Völkermord in Gaza zusammen.
Zum anderen setzt der Prozess die maßlose Repression gegen Demonstranten fort, die vom damaligen Ersten Bürgermeister Hamburgs, dem heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), verantwortet wurde, der sie bis heute befürwortet. Er zeigt, wozu diese Regierung fähig ist, wenn sie mit Protest und Widerstand konfrontiert ist.
Nach den Protesten hatte die Hamburger Polizei mehrere großangelegte Razzien im In- und Ausland initiiert und 3500 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Es kam zu hunderten Prozessen. Einige Angeklagte waren wegen Bagatellen zu exemplarischen Haftstrafen verurteilt, andere kamen gegen ein „Geständnis“ mit einer Geldbuße davon oder wurden freigesprochen.
Der erste Verhandlungstag im jüngsten Prozess begann mit einer Verspätung von etwa 1,5 Stunden. Grund dafür waren umfangreiche, schikanöse Einlasskontrollen, die das Gericht angeordnet hatte. Besucher des Prozesses mussten durch einen Seiteneingang in das Gericht, ihre Sachen wurden durchleuchtet, sogar die Schuhe mussten sie ausziehen.
Am 20. Januar 2024 demonstrierten 1500 Menschen unter dem Motto „Gemeinschaftlicher Widerstand gegen staatliche Repression! Versammlungsfreiheit verteidigen!“ ihre Solidarität mit den Angeklagten.
Beim G20-Gipfel war die Polizei mit enormer Brutalität gegen Demonstranten vorgegangen, begleitet von einer maßlosen Hetzkampagne in den Medien, die von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“ in der Hansestadt fabulierten. Der „Rondenbarg-Komplex“ war ein besonders drastischer Fall, wie die WSWS berichtet hat.
Ein Demonstrationszug wurde in der Straße Am Rondenbarg von vorne und hinten von Polizeieinheiten eingekesselt, und nachdem unbekannte Personen eine Handvoll Feuerwerkskörper und Steine in Richtung der Polizisten geworfen hatten, ohne sie zu treffen, griffen diese sofort an und zerschlugen den Demonstrationszug innerhalb weniger Minuten. Kein einziger Polizist wurde dabei auch nur leicht verletzt, wohl aber zahlreiche Demonstranten, einige davon schwer, teils blieben sie mit offenen Knochenbrüchen liegen. Trotz der ungeheuerlichen Brutalität ist bis heute kein beteiligter Polizist strafrechtlich verurteilt worden.
Umso vehementer werden Protestierende verfolgt, denen selbst die Staatsanwaltschaft nicht vorwirft, gewalttätig gewesen zu sein. Etwa 80 der Demonstranten sind zwischenzeitlich wegen schweren Landfriedensbruchs angeklagt worden. Der strafrechtliche Vorwurf reduzierte sich letztlich auf die bloße Teilnahme an einer Demonstration, bei der irgendwelche anderen Teilnehmer – womöglich sogar staatliche Sicherheitskräfte in Zivil – Gewalthandlungen ausgeübt hatten. Dafür sollten friedliche, nicht vorbestrafte Demonstranten mehrjährige Haftstrafen erhalten.
Die Staatsanwaltschaft will die Reform des Landfriedensbruch-Paragrafen 125 aus dem Jahr 1970 wieder umkehren. Vor 1970 war die bloße Anwesenheit in einer „unfriedlichen Versammlung“ strafbar. Heute wird zum Teil die so genannte „psychische Beihilfe“ herangezogen, um Menschen wegen „Teilnahme“ zu verurteilen.
Diese staatsanwaltliche Konstruktion kam beispielsweise beim G20-Elbchausee-Prozess zur Anwendung – obwohl der Bundesgerichtshof (BGH) in der Vergangenheit mehrfach darauf hingewiesen hatte, dass die bloße Anwesenheit in einer „gewalttätigen Menge“ für eine Verurteilung wegen Landfriedensbruchs nicht ausreicht.
2017 entschied allerdings der BGH, dass das „ostentative“ Mitmarschieren als Landfriedensbruch bestraft werden könne. Dabei ging es aber nicht um Demonstrationen, sondern um organisierte Hooligan-Gruppen, die einheitlich gekleidet und in Formation aufmarschiert waren zu dem einzigen Zweck, sich zu schlagen. Der BGH hatte in seiner Entscheidung betont, dass dies auf politische Demonstrationen nicht übertragbar sei.
Genau dies hat aber die Staatsanwaltschaft auch im Rondenbarg-Verfahren immer wieder versucht. In der Anklageschrift vermied sie sorgfältig das Wort „Demonstration“ und sprach stattdessen von einem „Aufmarsch“ in „einheitlich schwarzer Kleidung“.
Nichts davon trifft zu, wie sich bereits am zweiten Prozesstag zu Beginn der Beweisaufnahme bestätigte. Es wurden mehrere Videoaufnahmen gezeigt. Die Verteidigung wies darauf hin, dass die Angeklagten darauf nicht zu sehen sind. Außerdem zeigen die Videos, dass es sich beim Geschehen am Rondenbarg um eine Demonstration handelt. Weder wurde in geschlossener Formation marschiert, auch sind erkennbar nicht alle Teilnehmenden vermummt oder schwarz gekleidet. Es sind Transparente und Fahnen zu sehen. Außerdem werden Parolen gerufen und über Megafon wird ein Redebeitrag gehalten. Alles Dinge, die bei einer politischen Demonstration üblich sind.
Das erste Opening Statement der Verteidigung hielt der Anwalt Sven Richwin. Er ging auf die berüchtigte Einsatzhundertschaft der Bundespolizeiabteilung aus Blumberg ein, die in dem Geschehen am 7. Juli 2017 eine zentrale Rolle spielte.
Vor Berliner Gerichten erlebe er immer wieder, sagte Richwin, dass Polizeibeamte in ziviler, vermeintlich „angepasster Bekleidung“ sich als sogenannte Tatbeobachter unter Versammlungsteilnehmer gemischt hätten. „Im vorliegenden Verfahren besteht nunmehr die Gefahr, dass verdeckte Polizeibeamte nicht nur an der Schaffung einer Einsatzgrundlage teilhaben, sondern durch ihr Agieren sogar eine Strafbarkeit für Personen begründen können, die selbst gar keine Straftaten begehen.“
Die WSWS hatte bereits 2018 gewarnt, dass mit den G20-Prozessen demokratische Grundrechte ausgehebelt werden sollen. Mit dem „Brokdorf“-Beschluss habe das Bundesverfassungsgericht 1985 im Prinzip anerkannt, „dass bei Demonstrationen Gewalttaten, die von Teilen ihrer Teilnehmer ausgehen, nicht genutzt werden dürfen, um die Demonstration insgesamt zu verbieten und alle ihre Teilnehmer zu kriminalisieren,“ schrieben wir. „Solche Grundsätze sollen heute gekippt werden, um jede Form sozialer und politischer Opposition zu unterdrücken und einen Polizeistaat aufzubauen.“
Die Verteidigerin Franziska Nedelmann wies im Prozess darauf hin, dass die Orgie von Gewalt und Repression gegen die G20-Proteste die Folge einer bewussten politischen Entscheidung der von Olaf Scholz geführten Hamburger Landesregierung war.
Mit der Benennung von Polizeidirektor Hartmut Dudde zum Polizeiführer der Einsätze rund um das Gipfeltreffen seien „die Weichen für harte und eskalierende Auseinandersetzungen gestellt“ worden, sagte Nedelmann. Dudde sei kein unbeschriebenes Blatt. Er habe seine Karriere unter dem Rechtspopulisten und früheren Innensenator Ronald Schill gemacht und „während seiner Zeit in der Gesamteinsatzleitung der Bereitschaftspolizei mehrfach Rechtsbrüche begangen: rechtswidrige Einkesselungen von Versammlungsteilnehmenden, Ingewahrsamnahmen, Auflösungen von Versammlungen.“ Gerichte hätten immer wieder festgestellt, dass die Hamburger Polizei unter seiner Leitung „gegen das Versammlungsrecht und die Grundrechte der Protestierenden verstoßen“ habe.
Olaf Scholz hatte jede Kritik an Polizeigewalt stets zurückgewiesen und stattdessen harte Strafen für die angeklagten Demonstrationsteilnehmer gefordert.
Die Vorsitzende Richterin machte angesichts der unverhältnismäßig langen Dauer des Verfahrens und mangelnder Beweise für die Behauptung der Staatsanwaltschaft, es habe sich bei den Protesten am Rondenbarg um einen gewalttätigen Aufmarsch und nicht um eine politische Demonstration gehandelt, früh deutlich, dass sie der Staatsanwaltschaft nicht folgen werde. Dennoch befürwortete sie lediglich eine Einstellung gegen eine Geldbuße und gegen eine „Distanzierung von Gewalt“ – nicht durch die Polizei, auf deren Konto sämtliche Verletzten gingen, sondern durch die Angeklagten, von denen kein einziger beschuldigt worden war, Gewalthandlungen begangen zu haben.
Zwei Angeklagte sahen sich nicht in der Lage, das auf 25 Prozesstage angesetzte Verfahren weiterzuführen und akzeptierten den Deal. Eine Weiterführung bedeutet, an vielen Prozesstagen teils über weite Strecken anreisen zu müssen, was für abhängig Beschäftigte, aber auch für Freiberufler finanziell problematisch sein kann. Für eine Angeklagte war bei jedweder Verurteilung eine Abschiebung zu befürchten. Zwei weitere Verfahren waren abgetrennt worden.
Zwei Angeklagte entschlossen sich, den Prozess weiterzuführen. Sie gaben eine gemeinsame Prozesserklärung ab, in der es heißt: „Wir sind uns der juristischen und politischen Bedeutung dieses Prozesses bewusst. Wir wissen, wie viele aktuelle und zukünftige Verfahren daran hängen und haben schon am ersten Prozesstag darauf hingewiesen, wie sehr die Versammlungsfreiheit durch dieses Verfahren bedroht ist. Jeder weitere Prozesstag wäre ein Tag zu viel: Allein die Möglichkeit ohne individuellen Tatvorwurf vor Gericht zu landen, kann schon heute abschrecken, überhaupt an Versammlungen teilzunehmen. Das Verfahren muss deshalb noch heute, und ohne Auflagen eingestellt werden.“
Selbst wenn es in dem Verfahren zu Freisprüchen für die beiden verbliebenen Angeklagten kommen sollte – was angesichts der eindeutigen Beweislage juristisch zwingend erscheint –, bleibt die Bedrohung der Versammlungsfreiheit bestehen. Das zeigt nicht nur das Agieren von Staatsanwaltschaft und Gericht in diesem Verfahren.
Im November letzten Jahres brachte die oppositionelle CDU/CSU-Fraktion im Bundestag Gesetzentwürfe ein, die neben einer Kriminalisierung der „Leugnung des Existenzrechts Israels“ und der „Sympathiewerbung“ für „Terrororganisationen“ auch den Landfriedensbruch-Paragrafen verschärfen. Bei Gewalttätigkeiten aus einer Menge heraus sollen auch „Sympathisanten und Neugierige“ verfolgt werden, denn ob sich jemand als „Täter oder Teilnehmer“ an Gewalt gegen Menschen oder Sachen beteilige, sei „häufig gar nicht feststellbar“. Der Gesetzentwurf ist an die Bundestagsausschüsse überwiesen worden.