Die Feierlichkeiten anlässlich des 20. Jahrestages der Wende in Polen werden von heftigen sozialen Spannungen überschattet. Eigentlich sollten sie an dem "Denkmal der gefallenen Werftarbeiter" in Danzig stattfinden, das an die Streiks von 1970 erinnert und dessen Bau eine Forderung der Massenproteste von 1980 war. Doch nun hat Premierminister Donald Tusk von der wirtschaftsliberalen Bürgerplattform (PO) angekündigt, dass die Feier nach Krakow verlegt wird. Damit soll vermieden werden, dass es zu Auseinandersetzungen mit demonstrierenden Werftarbeitern kommt, die die letzten verbliebenen Arbeitsplätze im Danziger Schiffsbau verteidigen.
Der Streit um die Zwanzig-Jahres-Feiern ist charakteristisch für die ungelösten politischen Probleme Polens. Vor zwanzig Jahren, am 4. Juni 1989 hatten die ersten halbfreien Wahlen in Polen das Ende der stalinistischen Regime in ganz Osteuropa und der UdSSR eingeläutet. Die Wahlen waren eine späte Folge der Massenstreiks, die 1980-81 ausgehend von der Danziger Leninwerft das Land erschüttert hatten. Die Arbeiter hatten damals eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage sowie Pressefreiheit, Zugang zu den Massenmedien und Offenlegung aller Informationen zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation gefordert. Die Streikwelle wurde schließlich durch die Verhängung des Kriegsrechts unterdrückt.
Zwanzig Jahre nach der Wende steht offen, was nun eigentlich gefeiert werden soll. Statt Demokratie bekamen die Arbeiter Kapitalismus - mit verheerenden sozialen Folgen, die sich immer weniger mit demokratischen Verhältnissen vereinbaren lassen. Auf dem Rücken der Danziger Werftarbeiter, die 1988 erneut gegen die Erhöhung der Brotpreise protestiert hatten, einigten sich die Führer der Gewerkschaft Solidarnosc mit den stalinistischen Bürokraten auf die Einführung der Marktwirtschaft. Seither streiten sich ehemalige Stalinisten und Solidarnosc-Führer in schnell wechselnden Regierungen um den größten Brocken am Privateigentum, während sich die sozialen Gegensätze immer mehr zuspitzen.
Mit der Schock-Therapie von 1989 wurden die sozialen Errungenschaften der Arbeiter zerschlagen, und durch die Hyper-Inflation sank auch das Lohnniveau ins Bodenlose. In den 90er Jahren wurden unter der Ägide der Europäischen Union große Teile der staatlichen Industrie privatisiert und umstrukturiert, was mit weiteren Massenentlassungen und Lohnkürzungen einher ging. Die Arbeitslosigkeit stieg zeitweise auf über 20 Prozent. Mittlerweile haben über zwei Millionen Polen ihr Heimatland verlassen, um im Ausland nach Arbeit zu suchen.
In Gdansk droht inzwischen die völlige Schließung des Schiffbaubetriebs. Bereits am 29. April dieses Jahres kam es deswegen zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Werftarbeitern, die in Warschau vor dem Kongress der europäischen Volksparteien auf die Probleme der Werft aufmerksam machen wollten. Die Polizei ging so brutal gegen die Arbeiter vor, dass dreißig von ihnen in örtlichen Krankenhäusern behandelt werden mussten.
Die EU- Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes hatte damals einen Plan zur Restrukturierung der Werft abgelehnt. Zur Debatte steht, ob die Besitzer der Werft die durch die polnische Regierung in den letzten Jahren gezahlten Fördergelder von 720 Millionen Zloty (etwa 165 Millionen Euro) zurückzahlen müssen. Dies würde unweigerlich in den Konkurs führen. Es besteht nun die Möglichkeit, der Kommissarin einen zweiten Vorschlag zu unterbreiten, wie die Werft gewinnorientiert, d.h. auf Kosten der Arbeiter, umstrukturiert werden kann. Wie schon so oft tritt die EU offen als Werkzeug der größten europäischen Konzerne auf, um die Rechte der Arbeiter auszuhebeln.
Die beiden staatlichen Werften in Gdynia und Szczecin mussten ihre Tore bereits schließen, weil die EU die Zurückzahlung der Förderungen erzwungen hatte. Nun hat die Holding "United International Trust" beide Unternehmen übernommen. Details über den Deal sind ebenso unklar wie die Frage, ob die Schiffsproduktion wieder aufgenommen wird oder lediglich die restlichen Maschinen verschleudert werden. Fest steht jedenfalls, dass von den 3.500 Arbeitern, die entlassen wurden, maximal 1.500 wieder eingestellt werden - und dann zu wesentlich schlechteren Konditionen.
Auch die Arbeitsbedingungen auf der Werft in Gdansk haben sich bereits in den letzten Jahren und Monaten massiv verschlechtert. Arbeiteten 1989 noch über 15.000 Arbeiter auf der Werft, sind es heute nur noch knapp 3.000. Alle übrigen sind der Privatisierung und Umstrukturierung zum Opfer gefallen.
"Der Arbeitsdruck hat massiv zugenommen", berichtet Lukasz Wyczynski (Foto), der seit acht Jahren auf der Werft in Gdansk arbeitet. "Vor allem seit der Betrieb vor einem Jahr durch einen neuen Investor übernommen wurde, gibt es für jede Tätigkeit Zeitvorgaben, die nicht zu erfüllen sind." So liege jeder Arbeiter bei nur etwa 60 bis 70 Prozent seiner Soll-Norm.
Der Netto-Lohn sei im letzten Jahr von 3.500 bis 4.000 Zloty (etwa 800 bis 900 Euro) auf 1.700 bis 2.000 Zloty (etwa 390 bis 450 Euro) monatlich gesunken. 2002/2003 habe es schon einmal Kürzungen gegeben. Da seien Löhne verspätet und nur teilweise ausgezahlt worden. "Aber damals hatten wir auch keine Aufträge", berichtet Wyczynski. "Im Moment bauen wir drei Schiffe, und trotzdem sind die Löhne und Arbeitsbedingungen mies."
Lukasz Wyczynski hat deshalb beschlossen, mit zwei Kollegen nach Norwegen zu gehen und sich dort auf Werften nach Arbeit umzusehen. Er sieht keine Möglichkeit, die Situation in Polen zu verbessern. "Die beiden Gewerkschaftsverbände Solidarnosc und OPZZ führen nicht die geringsten Kämpfe. Sie nehmen die Beschwerden der Arbeiter tatenlos zur Kenntnis und verweisen darauf, dass es den anderen Abteilungen auch schlecht geht." Die Regierung werde seiner Meinung nach die Werft eher ruinieren als retten.
Auch wenn die Werft nicht geschlossen werden sollte, sind weitere Massenentlassungen und Lohnkürzungen vorprogrammiert. Der Regionalvorsitzende der Solidarnosc, Bogdan Olszewski, bestätigte gegenüber der WSWS, das die Gewerkschaft bereits ein weiteres Angebot zu Lohnkürzung bei gleichzeitiger Arbeitszeitverkürzung vorgelegt habe.
Die Stimmung ist insgesamt extrem gespannt. Kaum jemand in Gdansk versteht, warum in Europa Milliarden von Euro zur Rettung der großen Banken und Konzerne da sind, während die polnischen Werften in den Ruin getrieben werden.
Dass die polnischen Werften über die letzten zwanzig Jahre ohne nennenswerten Protest abgewickelt werden konnten und die EU ihnen jetzt den Todesstoß versetzen kann, geht direkt auf die Rolle von Solidarnosc und der anderen Gewerkschaften zurück. Sie haben dem schrittweisen Kapazitätsabbau, den Massenentlassungen und dem Lohnverzicht immer wieder zugestimmt und die Proteste der Arbeiter isoliert. Sie verteidigen uneingeschränkt den Kapitalismus, zu dem es nach ihrer Auffassung keine Alternative gibt.
"Viele Arbeiter wünschen sich die soziale Sicherheit des real existierenden Sozialismus zurück", sagt Olszewski. "Die Aufgabe von Solidarnosc besteht darin zu vermitteln, dass man die Dinge heute selbst machen muss." In Gdansk kämpfe die Gewerkschaft nicht für höhere Löhne oder gar Verstaatlichung, sie wolle nur die derzeitige Beschäftigung sichern. Das bedeutet den weiteren Abbau von Löhnen und Arbeitsbedingungen. Wie die bisherige Entwicklung zeigt, schließt das Massenentlassungen nicht aus, sondern geht mit ihnen einher.
Eine internationale Solidarität zwischen den europäischen Werftarbeitern lehnt Solidarnosc-Funktionär Olszewski ab. Stattdessen schlägt er sich auf die Seite des eigenen Managements und bezeichnet die deutschen und norwegischen Arbeiter als Konkurrenten: "Es gibt eine klare Konkurrenz zwischen den Werften, und wir wollen die Marktwirtschaft nicht abschaffen. Wer die bessern Schiffe baut, soll auch den Auftrag bekommen."
Für den 4. Juni hat Solidarnosc alle Proteste abgesagt und will stattdessen nur eine Gedenkmesse in der Kirche abhalten. Dass ihnen dabei noch eine nennenswerte Gruppe Arbeiter folgt, ist unwahrscheinlich. Solidarnosc hat durch ihre rechte Politik massiv an Einfluss verloren und organisiert nur noch etwa zwei Prozent der polnischen Arbeitnehmer.