In den landeseigenen Krankenhäusern der Hauptstadt beginnt heute ein unbefristeter Streik. Nach einem dreitägigen Warnstreik in der vergangenen Woche haben sich in einer Urabstimmung zwischen 98 und 99 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder in Europas größtem Universitätsklinikum Charité, den Vivantes-Kliniken und den Vivantes-Tochterunternehmen für Reinigung, Küchendienste, Transporte u.ä. für einen unbefristeten Streik ausgesprochen.
Der Streik verdient die Unterstützung und Solidarität der gesamten arbeitenden Bevölkerung, und das aus zwei Gründen: Er richtet sich gegen die Folgen jahrelanger Einsparungen und Personalkürzungen, die den Arbeitsstress und die Belastung ins Unerträgliche gesteigert haben. Und er wendet sich gegen die Zerstörung der Gesundheitsversorgung, die systematisch dem Profit unterworfen und kaputtgespart wird.
Verdi erwartet, dass sich bis zu 2000 Beschäftigte am Streik beteiligen werden. Es habe im Zuge der Warnstreiks der vergangenen Tage einen deutlichen Zuwachs von Streikwilligen gegeben, sagte die Verhandlungsführerin der Gewerkschaft, Meike Jäger. 1500 der insgesamt 9000 Betten der beiden Konzerne werden Schätzungen zufolge gesperrt.
Verdi verhandelt über einen sogenannten Entlastungstarifvertrag, der Pflegekräften für hohe Belastungen, wie sie durch die Unterbesetzung von Schichten entstehen, einen verbindlichen Ausgleich in Form von Zulagen oder Freizeit gewährt. Parallel dazu verlangt Verdi, dass die Gehälter der Beschäftigten der Tochterfirmen von Vivantes an den Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes (TVÖD) angeglichen werden. Aktuell erhalten die rund 2500 Beschäftigten der Tochterfirmen mehrere hundert Euro weniger als direkt beim Konzern Angestellte, die dieselbe Arbeit verrichten.
Die Ursachen für den Arbeitskampf liegen aber weit tiefer. Pflegerinnen und Pfleger leisten lebenswichtige Tätigkeiten zu unmenschlichen Arbeitsbedingungen und miserablen Löhnen. Die Corona-Pandemie hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Mittlerweile ist klar, dass der extreme Arbeitsstress und die niedrige Bezahlung zur Normalität werden sollen.
Beschäftigte der beiden landeseigenen Klinikkonzerne berichten darüber, wie sie alleine eine Schicht leisten müssen, die eigentlich zwei oder drei Kräfte erfordern würde, um eine gute und sichere Versorgung der Patienten zu gewährleisten. Selbst moderate Schätzungen gehen davon aus, dass an den landeseigenen Kliniken alleine etwa 1000 Pflegefachkräfte fehlen.
Ähnliche Erfahrungen machen unzählige Arbeiterinnen und Arbeiter in anderen Bereichen – die Lokführer und Zugbegleiter der Bahn, Paketzusteller und Rider von Lieferdiensten, und immer mehr auch Industriearbeiter in großen Betrieben. Ihre Gesundheit – und in der Corona-Pandemie auch ihr Leben – werden rücksichtslos dem Profit geopfert; niedrige Löhne und explodierende Mieten und Preise machen ein erträgliches Leben zunehmend schwierig.
SPD, Linkspartei und Grüne, die in der Hauptstadt gemeinsam regieren, werden daher zunehmend nervös. Am 26. September wird in Berlin neben dem Bundestag auch das Abgeordnetenhaus neu gewählt, und sie fürchten nichts so sehr, wie eine Explosion der angestauten Wut.
Deshalb versichern ihre Spitzenkandidaten den Streikenden ihre Solidarität – wie am 3. September auf einer Kundgebung gegen Vivantes –, während sie gleichzeitig für die unhaltbaren Zustände verantwortlich und entschlossen sind, sie nach der Wahl weiter zu verschärfen.
Die Verwandlung der Berliner Krankenhäuser in zwei große Konzerne, die in Staatsbesitz sind, aber nach dem Profitprinzip arbeiten, der ständige Abbau von Personal und die niedrigen Löhne, die viele Pflegerinnen und Pfleger aus dem Beruf treiben, fallen alle in die Verantwortung der SPD, die in Berlin seit 20 Jahren regiert, und ihrer Koalitionspartner von der Linkspartei und den Grünen. Die Abrechnung nach Fallpauschalen, die als Hebel für immer schärfere Sparmaßnahmen dient, wurde zu Beginn des Jahrhunderts von der rot-grünen Bundesregierung Gerhard Schröders eingeführt.
Am deutlichsten verkörpert Matthias Kollatz die bodenlose Heuchelei der Regierungsparteien. Der SPD-Politiker ist in Personalunion Finanzsenator und Aufsichtsratsvorsitzender von Vivantes.
Die Gewerkschaft Verdi spielt in dieser Auseinandersetzung ein übles Doppelspiel. Personell und politisch aufs Engste mit den drei Senatsparteien verflochten, versucht sie die Wut der Streikenden aufzufangen, während sie gleichzeitig alles unternimmt, um den Streik so schnell wie möglich abzuwürgen. Man kann sicher sein, dass hinter den Kulissen die kurzen Drähte zwischen Verdi, Senat und Management heiß laufen, um den Streik zu spalten und auszuverkaufen.
Verdi-Verhandlungsführerin Meike Jäger kündigte am Montag zwar großspurig an, man sei zu einem „Erzwingungsstreik“ bereit. Er sei unbefristet und werde so lange andauern, bis ein Ergebnis vorliege. Gleichzeitig versprach sie mit Blick auf Senat und Management, man werde trotz der Urabstimmung erneut mit den Vorständen der beiden Klinikkonzerne sprechen.
Anfangs rief Verdi nur die Pflegekräfte der Charité für Donnerstag zum Streik auf, während sie mit Vivantes noch am gestrigen Mittwoch – anscheinend erfolglos – weiterverhandelte. In einer Presseinformation betonte Meike Jäger am Mittwochnachmittag: „Wir sagen ganz deutlich: wir wollen auf dem Verhandlungsweg eine einvernehmliche Lösung erzielen und sind jederzeit gesprächsbereit. Das, was derzeit bei Charité und Vivantes auf dem Tisch liegt, sind Bewegungen in die richtige Richtung.“
Kurz vor Streikbeginn hatten die beiden Klinikkonzerne ein – in den Worten von Charité-Personalchefin Carla Eysel – „detailliertes und attraktives“ Angebot vorgelegt. Es handelt sich dabei nicht um den geforderten, einklagbaren Entlastungstarifvertrag, der die Pflegerinnen und Pfleger für Überstunden und hohe Belastung entschädigt, sondern um eine Art feste Dienstvereinbarung zu Lasten der Patienten. Danach sollen bei fehlenden Pflegekräften bestimmte Behandlungen verschoben werden. Trotzdem bezeichnete Verdi-Verhandler Ivo Garbe es als „großen Erfolg“, dass mit dem Arbeitgeber wieder verhandelt werde.
Der Fraktionsvorsitzende der SPD, Raed Saleh, hatte schon letzte Woche versprochen, die geforderte Anpassung der Löhne an den TVÖD bei den Vivantes-Töchtern werde nicht am Geld scheitern. Die SPD will Vivantes offenbar vor der Wahl entsprechende finanzielle Zusagen machen, an die der neue Senat dann nicht mehr gebunden ist.
Senat, Verdi und Medien werden auch versuchen, die Streikenden mit der wachsenden Zahl von Corona-Erkrankten unter Druck zu setzen, die die Intensivbetten rasch wieder füllen. Am Dienstag lag die Sieben-Tage-Inzidenz in Berlin bei 87,9, deutlich höher als am Vortag (82,5). 80 Covid-19-Patienten werden in Kliniken intensivmedizinisch behandelt. Eine Woche zuvor waren es noch 50 gewesen.
Verantwortlich für diesen Anstieg ist die verantwortungslose Politik des Senats, der trotz der eindringlichen Warnung von Wissenschaftlern auf eine ungehinderte Durchseuchung an den Schulen setzt. Auch dabei kann er auf die Unterstützung von Verdi zählen.
Die streikenden Klinikbeschäftigten dürfen diesem Druck nicht nachgeben. Ohne eine breite Offensive der Arbeiterklasse lässt sich die soziale Abwärtsspirale nicht aufhalten. Der Kampf gegen die unerträglichen Arbeitsbedingungen fällt zusammen mit dem Kampf für ein Gesundheitswesen, dass der Bevölkerung dient und ihrem Schutz und Wohlergehen verpflichtet ist, anstatt einer schmalen Schicht von Aktionären und Hedgefonds traumhafte Renditen zu bescheren.
Um diesen Kampf zu führen, müssen unabhängige Aktionskomitees aufgebaut werden, in denen die Beschäftigten selbst und nicht die Verdi-Funktionäre das Sagen haben. Verdi sabotiert seit Jahren jeden ernsthaften Widerstand. Beispielhaft ist die Charité-Servicegesellschaft CFM, wo sie seit 15 Jahren den Kampf gegen Niedriglöhne mit wirkungslosen Protestaktionen und leeren Versprechungen abblockt.
Die Aktionskomitees müssen sicherstellen, dass Verdi keinen Abschluss ohne Zustimmung der Streikenden unterschreibt. Sie müssen Verbindungen zu den Kollegen in anderen Kliniken und Betrieben aufnehmen, um – über Länder und nationale Grenzen hinweg – eine gemeinsame Offensive zu organisieren. Die Sozialistische Gleichheitspartei, die mit eigenen Listen zur Berlin- und zur Bundestagswahl antritt, und ihre internationalen Schwesterorganisationen, werden sie dabei unterstützen.