Neuer G20-Prozess: Jugendliche wegen „Mitmarschierens“ angeklagt

Der jüngste G20-Prozess, der am 3. Dezember vor dem Landgericht Hamburg begann, zielt darauf ab, das grundgesetzlich garantierte Demonstrationsrecht abzuschaffen. Vor Gericht stehen fünf Jugendliche, deren einziges „Verbrechen“ darin besteht, an einer Demonstration gegen den G20-Gipfel teilgenommen zu haben.

Von den tagesaktuellen Medien wird der Prozess kaum beachtet. Da die fünf Angeklagten vor dreieinhalb Jahren noch 16 und 17 Jahre alt waren, wird das Verfahren als Jugendstrafprozess, also unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Vor jeder Teilnahme an Solidaritätskundgebungen wird ausdrücklich gewarnt und abgeschreckt. „Wer an dieser Versammlung teilnimmt, macht sich mit gewaltorientierten Linksextremisten gemein“, warnte der Verfassungsschutz im Vorfeld einer Demonstration am 5. Dezember, an der sich weit über 2000 Menschen beteiligten. Aber die großen Medien berichten wenig, und wenn, kopieren sie oft die offizielle Gerichtsversion.

Diese enthält eine drastische Aufzählung schwerster Straftatbestände. Den fünf Jugendlichen, die zurzeit vor der Großen Jugendstrafkammer 27 stehen, wird „schwerer Landfriedensbruch in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte im besonders schweren Fall sowie mit versuchter gefährlicher Körperverletzung, Bildung bewaffneter Gruppen und Sachbeschädigung“ zur Last gelegt. Allerdings wird dies keinem der fünf Angeklagten persönlich vorgeworfen. Wie die Hamburger Justiz in einer Pressemitteilung schreibt, werden ihnen „keine eigenhändigen Gewalthandlungen“ zugeordnet. Die Staatsanwaltschaft betrachtet sie vielmehr als „Mittäter“ innerhalb einer 150- bis 200-köpfigen Gruppe, aus der heraus Straftaten begangen worden seien. Diese hätten sie „durch das Mitmarschieren in geschlossener Formation“ unterstützt.

Wie schon beim vorangegangenen Elbchaussee-Prozess versuchen die Behörden, drastische Urteile für die bloße Teilnahme an den G20-Protesten zu erwirken und dadurch einen gefährlichen Präzedenzfall zu schaffen, mit dem in Zukunft alle Teilnehmer von Demonstrationen, die sich gegen Staat und Kapital richten und bei denen es – aus welchen Gründen auch immer – zu Gewalt kommt, kriminalisiert werden können.

Dem gleichen Ziel dient auch ein aktueller Vorschlag, den Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) auf der jüngsten Innenministerkonferenz machte: Er fordert eine Verschärfung des berüchtigten Landfriedensbruchparagraphen, so dass jeder, der während einer Demonstration in der Nähe von vermeintlichen „Gewalttätern“ steht, ebenfalls als Straftäter beschuldigt werden kann. Er sei dafür, so Reul, „den Landfriedensbruchparagrafen neu zu fassen mit dem Ziel, dass die Polizei auch gegen jene Demonstranten vorgehen kann, die Gewalttäter allein durch ihre physische Präsenz schützen“.

Der Prozess in Hamburg zeigt, in welch gefährliche Richtung der Staat damit geht. Die Verteidiger der fünf Angeklagten haben in einer gemeinsamen Erklärung festgestellt, dass keinem ihrer Mandanten auch nur der Wurf eines Gegenstands in Richtung Polizei oder irgendwelche Sachbeschädigung am Rande der Demonstration zur Last gelegt werden. Alle Verteidiger haben die Einstellung des Verfahrens beantragt.

Die fünf Angeklagten aus Halle, Stuttgart, Mannheim und dem Bonner Raum waren im Juli 2017 mit einer Gruppe von Jugendlichen am frühen Freitagmorgen aus dem Volkspark-Camp in Richtung Innenstadt aufgebrochen, um dort einem flächendeckenden Protestverbot zu trotzen. In Altona wurde die Gruppe von der Polizei auf die Nebenstraße Rondenbarg abgedrängt und dort von zwei Hundertschaften eingekesselt. Von hinten schlossen zwei Wasserwerfer auf, und nach vorne wurde der Weg durch eine Polizei-Kampfeinheit abgeschnitten.

In dieser Situation flogen aus dem Demonstrationszug mehrere Bengalos in Richtung Polizei. Diese reagierte in Sekundenschnelle und brutal: Eine ganze Hundertschaft stürmte ohne Vorwarnung auf die Gruppe zu. Ein Polizeivideo, das der NDR veröffentlichte, dokumentiert die Prügelorgie, auch die Sätze des Filmenden am Schluss: „Die haben sie aber schön platt gemacht, alter Schwede.“ Mehrere Flüchtende wurden über ein morsches Geländer gedrängt, wo sie über zwei Meter in die Tiefe stürzten. Andere wurden blutig geprügelt. Die Bilanz waren 14 Verletzte, teilweise mit schweren Knochenbrüchen, sowie Dutzende Festnahmen.

Kein Polizist wurde verletzt, kein Polizeiwagen beschädigt. Kein Beamter wurde für den Prügeleinsatz zur Rechenschaft gezogen. Dagegen präsentierte die Polizei der Presse beschlagnahmte Steine und Feuerwerkskörper, die bis heute als einzige Grundlage für die martialischen Anklagen und drastischen Urteile herhalten müssen.

Das Gericht beruft sich bei allen Anklagen auf eine frühere Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH), die das „ostentative Mitmarschieren“ in einer gewaltbereiten Gruppe als für eine Verurteilung ausreichend gewertet hatte. Es ist eine abenteuerliche und absurde Begründung, denn bei dem Urteil aus dem Mai 2017 handelte es sich um einen gezielten Überfall von Fußball-Hooligans auf gegnerische Fans, aber nicht um eine „politische Demonstration“, wie die BGH-Richter damals ausdrücklich betont hatten.

In Hamburg dagegen war an jenem Wochenende Mitte Juli 2017 alles politisch. Die fünf Jugendlichen, die jetzt vor Gericht stehen, kamen nach Hamburg, um ein Zeichen gegen den G20-Gipfel zu setzen, an dem neben Angela Merkel, Emmanuel Macron und Wladimir Putin erstmals auch Donald Trump teilnahm. Gegen die kapitalistische Macht- und Kriegspolitik der Staatsführer gingen damals rund 75.000 Menschen in Hamburg auf die Straße.

Die Bundesregierung hatte den G20-Gipfel bewusst ins Zentrum der Hansestadt geholt. In Kooperation mit dem Hamburger Senat wurde die Großstadt durch ein gigantisches Polizeimanöver abgeriegelt. Das globale Gipfeltreffen wurde provokativ in die Nachbarschaft des Schanzenviertels und des autonomen Zentrums „Rote Flora“ geholt. Mehr als 30.000 Beamte wurden eingesetzt und mit Wasserwerfern, Panzerwagen und martialisch ausgerüsteten Sondereinheiten verstärkt. Auf Deeskalationsstrategien wurde bewusst verzichtet, die Polizei hatte bei der Unterdrückung der Proteste freie Hand, und die Medien produzierten ein Trommelfeuer maßlos aufgebauschter Berichte über die angebliche „linksextreme Gewalt“.

Schon kurz nach dem Gipfel wischte Olaf Scholz (SDP), damals Erster Bürgermeister von Hamburg, heute Vizekanzler und Bundesfinanzminister, alle Hinweise auf Polizeigewalt vom Tisch und feierte die Polizisten als „Helden“, während er den Festgenommenen „harte Strafen“ androhte. Außenminister Heiko Maas (SDP), damals noch Justizminister, forderte ein entschlossenes Vorgehen gegen „Links“ und schlug sogar ein „Rock gegen Links“-Konzert vor. Horst Seehofers Vorgänger, der damalige Innenminister Thomas de Maizière (CDU), nahm den G20-Gipfel zum Anlass, die linke Internetplattform linksunten.indymedia zu verbieten.

Staatsanwaltschaft und Polizeibehörden stellten kurz nach dem Gipfel in einer gemeinsamen Aktion mit der Bild-Zeitung Fotos und Videos von hunderten Demonstrationsteilnehmern ins Netz und riefen dazu auf, die Abgebildeten zu denunzieren – auch dies ein Novum und rechtswidriges Verfahren, das es in dieser Form bisher in der BRD nie gegeben hatte.

Die wirklichen Verantwortlichen für Zerstörung und Gewalt bleiben bis heute im Dunkeln. Dabei sind die verstörenden Gewaltszenen, die von der Polizei ausgingen, durch zahlreiche Videos, Fotos und Augenzeugenberichte zweifelsfrei dokumentiert. Ungeklärt bleibt auch die Zusammenarbeit der Behörden mit V-Leuten und staatlichen Agents Provocateurs, die für die nötigen Pressebilder von abgefackelten Autos und zerstörten Läden sorgten.

Allein wegen des sogenannten „Rondenbarg-Komplexes“ wurden 85 Personen angeklagt. Die jungen Menschen, die jetzt in Hamburg vor Gericht stehen, sind nur die ersten und jüngsten von insgesamt 73 Angeklagten in einem neuen Mammutprozess. Seit nunmehr dreieinhalb Jahren werden immer neue Jugendliche angeklagt und wegen Garnichts oder Geringfügigkeiten dafür bestraft, dass sie gegen den G20-Gipfel protestiert haben.

Auch ausländische Jugendliche wurden monate- und jahrelang inhaftiert. So wurde Loïc Schneider (24), Jurastudent aus Nancy, 16 Monate lang in Untersuchungshaft festgehalten. Weil er zugab, zwei Flaschen und zwei Steine in Richtung Polizei geworfen zu haben, wurde er im Juli 2020 zu drei Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt. Sein Anwalt hat Berufung eingelegt.

Der 18-jährige Fabio V. aus Italien saß vier Monate und 20 Tage lang in Untersuchungshaft. Bei der Festnahme hatte er weder Steine noch Böller bei sich, und auch auf den Videos, auf denen er klar erkennbar ist, verhält er sich vollkommen friedlich. Dennoch wurde auch er des „schweren Landfriedensbruchs“ angeklagt, und auch ihm wurde vorgeworfen, er habe „die bürgerkriegsähnlichen Zustände mit verursacht“. Seine Hamburger Anwältin Gabriele Heinecke legte Verfassungsbeschwerde ein und geriet selbst unter Druck. Erst im Januar 2018 wurde der Haftbefehl gegen Fabio V. ohne Angabe von Gründen aufgehoben.

Bis heute dienen die Auseinandersetzungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg als Vorwand für staatliche Aufrüstung, die Demontage demokratischer Grundrechte und eine hysterische Kampagne gegen „Linksextremismus“. Dies zielt darauf ab, unter den Bedingungen scharfer sozialer Konflikte jede linke Politik zu kriminalisieren. Auch die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) wird im Verfassungsschutzbericht als „linksextremistisch“ denunziert und als Beobachtungsobjekt geführt. Dies wird ausdrücklich nicht mit Gewaltbereitschaft oder gesetzeswidrigen Taten begründet, sondern damit, dass die SGP „für eine demokratische, egalitäre, sozialistische Gesellschaft“ streitet.

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