Warnstreik bei den Kliniken von Charité und Vivantes

„Wir brauchen eine medizinische Versorgung, die nicht vom Profit getrieben ist“

Der dreitägige Warnstreik bei den landeseigenen Berliner Klinikkonzernen Charité und Vivantes hat mitten im Wahlkampf ein Schlaglicht auf die extremen Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in den Krankenhäusern geworfen. Die Wut und Empörung unter dem Klinikpersonal ist enorm, und sie findet auch in breiten Bevölkerungsschichten Unterstützung.

Am Montag begann der Warnstreik, bei dem sich am ersten Tag bereits mehr als 700 Beschäftigte beteiligten. Mehr als zehn Stationen wurden komplett bestreikt, 'etliche weitere Betten können für aufschiebbare Maßnahmen nicht belegt werden', hieß es in einer Pressemitteilung der Gewerkschaft Verdi. Dabei hatte bereits am Freitag das Berliner Arbeitsgericht den Streik bei den Tochterfirmen von Vivantes untersagt, die gleichzeitig für höhere Löhne kämpfen.

Auf Antrag der Geschäftsleitung von Vivantes untersagte das Gericht am Montag den Streik bei Vivantes komplett. Am Dienstag demonstrierten daraufhin mehrere hundert Beschäftigte vor dem Roten Rathaus. Am selben Tag wurde das Urteil dann aufgehoben, und so konnte der Streik in beiden Unternehmen ausgeweitet werden.

Nach Gewerkschaftsangaben beteiligten sich nach dem Streikverbot deutlich mehr Beschäftigte an dem Streik als zuvor angenommen. Laut Vivantes kam es durch den Streik zu erheblichen Einschränkungen in den Kliniken. Mehr als 2000 planbare Termine wurden bereits im Vorfeld abgesagt. Am Mittwoch demonstrierten nochmals rund 2000 Beschäftigte vor der Vivantes-Zentrale und zogen anschließend zum Virchow-Klinikum.

Das Streikverbot sorgte nicht nur unter Pflegekräften für Empörung. Auf Twitter kritisierte beispielsweise „Dr. Wuh“: „Die so viel beklatschten Corona-Heldinnen aus Berliner Krankenhäusern, die Pfleger*innen, mussten sich ihr Recht, für mehr Personal und bessere Bedingungen zu streiken, erst vor Gericht erstreiten. Was für ein Wahnsinn.“

Zahlreiche Kommentare in Sozialen Medien kritisierten das Streikverbot heftig und solidarisierten sich mit den Pflegekräften, wie auch „Tamara“, die schrieb: „Große Unterstützung für den #Pflegestreik!!! Diese Menschen leisten unter schwierigen Bedingungen so viel für eine völlig unzureichende Entlohnung.“

Die ungeheuerlichen Bedingungen in den Kliniken sorgten für eine enorme Streikbereitschaft unter dem Klinikpersonal. Mehreren Berichten zufolge wurde von den Leitungen der Kliniken häufig Druck auf Beschäftigte ausgeübt, sich nicht an dem Streik zu beteiligen.

Dies bestätigte auch Katrin, mit der die World Socialist Web Site auf der Demonstration am Mittwoch sprach und die im Benjamin-Franklin-Krankenhaus tätig ist. „Wir haben die gleichen Probleme wie die anderen Häuser. Wir waren eigentlich auch ´Schließungsstation´ für den Streik, aber die Geschäftsleitung hat auf Geheiß des Vorstands dann keine Betten gesperrt“, erklärt sie. „Das Personal wurde unter Druck gesetzt, so dass es angesichts der weiter laufenden Betriebs nicht streiken kann.“

Die unhaltbare Situation drückt sich vor allem in einem massiven Mangel an Personal aus. Nahezu alle Pflegekräfte, mit denen die WSWS auf den Demonstrationen sprach, forderten „mehr Personal auf den einzelnen Stationen“. Sie schilderten, dass in vielen Diensten und auf zahlreichen Stationen Pflegekräfte alleine im Dienst sind, was bereits unter normalen Bedingungen schlechte Versorgung nach sich zieht. Kommt dann noch ein Notfall hinzu, ist es schlichtweg gefährlich für die Patienten.

Eine Pflegekraft beklagt, dass auf ihrer Station eigentlich eine Pflegekraft pro Patient da sein müsse, da diese beatmet werden und die Versorgung entsprechend aufwendig ist. Tatsächlich ist derzeit „eine Kraft für drei Patienten“ zuständig.

Sonja, die an der Charité eine Ausbildung zur Hebamme absolviert, erklärt, dass unter diesen Bedingungen auch die Ausbildung leidet. „Im Virchow-Krankenhaus ist der Kreißsaal unterbesetzt. Da ist die Betreuung nicht gewährleistet für eine gute Geburt. Eine Hebamme betreut drei oder vier Frauen gleichzeitig. Darunter leidet auch die Qualität der Ausbildung und deshalb sind wir hier“, sagt Sonja.

Mit Beginn der Corona-Pandemie haben sich die Bedingungen weiter drastisch verschärft. Die „hygienischen Anforderungen wurden mehr, aber trotzdem haben wir keine Kollegin mehr bekommen“, kritisierte eine Krankenpflegerin. Ein anderer Pfleger beklagt: „Wir waren jetzt über ein Jahr nur am Limit.“ Er verweist dabei auf die Kündigungswelle in Pflege- und Gesundheitsberufen, die seit dem letzten Jahr eingesetzt hat. „Massenweise sind Kollegen abgewandert, die es psychisch oder körperlich nicht mehr geschafft haben.“

Auch der Krankenpfleger Clemens, der in einer Rettungsstelle in der Notaufnahme arbeitet, kennt diese Situation. Er hat seine Ausbildung in Hamburg gemacht und danach deutschlandweit gearbeitet. „Ich habe nicht nur in Hamburg, sondern auch in Krankenhäusern in Süddeutschland gesehen, dass die Arbeitsbedingungen immer schärfer geworden sind. Von meinen 20 Kollegen aus der Ausbildung sind nur noch vier bei dem Ausbildungsberuf geblieben. Wir wollen den Leuten helfen und wir können es nicht.“

Die berechtigten Forderungen nach mehr Personal in Kliniken finden in der Bevölkerung breite Unterstützung, können aber mit der Gewerkschaft Verdi nicht durchgesetzt werden. Die Beschäftigten der Charité haben seit 2016 ihre Erfahrungen mit dem von Verdi ausgehandelten historischen“ Tarifvertrag gemacht, mit dem das Personal schlichtweg betrogen wurde. Selbst Gewerkschaftsvertreter mussten immer wieder eingestehen, dass Personalvorgaben kaum eingehalten werden.

Hinzu kommt, dass Verdi im Bündnis mit Klinikmanagement und Senatsparteien die Niedriglöhne der Tochtergesellschaften von Charité und Vivantes zementiert hat. Die Beschäftigten in den Bereichen Reinigung, Küche, Transport etc. arbeiten in der Regel für Gehälter nur knapp über dem Mindestlohn.

Christina, arbeitet zum Beispiel auf einer Reha-Station bei einer der Vivantes-Tochtergesellschaften. Ihr Stundenlohn liegt etwa 50 Cent über dem Mindestlohn. „Die Arbeiten für den Patienten nach der Operation sind genauso wichtig, wie die anderen und müssen auch so gewürdigt werden. Ich frage mich, wie lange ich das noch machen kann, mit dieser Lohnstufe. Für kurze Zeit kann man das ertragen, aber nicht lange.“

Tatsächlich ertragen die Beschäftigten der Tochtergesellschaften diese Ausbeutung seit vielen Jahren. A., der seinen Namen aus Angst vor Repressalien von Vorgesetzten nicht nennen möchte, arbeitet seit acht Jahren bei der CFM (Charité-Facility-Management). Er ist wütend darüber, dass die Beschäftigten, die wichtige Arbeiten für den Ablauf in einer Klinik leisten, für „Hungerlöhne“ arbeiten. „Seit Jahren verspricht man uns mehr Gehalt“, sagt A. an die Adresse von Verdi gerichtet. 'Fast jedes Jahr haben wir kurze Streiks gemacht, aber die Löhne sind schlecht geblieben.“

Bei CFM, die vor 15 Jahren ausgegliedert wurde, um Niedriglöhne einzuführen, gab es unzählige Streiks und Proteste. Sie wurden von Verdi alle ohne Verbesserungen für die Beschäftigten ausverkauft. Nachdem die Proteste zunahmen, initiierten Verdi und der Berliner Senat 2019 den Rückkauf der CFM und vereinbarten im letzten Jahr einen Tarifvertrag für die CFM-Mitarbeiter, der keine oder nur minimale Verbesserungen enthält.

„Und heute streiken wir gar nicht, dabei wollen wir eigentlich mit den Pflegekräften zusammen streiken. Ich habe den Eindruck, Verdi will gar nicht, dass wir alle auf einmal streiken“, resümiert A. Deshalb sei er schon vor Jahren aus der Gewerkschaft ausgetreten.

Auch jetzt strebt Verdi eine rasche Verhandlung mit dem Klinikmanagement an. Vivantes kündigte an, das Unternehmen wolle an einem Runden Tisch nach Lösungen in dem Tarifkonflikt suchen. Ein Sprecher von Verdi erwidert, er hoffe auch, dass es konstruktive Verhandlungen über eine Entlastung an den Krankenhäusern gebe. „Wir sind jederzeit bereit, über substanzielle Angebote der Arbeitgeber zu verhandeln“, sagte Verdi-Verhandlungsführerin Meike Jäger. „Unser Ziel ist nicht der Streik“.

Während Verdi gemeinsam mit der rot-rot-grünen Senatsregierung alles daran setzt, den Unmut der Beschäftigten zu kanalisieren und für Ruhe zu sorgen, gelangen die Beschäftigten immer mehr zu der Ansicht, dass es grundlegende Veränderungen geben muss, für die auch weiter gekämpft werden muss. „Ich glaube, dass der Warnstreik nicht ausreicht“, erklärte Katrin dazu. „Die Parteien, die jetzt im Senat sind, sagen immer, dass sie helfen wollen, aber es passiert zu wenig.“ Das gesamte Gesundheitssystem wurde regelrecht kaputt gespart, merkt sie an.

Clemens sieht das ebenso: „Wir brauchen eine medizinische Versorgung, die nicht von Profit getrieben wird.“ Er erklärt: „Wir haben ein Recht auf medizinische Versorgung, und dann muss es auch von oben, von der Politik gewährt werden. Ich habe in Süddeutschland in einem Krankenhaus gearbeitet, das heute nicht mehr existiert. Es wurde geschlossen, weil es sich angeblich nicht mehr gerechnet hat. Jetzt müssen die Leute eine Stunde fahren, um medizinisch versorgt zu werden. Wir leben in einem Land, das es sich eigentlich leisten kann, gute medizinische Versorgung zu sichern.“

Unterstützer der Sozialistischen Gleichheitspartei verteilten Flugblätter, die zeigen, wie die heutige Misere von den gleichen Senatsparteien geschaffen wurde, die jetzt Unterstützung für die Pfleger heucheln. Verdis Aufgabe besteht darin, diese Politik gegen die Beschäftigten durchzusetzen. Das Flugblatt endet mit einem Aufruf, den viele Teilnehmer des Streiks unterstützten:

'Die Pflegekräfte und anderen Beschäftigten der Kliniken können ihre berechtigten Anliegen nur durchsetzen, wenn sie sich unabhängig von Verdi und den etablierten Parteien organisieren, ein Aktionskomitee aufbauen, das – auch international – Unterstützung in der gesamten Arbeiterklasse organisiert, und für ein sozialistisches Programm kämpfen, das die gesellschaftlichen Bedürfnisse über die Profitansprüche der Reichen stellt.'

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