Der Warnstreik bei den beiden großen Berliner Klinikkonzernen Charité und Vivantes deckt mitten im Wahlkampf zum Bundestag und zum Berliner Abgeordnetenhaus die tiefe Kluft zwischen allen etablierten Parteien und der großen Mehrheit der Bevölkerung auf.
Weil die streikenden Pflegekräfte breite Unterstützung genießen, heucheln plötzlich alle Parteien Solidarität. Die Berliner Spitzenkandidaten von SPD, Linkspartei und Grünen traten am Montag gemeinsam auf einer Streikkundgebung vor der Vivantes-Zentrale in Reinickendorf auf. Auch Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) versicherte, sie unterstütze die Forderungen der Streikenden: „Für diese Ziele lohnt es sich einzusetzen.“
CDU-Frontmann Kai Wegener erklärte „einen besseren Personalschlüssel“ für unverzichtbar. Und selbst Sebastian Czaja von der FDP, der Partei der Reichen und des Profits, soll auf einer Verdi-Demonstration gesichtet worden sein.
Dabei haben dieselben Parteien durch Kürzungen, Privatisierungen und Auslagerungen in Niedriglohnfirmen für die unerträglichen Zustände gesorgt, gegen die die Pflegekräfte nun rebellieren. Sie haben die Kliniken kaputtgespart – eine Tatsache, die sich trotz der Bemühungen der Gewerkschaft Verdi schlecht vertuschen lässt.
Als Franziska Giffey von der SPD, die die Nachfolge Michael Müllers als regierende Bürgermeisterin Berlins antreten will, am Montag gemeinsam mit Klaus Lederer von der Linkspartei und Bettina Jarasch von den Grünen vor die Streikenden trat, wurde sie ausgebuht und – als sie sagte, die SPD sei die Partei der Arbeiter – ausgelacht.
Mitten in den Auftritt der drei Spitzendkandidaten platzte die Nachricht, dass das Arbeitsgericht Berlin den Streik bei Vivantes auf Antrag der Geschäftsleitung mit einer einstweiligen Verfügung untersagt habe. Bereits am Freitag hatte das Gericht den Streik bei den Tochterfirmen von Vivantes verboten.
Die Nachricht vom Streikverbot löste unter den Parteifunktionären Nervosität und hektische Betriebsamkeit aus. Verdi brach den Streik bei Vivantes sofort ab, und Giffey telefonierte mit ihrem Parteifreund Matthias Kollatz, der Finanzsenator und Aufsichtsratsvorsitzender von Vivantes ist. Vivantes befindet sich – wie die Charité – zu 100 Prozent in Landesbesitz.
Anschließend entschwebten Giffey, Lederer und Jarasch, begleitet von Verdi-Funktionären und CDU-Spitzenkandidat Wegner, in den neunten Stock der Vivantes-Zentrale, um die Lage mit Konzernchef Johannes Danckert zu beraten.
Dankert wandte sich darauf selbst an die Streikenden und versicherte ihnen, er stimme ihnen weitgehend zu: Man brauche mehr Pflegepersonal. Dem Tagesspiegel sagte er anschließend, dass sich das gar nicht verwirklichen lasse: „Das Problem fehlender Pflegekräfte und die unzureichende Ausstattung der Krankenhäuser werfen so grundsätzliche Fragen auf, dass wir sie kaum bei Vivantes allein lösen können, auch nicht nur in Berlin.“
Carla Eysel, Personalvorstand der Charité, hatte schon vor dem Streik beteuert, man brauche „mehr Pflegekräfte auf den Stationen“. Es sei geplant, „nächstes Jahr ungefähr hundert neue Pflegekräfte einzustellen“. In Wirklichkeit wären mindestens 500 nötig, um auch nur eine minimale Entlastung zu ermöglichen.
Am Dienstag hob das Arbeitsgericht dann das Streikverbot bei Vivantes nach einer mündlichen Verhandlung wieder auf. Hatte es am Montag das Verbot noch damit begründet, dass es keine Notdienstvereinbarung gebe – obwohl die Gewerkschaft eine solche angeboten und das Management sie abgelehnt hatte –, erklärte nun ein Sprecher des Gerichts: „Die Kammer nimmt jetzt an, dass die Gewerkschaft für eine ausreichende Notfallversorgung Sorge tragen wird.“
Auch die Behauptung des Konzerns, die Pflegekräfte dürften nicht für einen Entlastungstarifvertrag streiken, weil es noch einen laufenden Tarifvertrag gebe und sie der Friedenspflicht unterlägen, wies das Gericht zurück.
Nachdem der Konzern mit seinem Angriff auf das Streikrecht nicht durchgedrungen ist, schlägt Vivantes nun vor, einen Runden Tisch „Entlastung Pflege bei Vivantes“ einzurichten, zu dem neben der Gewerkschaft Verdi auch „neutrale Dritte“ eingeladen werden.
Es ist offensichtlich, dass hier mit den streikenden Pflegekräften ein übles Versteckspiel getrieben wird.
Die SPD stellt in Berlin seit zwanzig Jahren den regierenden Bürgermeister und hat im Bündnis mit der Linkspartei, dann der CDU und schließlich der Linkspartei und den Grünen nicht nur die Kliniken kaputtgespart, sondern auch die Schulen, den öffentlichen Nahverkehr und den sozialen Wohnungsbau. Die Verwandlung der öffentlichen Krankenhäuser in profitorientierte Großkonzerne, deren Manager jährlich eine halbe Million dafür kassieren, dass sie zu Lasten der Beschäftigten und Patienten die Kosten drücken, fällt in die Verantwortung der SPD und ihrer Koalitionspartner, insbesondere der Linkspartei.
Die Gewerkschaft Verdi steckte dabei stets mit dem Senat unter einer Decke und sabotierte jeden ernsthaften Widerstand.
Im Bund, wo die SPD seit 1998 mit vier Jahren Unterbrechung in der Regierung sitzt, ist sie für die größte soziale Umverteilung in der Geschichte verantwortlich. Sozialleistungen wurden systematisch abgebaut, während in der Finanzkrise und der Coronapandemie hunderte Milliarden an die Banken und Großkonzerne flossen. Die Einführung der Fallpauschalen, die wesentlich zur Misere der Krankenhäuser beigetragen haben, fällt – ebenso wie die Hartz-Gesetze, die Rentenreform und umfassende Steuersenkungen für die Reichen – in die Amtszeit der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer.
Alle Parteien sind entschlossen, diese Politik nach der Bundestags- und Berliner Abgeordnetenhauswahl am 26. September fortzusetzen – auch wenn sie im Wahlkampf das Gegenteil versprechen. Um die Gelder für die Coronahilfen wieder einzutreiben und die steigenden Rüstungsausgaben zu finanzieren, werden sie die Sparmaßnahmen weiter verschärfen.
Die Pflegekräfte und anderen Beschäftigten der Kliniken können ihre berechtigten Anliegen nur durchsetzen, wenn sie sich unabhängig von Verdi und den etablierten Parteien organisieren, ein Aktionskomitee aufbauen, das – auch international – Unterstützung in der gesamten Arbeiterklasse organisiert, und für ein sozialistisches Programm kämpfen, das die gesellschaftlichen Bedürfnisse über die Profitansprüche der Reichen stellt.
Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) vertritt ein solches Programm. Sie tritt in Berlin mit einer eigenen Liste zur Bundestags- und Abgeordnetenhauswahl an.