Am Mittwoch vereidigte der polnische Präsident Andrzej Duda den Vorsitzenden der rechtsliberalen Bürgerplattform (PO) Donald Tusk als neuen polnischen Regierungschef. Damit gingen acht Jahre zu Ende, in denen die ultranationalistische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jarosław Kaczyński das Land regierte.
Tusk führt eine Koalition von rund einem Dutzend Parteien, die sich auf vier Fraktionen im Sejm aufteilen und über eine Mehrheit von 18 Abgeordneten verfügen. Die Koalition umfasst mit Ausnahme der PiS und der faschistischen Konfederacja das gesamte politische Spektrum des Landes – von konservativen über wirtschaftsliberale bis zu grünen und sozialdemokratischen Parteien.
Sie hatten bereits vor der Wahl ihre Absicht erklärt, gemeinsam die PiS abzulösen, und verdankten ihren Wahlsieg am 15. Oktober der aufgestauten Wut über deren Angriffe auf demokratische Rechte.
Die PiS-Regierung hatte das Recht auf Abtreibung abgeschafft, die Justiz und die Medien gleichgeschaltet und Universitäten, Schulen und Museen ihre ultranationalistische Ideologie aufgezwungen. Im Juni und im Oktober gingen allein in Warschau jeweils eine halbe Millionen Menschen gegen diese reaktionäre Politik auf die Straße, und die Beteiligung an der Parlamentswahl war die höchste seit dem Ende des stalinistischen Regimes.
In einer einstündigen Erklärung, die er am Dienstag vor seiner Wahl zum Regierungschef im Sejm abgab, bemühte sich Tusk, an die mit der Parlamentswahl verbundenen Hoffnungen anzuknüpfen. „Wenn es um die Freiheit des Einzelnen und die Menschenrechte geht, geben Polen und Polinnen nie auf,“ erklärt er. „Rechtsstaatlichkeit, die Verfassung, die Regeln der Demokratie“ seien „Dinge, über die wir uns nicht streiten dürfen“.
Auch internationale Medien bemühten sich, Tusks Rückkehr an die Macht – er war bereits von 2007 bis 2014 polnischer Regierungschef – als Triumph von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie darzustellen.
So schrieb Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung: „Die Demokratie hat den Angriff überstanden, sie hat die PiS mit den verbliebenen rechtsstaatlichen Regeln entmachtet, sie hat deren Angriffe auf die Justiz und durch weitreichende Kontrolle der Medien vor allem über die Köpfe der Menschen abgewehrt.“ Es zeige sich, „dass all die schmerzhaften Verletzungen am staatlichen System geheilt werden können, dass ein Wahltag ausreicht, um acht Jahre Zerstörungswerk zu beenden“.
Was für ein Unsinn! Die Politik Tusks und seiner Regierung wird nicht durch blumige Worte über Demokratie bestimmt, sondern durch den Ukrainekrieg, die kapitalistische Krise und die damit verbundene Zuspitzung des Klassenkampfs.
Tusk, der von 2014 bis 2019 Ratspräsident der Europäischen Union war, zählt zu den erprobtesten Vertretern der polnischen und europäischen Bourgeoisie. Er leitete den Europäischen Rat, das wichtigste Beschlussorgan der EU, als dieser Griechenland ein brutales Sparprogramm nach dem andern aufzwang. Im Gegensatz zu Kaczyński, der aus innenpolitischen Gründen Stimmungen gegen die EU und Deutschland schürte, bekennt sich Tusk uneingeschränkt zu Brüssel und Berlin und deren Politik des Militarismus und des Sozialabbaus. Diese Politik lässt sich in keinem Land mit demokratischen Rechten vereinbaren.
Im Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland zählt Tusk zu den übelsten Scharfmachern. In seiner Regierungserklärung versprach er, dass Polen die Ukraine im Krieg gegen Russland noch stärker unterstützen werde. „Wir werden laut und entschieden die volle Mobilisierung der freien westlichen Welt für die Unterstützung der Ukraine in diesem Krieg verlangen“, sagte er. Polen werde ein starker Teil der Nato und ein starker Verbündeter Amerikas sein.
Zu seinem Außenminister hat Tusk Radosław Sikorski ernannt, der dieses Amt schon in seiner früheren Regierung ausübte. Sikorski hat 2014 gemeinsam mit dem damaligen deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier den rechten Putsch in Kiew organisiert, der schließlich den jetzigen Krieg provozierte. Sikorskis Ehefrau, die amerikanische Journalistin und Historikerin Anne Applebaum, gehört zu den bekanntesten und übelsten Kriegshetzern.
Auch die PiS-Regierung hatte die Ukraine im Krieg gegen Russland uneingeschränkt unterstützt und begonnen, die polnischen Streitkräfte zur größten Armee Europas aufzubauen. Jarosław Kaczyński hatte einen pathologischen Russlandhass entwickelt, nachdem sein Zwillingsbruder Lech, der damalige polnische Präsident, 2010 in Smolensk bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Trotzdem führte der engstirnige Nationalismus der PiS zu Spannungen mit den ukrainischen Nationalisten, die historisch tief mit den polnischen verfeindet sind und gegenseitige Gebietsansprüche erheben.
Hinzu kommen ökonomische Konflikte. Polen sperrte die Grenzen für ukrainische Getreideimporte, um zu verhindern, dass die niedrigen Preise polnische Produzenten ruinieren. Polnische Lastwagen blockieren seit Wochen die Grenze zur Ukraine, weil ukrainische Spediteure, die aufgrund einer seit 2022 geltenden EU-Ausnahmeregelung innerhalb der EU tätig sein dürfen, die Sklavenlöhne der polnischen Spediteure unterbieten.
Die PiS-Regierung reagiert auch mit Misstrauen auf den wachsenden Einfluss Deutschlands in Kiew. Deutschland hat Polen und Großbritannien als wichtigster Waffenlieferant nach den USA abgelöst und zählt zu den wichtigsten Finanziers des Selenskyj-Regimes. Der wachsende Einfluss Deutschlands in Kiew hat das Intermarium- oder „Three Seas“-Projekt durchkreuzt, das Osteuropa unter polnischer Führung als ökonomisches Gegengewicht zu Deutschland entwickeln sollte. Entsprechende Infrastrukturprojekte sind ins Stocken geraten oder wurden nicht fertig gestellt.
Unter Tusk wollen nun Berlin und Warschau wieder eng zusammenarbeiten. Doch das macht die militärische Unterstützung der Ukraine nicht weniger kostspielig. Und diese Kosten muss letztlich die arbeitende Bevölkerung tragen.
Hinzu kommt eine schwere Wirtschaftskrise mit verheerenden Folgen für die polnische Arbeiterklasse. Die PiS hatte nicht zuletzt Einfluss gewonnen, weil sie nach der neoliberalen Politik der ersten Ära Tusk ein, gemessen an den niedrigen Löhnen, relativ hohes Kindergeld eingeführt und die Renten und den Mindestlohn erhöht hatte. Inzwischen hat die Inflation das alles wieder aufgefressen.
Mit sieben Prozent liegt die Inflationsrate weit über dem europäischen Durchschnitt, vor einem Jahr hatte sie sogar 18 Prozent betragen. Die Reallöhne sind deshalb allein im Jahr 2022 um sieben Prozent gesunken. Die Wirtschaft rutschte zeitweilig in die Rezession und die Inlandsnachfrage brach um bis zu fünf Prozent ein, was viele kleinere Unternehmen in den Bankrott treibt.
Tusk, der in sozialen Fragen weit rechts von der PiS steht, wird versuchen, diese Krise auf Kosten der Arbeiterklasse zu lösen – was sich nicht mit Demokratie vereinbaren lässt.
Es ist bezeichnend, dass Tusk bereits im Wahlkampf versucht hatte, die PiS in der Flüchtlingspolitik, die überall als Speerspitze für den Angriff auf demokratische Rechte dient, rechts zu überholen. In seiner Regierungserklärung nannte er „Demokratie“ und „sichere Grenzen und ein sicheres Landesgebiet“ in einem Atemzug und versprach, Polen werde in der EU eine Führungsrolle übernehmen und „Partner beim Grenzschutz werden“.
Wie weit Polen inzwischen nach rechts gerückt ist, zeigte ein antisemitisches Fanal, das der Konfederacja-Abgeordnete Grzegorz Braun unmittelbar vor Tusks Regierungserklärung in einem Vorraum des Sejm inszenierte. Er packte einen Feuerlöscher aus und löschte damit die Kerzen eines Siebenarmigen Leuchters, der dort alljährlich anlässlich des jüdischen Chanukka-Fests entzündet wird.
Obwohl Braun auch eine Frau verletzte, die sich ihm in den Weg stellte, konnte er ungehindert im Plenarsaal Platz nehmen und dort das Judentum als „satanistischen Kult“ beschimpfen. Erst danach wurde er des Parlaments verwiesen. Auch wenn sich PO und PiS distanzierten, hat ihre rechte Politik erst die Voraussetzungen für das Auftreten solch faschistischer Elemente geschaffen.
Tusk hatte der PiS in seiner ersten Regierungszeit mit seiner neoliberalen Wirtschaftspolitik den Weg an die Macht gebahnt. Seine Rückkehr an die Regierung leitet keine Ära der Demokratie, sondern eine Periode erbitterter Klassenauseinandersetzungen ein.
Die polnische Arbeiterklasse hatte in den 1980er Jahren, als sich zehn Millionen in der Gewerkschaft Solidarność organisierten, bewiesen, zu welch gewaltigen Kämpfen und Kraftanstrengungen sie fähig ist. Doch Solidarność wurde durch die vereinten Bemühungen der katholischen Kirche, der Stalinisten, ihrer eigenen Führer und pseudolinker Bürgerrechtler wie Jacek Kuroń in eine kapitalistische Sackgasse gelenkt.
Statt Arbeiterrechte kam Privateigentum. Die Großbetriebe, in denen die Arbeiter gekämpft hatten, wurden stillgelegt oder kleingeschrumpft. Aus der Führung der Gewerkschaft krochen rechte Parteien wie die PiS und die PO hervor. Es ist bezeichnend, dass Tusk in seiner Regierungserklärung Johannes Paul II., den erzreaktionären Papst aus Polen, zitiert und sich bei Solidarność-Führer Lech Wałęsa für dessen Verdienste um Polen bedankt hat.
Die polnischen Arbeiterinnen und Arbeiter müssen sich auf die unvermeidlichen Klassenauseinandersetzungen vorbereiten, indem sie die Lehre aus dem Verrat der Solidarność ziehen, mit ihrer nationalistischen, pro-kapitalistischen Perspektive brechen und sich dem internationalen, sozialistischen Programm der Vierten Internationale unter Führung des Internationalen Komitees zuwenden.