Eisenbahner aus Frankfurt und Berlin: „Wir sollten richtig streiken und alles lahm legen“

Angespannt und wütend – so könnte man die Stimmung unter Eisenbahnern, Lokführern und Zugbegleitern beschreiben. Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) hat am 20. Mai, nach zwei eintägigen Warnstreiks, einen schon angekündigten 50-Stundenstreik in letzter Minute wieder abgesagt. Seit Montag, 12. Juni, verhandelt die Gewerkschaft mit dem Bahnkonzern erneut hinter verschlossenen Türen über das, was man nur als Reallohnsenkungen für rund 180.000 Bahnbeschäftigte bezeichnen kann. Der letzte Tarifvertrag endete schon am 28. Februar.

Was die zweite wichtige Eisenbahnergewerkschaft, die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL), betrifft, so hat auch sie einen neuen Tiefpunkt als Handlanger der Konzerne erreicht. Mit ihrer neugegründeten Genossenschaft Fair Train e.G. hat sie eine Leiharbeitsfirma gegründet, die Lokführer künftig an die Bahngesellschaften verleihen soll.

In den letzten Tagen haben WSWS-Reporter mit Bahnarbeitern und Lokführern über den Aufbau unabhängiger Aktionskomitees diskutiert. In Frankfurt und Berlin haben sie am Bahnhof und vor mehreren Bahnbetrieben im Gespräch mit den Eisenbahnern festgestellt, dass Arbeiter bereit sind, den Kampf gegen Reallohnsenkungen und Krieg aufzunehmen.

„Ich bin richtig wütend“, sagt ein Arbeiter vor dem ICE-Werk und Betriebsbahnhof Rummelsburg in Berlin. Er bezieht sich auf die Absage des Streiks durch die EVG-Führung und sagt: „Sie machen ein Katz- und Maus-Spiel mit uns und behaupten erst, sie streiken, und dann streiken sie doch nicht.“ Die Gewerkschaftsführer hätten selbst gar keine Ahnung, was die Inflation für Arbeiter bedeutet. „Das bekommen die überhaupt nicht mit, denn sie arbeiten ja nicht wie wir.“ – „Alle hier sind richtig angefressen“, ergänzt ein weiterer Rummelsburger Arbeiter. Er berichtet, dass im Unternehmen nichts mehr richtig funktioniere: „Wir haben zu wenig Leute, kein Material, und schaffen es gerade so, die Sicherheit im Betrieb aufrecht zu erhalten.“

Im Frankfurter Hauptbahnhof treffen wir auf eine Gruppe von vier Zugführern. Zwei von ihnen sind bei der EVG, einer bei der GDL und einer bei gar keiner Gewerkschaft organisiert; keiner ist zufrieden. „Die geforderten 12 Prozent, mindestens 650 Euro mehr im Monat, das ist das absolute Minimum, was wir brauchen“, sagt einer von ihnen. „Das erwarten wir einfach für die Arbeit, die wir hier leisten.“ Seine Kollegen berichten der WSWS, dass sie jeweils 50 Stunden am Stück in fünf Zehnstundenschichten hintereinander leisten müssen.

Von den aktuellen Tarifverhandlungen der EVG mit der Bahn erwarten die Zugführer wenig oder nichts. Einer sagt: „Wenn du mich fragst, dann sag ich dir, dass sich mit diesen Verhandlungen nichts Wesentliches ändern wird. Die EVG ist nicht bereit, dafür zu kämpfen. Und obwohl sie eine Laufzeit von zwölf Monaten gefordert hat, wird sie zwei Jahre oder auch 27 Monate unterschreiben.“

Lokführer Simon arbeitet seit 50 Jahren bei der Bahn und seit 22 Jahren als Lokführer. Er bestätigt die extrem unregelmäßigen und langen Schichten anhand seiner eigenen Dienstzeiten, die tatsächlich alle, an jedem einzelnen Tag, verschieden sind. Er berichtet, ein Hamburger Professor habe schon vor langer Zeit in einer Studie nachgewiesen, dass der extreme Wechsel Gift für den Körper sei. „Das belaste die Gesundheit stärker als eine geregelte Schichtarbeit im Wochenrhythmus, also eine Woche Früh, dann eine Woche Spät und die dritte Woche Nachtschicht – was ebenfalls gesundheitsschädlich ist.“ Außerdem werde die Arbeit am Feiertag nicht vernünftig honoriert, fährt Simon fort. „Bei uns ist die Sonn- und Feiertagszulage minimal, ein paar Euro, und das wird auch noch versteuert. Meiner Ansicht nach ist das etwas, das nicht die Ordnung ist.“

Vor kurzem hat die Öffentlichkeit erfahren, dass bei der Bahn 2.000 Arbeiter nicht einmal den Mindestlohn erhalten. Und das, obwohl der Bund nach wie vor der alleinige Eigentümer der Deutschen Bahn AG ist. Erst an diesem 20. Mai, als die EVG auf ihren 50-Stundenstreik verzichtete, versprach die Bahn im Gegenzug schriftlich, dass „vom ersten Tag des [neuen] Tarifabschlusses … keine Entgelttabelle weniger als den gesetzlichen Mindestlohn von 12 Euro“ pro Stunde beinhalten werde. Das heißt nichts anderes, als dass auch jetzt noch, bis zum Abschluss eines neuen Tarifvertrags, 2.000 Bahnarbeiter mit ihren Löhnen darunter liegen.

Mike, ein Arbeiter bei DB Regio, erklärt dazu: „Diejenigen, die bei uns die niedrigsten Arbeiten ausführen, die verdienen am wenigsten Geld. Es gibt zwar verschiedene Lohngruppen, aber im Grunde ist alles, was die Bahn zahlt, bloß Mindestlohn. Und das in einem Betrieb, der zu 100 Prozent dem Staat gehört! Das ist nicht richtig. Man ist den ganzen Tag unterwegs auf den Gleisen, und das Ganze ist auch nicht gerade ungefährlich.“

Mike bestätigt, dass die Stimmung unter den Kollegen sehr schlecht sei. „In erster Linie sind die Leute sauer wegen der Arbeitszeiten. Man wird Tag und Nacht eingesetzt und in ganz Deutschland rumgejagt. Und dann ist da natürlich der schlechte Verdienst.“ Das seien die Gründe, warum die Leute bei der Bahn so sauer sind. „Der Krieg hat die ganze Sache ja nicht besser gemacht“, setzt Mike hinzu. „Seither sind die Preise, vor allem die Lebensmittel, stark angestiegen. Deshalb verstehe ich einfach nicht, warum nicht vernünftig bezahlt werden kann.“

Nico, der für die DB-Instandhaltung in Frankfurt arbeitet, spricht sich ausdrücklich gegen die Kriegspolitik der Regierung aus. „Dieser Krieg kommt aus dem pervertierten Kapitalismus“, sagt Nico, „und ich gehe davon aus, dass das ein dritter Weltkrieg werden könnte.“ Nico erklärt, dass er kein Sozialist sei, aber er ist vollkommen gegen diesen Krieg. „Ich glaube, keiner will diesen Krieg. Dass wir ihn mit unserm Geld bezahlen sollen, das darf niemand zulassen“, sagt Nico. „Jeder braucht Essen und Unterhalt, und die treibende Inflation sorgt dafür, dass man weniger auf dem Teller hat. Natürlich muss irgendwann ein Lohnangleich folgen, das ist ja ganz klar. Aber das wird eben im Endeffekt nicht getan.“

In der Ukraine werde ein Stellvertreterkrieg geführt, fährt Nico fort, und: „Krieg ist ein Geschäft, das war schon immer so.“

Andere Bahnarbeiter sehen die große Gefahr, die der Ukrainekrieg darstellt, noch nicht so deutlich wie Nico. Simon, der Lokführer mit 50-jähriger Dienstzeit bei der Bahn, hat bisher darüber kaum nachgedacht. Als das Gespräch darauf kommt, sagt Simon: „Diese schönen Jahre, die wir als junge Menschen hatten, die werden unsere jungen Leute gar nicht mehr haben. Die Einschläge kommen, und sie kommen näher. Da werden sich viele von den Jungen noch umschauen.“

Ein weiteres wichtiges Thema bei den Diskussionen ist die Leiharbeit, da die GDL gerade ihre Leiharbeitsfirma gegründet hat. Chris, der in der Zentrale in Frankfurt arbeitet, sagt dazu, auch er habe bereits Erfahrungen mit Leiharbeit gemacht. „Es geht darum, wie man mit Leiharbeitern umgeht. Sie werden jedoch eingesetzt, um dauerhaft Lohndumping zu betreiben und die Kollegen gegeneinander auszuspielen.“

Auch von der EVG ist Chris alles andere als begeistert. Auf seine Fragen, die Tarifforderungen betreffend, hatten sie keine Antworten. „Forderungen haben sie wohl viele“, so Chris. „Die Frage ist nur, was dabei herauskommt. Und wenn das dann genau das ist, was der Arbeitgeber will, dann ist das für mich nicht glaubhaft. Wenn am Ende nur die Hälfte der Forderung, und dann für 24 Monate rauskommt, dann entspricht das nur 25 Prozent der ursprünglichen Forderung.“

Was ihn störe, das seien die „Lippenbekenntnisse“, die von den gewerkschaftlichen Betriebsräten kämen. „Den Betriebsräten geht es letztendlich um sich selber, dass sie unkündbar sind. Deshalb halten sie still.“ Der eigentliche Grund für die Kungelei sei „die Abhängigkeit vom Arbeitgeber“. Das habe ihn bei der EVG immer gestört.

Berüchtigt ist bei der Bahn das Beispiel des Gewerkschaftschefs Norbert Hansen, der vom Posten des Vorsitzenden des EVG-Vorläufers Transnet 2008 in den Vorstand der Deutschen Bahn AG überwechselte. Chris erwähnt den letzten EVG-Vorsitzenden Klaus Dieter Hommel, der nicht nur stellvertretender Aufsichtsratschef der Deutschen Bahn war, sondern vor drei Jahren, zu Beginn der Corona-Pandemie, zusammen mit dem Vorstand den Eisenbahnern Lohnverzicht und Arbeitsplatzabbau aufoktroyierte. Die Gewerkschaft stimmte damals zu, dass die Deutsche Bahn AG innerhalb von drei Jahren zwei Milliarden Euro an Personalkosten einsparte. „Hommel ist ein Mann des Vorstands“, sagte Chris, „und eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.“

Im Gespräch über den Aufbau von Aktionskomitees, um den Kampf in den Betrieben unabhängig von den Gewerkschaften und den Pseudolinken zu führen, sagt Chris, dass für ihn Die Linke eine große Enttäuschung sei. „Ich hielt lange Zeit viel von Sarah Wagenknecht. Aber momentan, spätestens seit Corona, geht sie mir richtig auf die Nerven.“ Auch Lafontaine habe sich teilweise sehr böse geäußert, wenn es um Einwanderer gehe. „Er hat die Schuld an der Billiglohnarbeit den Immigranten in die Schuhe geschoben. Aber schuld ist die Industrie selbst. Schuld ist die Tatsache, dass die soziale Infrastruktur vor die Wand gefahren wurde. Es gibt kaum noch bezahlbare Wohnungen; es gibt zu wenig Schulen, zu wenig Lehrer, weil man alles totgespart hat.“ Auf der andern Seite scheffelten Leute wie der Amazon-Besitzer Jeff Bezos oder Elon Musk Milliarden. „Sie wissen gar nicht mehr, wie sie ihr Geld verpulvern können. Der einfache Arbeiter verdient ja vielleicht nur ein Tausendstel von dem, was der oberste Chef verdient“. In diesem Zusammenhang gegen soziale Ungleichheit zu kämpfen, sei richtig: „Da bin ich bei euch“, so Chris.

Hakan, ein junger Arbeiter, der für eine Leiharbeitsfirma bei einer Bahnbaustelle arbeitet, sagt zum Thema Leiharbeit: „Das ist die Art und Weise, wie man Sklavenbedingungen herstellt. Leiharbeiter werden am schlechtesten von allen behandelt.“ Hakan ist begeistert, als er hört, dass Arbeiter sich international in unabhängigen Aktionskomitees zusammenschließen. Er hat die Entwicklung in Frankreich mitverfolgt. „In Frankreich hat man in den letzten Wochen regelrecht Krieg gegen die Arbeiter geführt und mit scharfer Munition auf Arbeiter geschossen“, sagt Hakan.

Zur Frage des Kriegs in der Ukraine gegen Russland und der daraus zwangsläufig folgenden Kriegswirtschaft erklärt Hakan, dass jeder Arbeiter den Krieg ablehnen müsse. „Wir dürfen nicht zulassen, dass man uns als Kanonenfutter missbraucht.“ Er hat die WSWS bisher nicht gekannt und will sich jetzt besonders ihre türkische Seite anschauen, da seine Familie aus der Türkei stammt. Hakan freut sich, dass es auch in der Türkei eine Sozialistische Gleichheitsgruppe gibt. Zu den WSWS-Berichten über internationale Streiks der Eisenbahner, beispielsweise in Frankreich und Großbritannien, sagt Hakan: „Dieser internationale Austausch von Arbeitern, der ist wirklich wichtig.“

Am Betriebsbahnhof Berlin-Rummelsburg bleibt bei unsern Reportern auch eine Arbeiterin stehen, die von den Streiks in Portugal berichtet. An ihnen sind, wie sie gehört hat, auch Bahnarbeiter beteiligt. Auch sie unterstützt unsern Kampf für die internationale Einheit der Arbeiterklasse. -- „Wir sollten alle streiken und den ganzen Betrieb lahmlegen“, sagt ein Rummelsburger Arbeiter. „Und hier im Betrieb denken alle so.“

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