Am Freitag verkündete der kanadische Arbeitsminister Steve MacKinnon, er werde das Canada Industrial Relations Board (CIRB) anweisen, den seit fast einem Monat andauernden Streik von 55.000 Postbeschäftigten zu beenden. Sie sollen unter Bedingungen ihrer abgelaufenen Tarifverträge zur Rückkehr an die Arbeit gezwungen werden, sofern das CIRB zu dem Ergebnis kommt, dass sich die Tarifverhandlungen zwischen der kanadischen Post und der Gewerkschaft Canadian Union of Postal Workers (CUPW) in „einer Sackgasse“ befinden.
Dieses Ergebnis gilt als sicher, denn vor mehr als einer Woche hatte sich ein staatlich eingesetzter Schlichter von den Tarifverhandlungen zurückgezogen. Er hatte erklärt, die beiden Seiten seien zu weit auseinander, um seine Unterstützung im Verhandlungsprozess zu rechtfertigen. Zudem hatte die Canada Post auf den jüngsten Vorschlag der CUPW mit der Behauptung reagiert, er würde zu Mehrkosten in Milliardenhöhe führen.
MacKinnons Vorgehen ist nicht nur ein Angriff auf die Postbeschäftigten, sondern auf die gesamte Arbeiterklasse. Damit hat die liberale Regierung den Arbeitern bereits zum dritten Mal seit August ihr angeblich von der Verfassung geschütztes Recht auf Streik genommen, ohne sich auch nur auf eine parlamentarische Abstimmung zu berufen.
MacKinnon erklärte am Freitagmorgen in Ottawa vor der Presse: „Nach monatelangen Schlichtungen und Vermittlungen mit Unterstützung des Federal Mediation and Conciliation Service [etwa: Bundesstelle für Mediation und Schlichtung], Arbeitsniederlegungen und der anschließenden Ernennung eines Schlichters, der die Verhandlungen über das neue Tarifabkommen unterstützen sollte, sind Canada Post und die Canadian Union of Postal Workers noch immer nicht in der Lage, eine Einigung zu erzielen.“
Entgegen der Behauptung des Arbeitsministers war die wiederholte Einmischung der Regierung nie dazu gedacht, eine Vereinbarung zu erzielen, die den Interessen der Arbeiter gerecht wird. Die liberale Regierung von Justin Trudeau, die Leitmedien und das kanadische Großkapital unterstützen allesamt die umfassende Umstrukturierung von Canada Post zu einem gewinnorientierten Unternehmen mit niedrigen Löhnen, das hinsichtlich der Brutalität gegenüber seinen Beschäftigten mit Amazon mithalten kann. MacKinnons provokative Ankündigung erfordert eine unabhängige politische Reaktion der streikenden Postbeschäftigten und der gesamten Arbeiterklasse, die in einem politischen Kampf mobilisiert werden muss. Die Versuche der herrschenden Klasse, Canada Post und sämtliche öffentliche Dienstleistungen zu zerstören, müssen gestoppt und das Streikrecht der Arbeiter, d. h. das Recht auf einen kollektiven Kampf für ihre Klasseninteressen, verteidigt werden.
MacKinnon skizzierte einen Plan, nach dem die Postbeschäftigten bereits am Montag unter den Bedingungen ihres seit langem abgelaufenen Tarifvertrags bis zum 22. Mai 2025 an die Arbeit zurückkehren sollen. Die Tarifverträge für den städtischen Postbetrieb (UPO) und die Postzusteller auf dem Land sowie den Vorstädten (RSMC) sind bereits im Januar 2024 bzw. im Dezember 2023 ausgelaufen, nachdem sie 2022 für zwei Jahre verlängert wurden. Das bedeutet, dass die Arbeiter weitere sechs Monate unter Bedingungen arbeiten müssen, die vor mehr als vier Jahren ausgehandelt wurden.
Zusätzlich zu den Vertragsverlängerungen soll eine Untersuchungskommission unter der Leitung des erfahrenen Schlichters William Kaplan eingesetzt werden. MacKinnon hat der Kommission den Auftrag erteilt, „die strukturellen Probleme zu untersuchen, die einer Lösung des derzeitigen Arbeitskampfs entgegenstehen“. Kaplan war unter anderem bei Air Canada, Canadian Pacific Railway und Westjet für die Durchsetzung von arbeitgeberfreundlichen Tarifverträgen durch Schlichtungsverfahren verantwortlich.
MacKinnon erklärte weiter: „Die Untersuchung wird sich auf ein breites Gebiet erstrecken und die gesamte Struktur von Canada Post durchleuchten, sowohl vom Standpunkt der Kunden als auch des Geschäftsmodells, und auch das schwierige unternehmerische Umfeld ins Auge fassen, in dem sich Canada Post jetzt befindet.“
Kaplans Kommission wird zweifellos die vom Management angestrebte „Amazonisierung“ von Canada Post befürworten, wozu auch der vermehrte Einsatz schlecht bezahlter Gelegenheitsarbeiter gehören wird. Während des Streiks haben Vertreter der kanadischen Wirtschaft offen über die Notwendigkeit diskutiert, bei Canada Post bis zu 20.000 Vollzeitstellen zu streichen, dessen Monopol bei der Postzustellung abzuschaffen und etwa 3.000 reine Postfilialen zu Gunsten eines Franchise-Modells zu verkaufen.
Das Streikverbot der liberalen Regierung basierte auf einer betrügerischen Neuinterpretation von Abschnitt 107 des kanadischen Arbeitsrechts, das dem Arbeitsminister die Befugnis einräumt, Streiks zu beenden und per Dekret bindende Schlichtungsverfahren anzuordnen. Während die Regierungen in der Vergangenheit bei der Unterdrückung von Streiks den juristischen Schein wahrten und im Parlament darüber abstimmen ließen, stützen sich die Liberalen unter Premierminister Justin Trudeau jetzt auf Abschnitt 107, um willkürlich weitreichende arbeiterfeindliche Befehle an das CIRB zu geben. Dieses dreiteilige Gremium besteht aus Vertretern von Regierung, Unternehmen und Gewerkschaftsbürokraten. Die Mitglieder des Gremiums wurden von niemandem gewählt, sondern vom Governor in Council ernannt, der seinerseits nach Weisung des Arbeitsministers agiert.
Der Arbeitsminister hat in den letzten vier Monaten bereits dreimal Abschnitt 107 angewandt, um Streiks in wichtigen Branchen zu beenden – zuerst bei den Eisenbahnern der CPKC und Canadian National, dann bei den Hafenarbeitern in British Columbia und Québec und jetzt bei Canada Post.
Die Bürokratie der Gewerkschaft CUPW reagierte auf MacKinnons Intervention mit völliger Selbstgefälligkeit. Obwohl seit Beginn des Streiks am 15. November die Möglichkeit einer staatlichen Intervention im Raum stand, hat sich die Gewerkschaft unermüdlich dafür eingesetzt, die Postbeschäftigten isoliert zu halten, und keinerlei Strategie zum Kampf gegen ein staatliches Streikverbot vorgeschlagen. Ebenso wenig hat sie versucht, den Streik auf andere Beschäftigte der Logistik auszuweiten, etwa auf den Kurierdienst Purolator, der zur Canada Post gehört.
Stattdessen appellierte das Verhandlungsteam der CUPW mehrfach an Canada Post, das Management möge „mit guter Absicht“ verhandeln. Nachdem die Verhandlungen in Folge des Rückzugs des Schlichters praktisch zusammengebrochen waren, forderte das Gewerkschaftsteam Canada Post auf, „an den Verhandlungstisch zurückzukommen“. In ihrem jüngsten Angebot ans Unternehmen schlug die CUPW eine deutliche Verschlechterung der Löhne, mehr Überstunden und schlechtere Arbeitsbedingungen vor.
Dadurch fühlte sich das Management von Canada Post nur weiter ermutigt. Es reagierte mit einer Verurteilung der Gewerkschaft, weil sie die Streitparteien „weiter auseinander“ treiben würde. Noch am Donnerstag, nur wenige Stunden vor MacKinnons Ankündigung, forderte der nationale Direktor der Zentralregion der CUPW, Peter Denley, streikende Beschäftigte per E-Mail auf, Appelle an ihre Parlamentsabgeordneten zu richten. Die Abgeordneten sollten Druck auf die Regierung auszuüben, damit diese in die Gespräche eingreift und den Streik beendet.
Als Reaktion auf MacKinnons Ankündigung vom Freitag erklärte die Präsidentin der CUPW, Jan Simpson, die Gewerkschaft werde „alle verfügbaren Optionen in Erwägung ziehen“, sobald eine Anordnung zur Rückkehr an die Arbeit vorliege. Die Arbeiter forderte sie lediglich dazu auf, „in den kommenden Tagen auf weitere Informationen zu warten“.
Im Gegensatz dazu haben die Beschäftigten der Canada Post im Aktionskomitee der Postarbeiter (Postal Workers Rank-and-File Committee, PWRFC) die Initiative ergriffen und kämpfen dafür, der Gewerkschaftsbürokratie die Kontrolle über die Verhandlungen zu entziehen und Unterstützung unter Arbeitern im gesamten Land und weltweit zu mobilisieren. Das Aktionskomitee veröffentlichte am Freitag eine Erklärung, in der es zum Widerstand gegen das Streikverbot der liberalen Regierung aufrief:
Die Bedingungen für uns sind günstig, erfolgreich Widerstand gegen den staatlichen Angriff auf unser Streikrecht zu leisten und eine breite Unterstützung in der Arbeiterklasse zu mobilisieren, bis hin zu einem Generalstreik. Das liegt daran, dass die Dinge, für die wir kämpfen, von größter Bedeutung für alle Arbeiter sind – sowohl im öffentlichen Dienst als auch in der Privatwirtschaft: die Verteidigung öffentlicher Dienstleistungen, Kontrolle der Arbeiter über die Einführung neuer Technologien, ein Ende der Zugeständnisse und der mehrstufigen Bezahlung und die Verteidigung des Streikrechts.
Wir rufen nicht leichtfertig zum Widerstand auf.
Er muss mit einem grundlegenden Strategiewechsel einhergehen. Wir müssen unseren Streik zur Speerspitze einer Gegenoffensive der Arbeiterklasse gegen die Zerstörung des öffentlichen Dienstes, die Unterordnung sozialer Bedürfnisse unter den Kriegskurs des kanadischen Imperialismus und für die Verteidigung des Streikrechts machen.
Eine Postbeschäftigte aus Ontario erklärte gegenüber der World Socialist Web Site:
Heute hat Stephen MacKinnon gesagt, das aktuelle Tarifabkommen, das seit einem Jahr abgelaufen ist, wird bis Mai 2025 verlängert. Ich finde das beleidigend. Wir haben nicht vier Wochen lang gestreikt, damit man uns beiseite drängt und zur Rückkehr an die Arbeit zwingt. Das ist undemokratisch und etwas, was ich absolut nicht hinnehmen werde.
Das Unternehmen hat sich immer wieder geweigert, für seine Beschäftigten zu sorgen. Sie belohnen dich mit [Kaffee]karten von Tim's und Catering von Subway, aber das große Ganze interessiert sie nicht. Wir haben seit mehr als sechs Jahren keine Lohnerhöhung bekommen.
Diese Entscheidung des Arbeitsministers ist übel und schafft einen wirklich gefährlichen Präzedenzfall.
Sie ging auch auf die weitreichenden sozialen Folgen einer Niederlage des Streiks für die arbeitende Bevölkerung ein:
Die Nachricht selbst ist nicht schockierend. Sie sagt mir, dass alles, was ich gesagt habe, stimmt: dass Canada Post täuscht, manipuliert und vollkommen unethische „Verhandlungspraktiken“ hat.
Wohneigentum wird aufgrund der Immobilienkrise immer seltener, Lebensmittel und andere notwendige Dinge werden für Millionen Menschen unbezahlbar. Behinderte und Verletzte müssen sparen und auf ihre Medikamente verzichten, weil die Vorstandschefs ihre Leistungen und Renten in Geiselhaft halten.
Ein anderer Arbeiter verwies darauf, wie die CUPW zuvor hinter dem Rücken der Mitglieder eine Verlängerung des Vertrags um zwei Jahre ausgehandelt hatte, und jetzt „nach einem Jahr Verhandlungen noch immer nichts vorzuweisen“ habe. Weiter sagte er: „Alles, was wir bekommen, ist also fünf Jahre im Rückstand... Wer behauptet, wir würden zu viel verlangen, sollte sich selbst hinterfragen.“
Der Streik bei Canada Post hat einen Wendepunkt erreicht, der für die gesamte Arbeiterklasse von entscheidender Bedeutung ist.
Was der Arbeitsminister als „kreative Lösung“ der anhaltenden Verhandlungen beschreibt, ist in Wirklichkeit Teil eines konzertierten Angriffs auf die Grundrechte der Arbeiter. Das Tarifverhandlungssystem, das als Ergebnis der Massenkämpfe der Arbeiter in den 1930ern und 1940ern etabliert wurde, wurde praktisch in die Luft gesprengt. Die Bundesregierung tritt die demokratischen Rechte der Arbeiter mit Füßen und maßt sich die Befugnis an, Arbeitskämpfe nach eigenem Ermessen zu kriminalisieren. Die kanadische Wirtschaft wurde dadurch ermutigt, unnachgiebig Zugeständnisse zu fordern, weil sie weiß, dass die Regierung im Falle eines langen Streiks, einer Aussperrung oder der Lähmung eines wichtigen Industriezweigs in ihrem Interesse intervenieren wird.
Dieser Angriff auf das Streikrecht wird von einer liberalen Minderheitsregierung geführt, die weiterhin von der gesamten Gewerkschaftsbürokratie unterstützt und durch die von den Gewerkschaften unterstützte New Democratic Party an der Macht gehalten wird. Der Angriff verdeutlicht, dass sich die gesamte herrschende Elite Kanadas wie auch ihre Pendants im Rest der Welt autoritären Herrschaftsformen zuwenden.
In den USA hat Trump seine Absicht erklärt, eine faschistische Diktatur zu errichten, um die nackte Vorherrschaft der Milliardäre über alle Aspekte des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens zu sichern. In Europa werden jahrzehntealte Errungenschaften zur Sicherung von Arbeitsplätzen und relativ gut bezahlte Arbeitsplätze von Regierungen wie derjenigen in Deutschland zerstört. Die deutsche Regierung setzt mehr und mehr die Politik der faschistischen AfD um, während sie für den Weltkrieg aufrüstet.
Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der immer drakonischeren Unterdrückung des Klassenkampfs und dem imperialistischen Krieg, da sich die herrschende Klasse ihre Eroberungs- und Plünderungskriege nur leisten kann, wenn sie die Arbeiterklasse im eigenen Land in die Armut stürzt und den öffentlichen Dienst zerschlägt. Der rechtsextreme Führer der kanadischen Konservativen, Pierre Poilievre, steht in den Startlöchern, um in Ottawa Trudeaus Posten zu übernehmen und diesen Kurs noch rücksichtsloser umzusetzen. Genau wie Trump konnte er betrügerische soziale Appelle machen, weil die Parteien, die von den Gewerkschaften als „progressiv“ dargestellt werden – die Demokraten in den USA, die Liberalen und die NDP in Kanada – für Sparmaßnahmen und Krieg eintreten und der wachsenden sozialen Notlage der arbeitenden Bevölkerung mit völliger Gleichgültigkeit gegenüberstehen.
Das Schicksal des Streiks bei Canada Post hängt ab von der unabhängigen Mobilisierung der gesamten Arbeiterklasse auf betrieblicher und politischer Ebene gegen das von der Regierung verhängte Streikverbot und für die Verteidigung öffentlicher Dienstleistungen. Die Sozialistische Gleichheitspartei (Socialist Equality Party) in Kanada erklärte dazu am 5. Dezember:
Die Verteidigung von Arbeitsplätzen, Arbeiterrechten und öffentlichen Dienstleistungen erfordert einen Frontalangriff auf den Würgegriff, mit dem die Finanzoligarchie die Gesellschaft im Griff hat. Notwendig ist ein Kampf um die Kontrolle über den enormen Reichtum und die Produktivkräfte der Gesellschaft. Die Arbeiterklasse muss sie sich aneignen, einschließlich der neuen Technologien wie KI, die das Potenzial haben, die Arbeitsproduktivität erheblich zu steigern. Damit muss sie die sozialen Bedürfnisse befriedigen – und nicht die Profitgier einer schmalen Schicht von Superreichen stillen.
Nur die wirtschaftliche und politische Mobilisierung der Arbeiterklasse kann eine solche revolutionäre Umwälzung bewirken. Sie wird der herrschenden Klasse die politische Macht entreißen und dies Gesellschaft nach sozialistischen Grundsätzen umgestalten.
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