[TEIL EINS] [TEIL ZWEI] [TEIL DREI] [TEIL VIER] [TEIL FÜNF] [ZEITLEISTE]
Dies ist der dritte von fünf Teilen einer Rezension von Timothy Snyders Buch Bloodlands. Eine begleitende Zeitleiste informiert über wichtige geschichtliche Hintergründe.
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich alle Seitenangaben auf Timothy Snyder, Bloodlands: Europa Zwischen Hitler und Stalin, 6., erweiterte Auflage, Verlag C. H. Beck, 2022.
Der Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten gegen die Sowjetunion und Ernst Noltes Rechtfertigung des Faschismus
Die eigentliche politische Absicht hinter Snyders falschen Gleichsetzungen des Stalinismus mit dem Kommunismus und der Sowjetunion mit Nazideutschland wird in seiner Darstellung des Zweiten Weltkriegs deutlich. In Bloodlands werden der Vernichtungskrieg der Nazis und die Verbrechen von Hitlers Wehrmacht systematisch verharmlost und als „Reaktion“ auf oder als Teil einer „Interaktion“ mit der Gewalt der sowjetischen Seite relativiert.
Die Nazis griffen die Sowjetunion am 22. Juni 1941 an und lösten damit den blutigsten Krieg der Menschheitsgeschichte aus. Die Zahl der Todesopfer unter der sowjetischen Bevölkerung wird auf 27 Millionen geschätzt, könnte aber auch noch höher sein. Der Krieg markierte auch einen entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung des Völkermords der Nazis an den europäischen Juden. Innerhalb von weniger als zwei Jahren nach Beginn des nationalsozialistisch-sowjetischen Krieges war fast die gesamte jüdische Bevölkerung Osteuropas ermordet worden.
Die Fälschungen und Auslassungen in Bloodlands in Bezug auf den NS-Krieg gegen die Sowjetunion betreffen wesentliche Dinge. Sie alle aufzuzählen ist unmöglich. Der Leser sei daran erinnert, dass über die Hälfte der Opfer dieses Krieges nicht einmal dem NS-Regime zugeordnet wird. Einige der wichtigsten Kapitel in der Geschichte dieses Krieges werden praktisch ignoriert. Dazu gehört die Schlacht von Stalingrad, die im Februar 1943 zur ersten großen Niederlage einer deutschen Armee führte und weithin als Anfang vom Ende des Dritten Reichs gilt.
Vor allem aber verfälscht Snyder den Charakter des Kriegs des NS-Regimes, der sowohl eine imperialistische Aggression als auch eine Konterrevolution war. Die Nazibewegung war historisch gesehen entstanden aus der kapitalistischen Reaktion auf die Oktoberrevolution und die von ihr ausgelösten revolutionären Kämpfe in ganz Europa, darunter auch die deutsche Revolution von 1918/1919. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) wurde 1920 im süddeutschen Bayern gegründet, dem damaligen Zentrum des konterrevolutionären Terrors gegen die Arbeiterbewegung. Die berüchtigten Stoßtrupps der SA gehen auf die Freikorps zurück, die zunächst gebildet wurden, um gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung in Deutschland vorzugehen und dann 1918 den Krieg des deutschen Imperialismus gegen die Sowjetrepublik in Osteuropa zu unterstützen, als Berlin versuchte, große Teile der Region unter seine direkte koloniale Kontrolle zu bringen.
Schon früh äußerte sich Adolf Hitler zum Zusammenhang zwischen der blutigen Niederschlagung der marxistischen und proletarischen Bewegung und der Verwirklichung der außenpolitischen Ziele des deutschen Imperialismus. In einer Rede vor der Hamburger Wirtschaftselite im Jahr 1926 erklärte er unmissverständlich, dass die Vernichtung des Marxismus und der Arbeiterbewegung – vor allem in Deutschland selbst – die wichtigste Voraussetzung für den Wiederaufbau eines Deutschen Reiches in Europa sei. Er erklärte:
Aus dieser Erkenntnis heraus wurde einst die Bewegung gegründet, die ich mich bemühe, groß zu machen und emporzubringen. Ihre Aufgabe ist sehr eng umschrieben: die Zertrümmerung und Vernichtung der marxistischen Weltanschauung.[1]
Das gewaltige Ausmaß und die Brutalität des Krieges gegen die Sowjetunion können nur in diesem Kontext verstanden werden. Die geopolitischen und wirtschaftlichen Kriegsziele des deutschen Imperialismus im Osten waren im Zweiten Weltkrieg in vielerlei Hinsicht denen des Ersten Weltkriegs ähnlich: Die Kontrolle über die Agrar- und Rohstoffressourcen der Sowjetunion – insbesondere der Ukraine – wurde als hauptsächliche Voraussetzung für die Fähigkeit des deutschen Imperialismus angesehen, Krieg gegen seine wichtigsten imperialistischen Konkurrenten, vor allem die Vereinigten Staaten, zu führen. Doch konnte der deutsche Imperialismus weder die volle Kontrolle über diese Ressourcen erlangen noch die deutsche und internationale Arbeiterklasse in Schach halten ohne restlose Vernichtung der sozialistischen Arbeiterbewegung und der Sowjetunion, die trotz der schrecklichen Verbrechen des Stalinismus immer noch ein Arbeiterstaat war, wenngleich in degenerierter Form.
Infolgedessen nahm der Krieg gegen die Sowjetunion in erheblichem Maße den Charakter eines Bürgerkriegs an. Trotz der Verbrechen des Stalinismus und der Enthauptung der Roten Armee durch den Großen Terror vor dem Krieg erhoben sich die sowjetische Bevölkerung und die Rote Armee, um die Errungenschaften der Oktoberrevolution gegen die faschistische Invasion und Konterrevolution zu verteidigen.
In diesem Sinne war Noltes Behauptung, der Faschismus sei eine Reaktion auf die russische Revolution, nicht per se falsch. Nolte vertrat jedoch den Standpunkt, dass diese Reaktion die Verbrechen des Faschismus rechtfertigte, und wärmte damit die Propaganda der Nazis selbst auf. Der Krieg gegen die Sowjetunion überhaupt wurde von den Nazis als „Präventivkrieg“ und mit der Notwendigkeit der „Vernichtung des Bolschewismus“ und des „Marxismus“ gerechtfertigt. Als Nolte 1987 den Nationalsozialismus als „vorhersehbare und durch den späteren Geschichtsverlauf im Kern gerechtfertigte Reaktion“ auf die russische Revolution bezeichnete, schloss er sich dieser faschistischen Argumentationslinie an. Er schrieb, dass
... die von Furcht und Hass erfüllte Beziehung zum Kommunismus tatsächlich die bewegende Mitte von Hitlers Empfindungen und von Hitlers Ideologie war, ... und dass all diese Empfindungen und Befürchtungen nicht nur verstehbar, sondern auch großenteils verständlich und bis zu einem bestimmten Punkt sogar gerechtfertigt waren.[2]
Seit den 1980er Jahren stand die seriöse Geschichtsforschung zu den Verbrechen des Nationalsozialismus und dem nationalsozialistisch-sowjetischen Krieg insgesamt im offenen Konflikt mit Noltes Versuch, den Faschismus zu rechtfertigen.
Dabei waren die Historiker nach der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 mit einem Klima konfrontiert, das in ganz Europa, auch in Deutschland selbst und in Osteuropa, vom Wiedererstarken rechtsextremer Kräfte geprägt war.
Es muss auch daran erinnert werden, dass in Westdeutschland die alten Eliten des Dritten Reiches – von der Justiz bis hin zu vielen Politikern, Journalisten und Akademikern – nach 1945 im Wesentlichen unbehelligt geblieben waren und einer ernsthaften historischen und politischen Aufarbeitung der Verbrechen des Faschismus weiterhin zutiefst feindlich gegenüberstanden. Tatsächlich wurden in Deutschland viele der bedeutendsten historischen Forschungsarbeiten über den Nazi-Krieg im Osten und die Verbrechen der Wehrmacht erst in den 1990er Jahren, also fast ein halbes Jahrhundert nach dem Untergang des Dritten Reiches, veröffentlicht.
Begünstigt wurde diese Arbeit deutscher, anderer europäischer sowie nordamerikanischer Forscher durch die Öffnung der Archive in der ehemaligen Sowjetunion, die umfangreiches Archivmaterial über die nationalsozialistische Besetzung der Sowjetunion und den Holocaust bergen.
Die Geschichtswissenschaft hat vor allem zwei historische Tatbestände nachgewiesen:
Erstens hatten die Nationalsozialisten umfangreiche und detaillierte Pläne für den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, die gegen alle etablierten Normen der Kriegsführung verstießen und nur durch eine Politik des Massenmords von beispielloser Brutalität realisiert werden konnten. Alle Ebenen des deutschen Staates und der Armee sowie eine große Zahl von Akademikern waren an der Ausarbeitung dieser Pläne und ihrer Umsetzung beteiligt. Mit anderen Worten: Die Verbrechen gegen die sowjetische Bevölkerung wurden vom gesamten deutschen Staatsapparat geplant und nicht einfach als „Reaktion“ auf die Rote Armee verübt.
Zweitens beteiligten sich lokale rechtsextreme Kräfte, vor allem in der Ukraine und im Baltikum, in hohem Umfang an den Verbrechen des Naziregimes, besonders am Holocaust.
Mit Bloodlands versucht Snyder, diese historischen Tatsachen zu revidieren. Zu Unrecht behauptet er, sich dabei auf einige der wichtigsten historischen Werke des letzten Vierteljahrhunderts zu stützen. In Wirklichkeit versucht er systematisch, die Verbrechen der Nazis und ihrer faschistischen Verbündeten herunterzuspielen und sie als bloße „Reaktion“ auf die Verbrechen des stalinistischen Regimes darzustellen. Dabei käut er Noltes Verfälschungen und Verharmlosungen des Faschismus aus den 1980er Jahren wieder und geht sogar noch darüber hinaus. Dieser Teil (Teil 3) der vorliegenden Serie befasst sich mit Snyders Relativierung der Verbrechen der Wehrmacht. Der vierte Teil wird davon handeln, wie er die Verbrechen der osteuropäischen faschistischen Kollaborateure der Nazis im Holocaust zu beschönigen sucht.
Der Hungerplan der Nazis
Im Vorfeld des Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 arbeiteten die Nazis zusammen mit deutschen Wissenschaftlern den sogenannten „Generalplan Ost“ aus, eine Blaupause für ihre Besatzungspolitik und ihre Kriegsziele. Ein wichtiger Bestandteil des Generalplans Ost war der sogenannte Hungerplan, der den Hungertod und die Deportation von 30 Millionen Slawen vorsah. Im Gegensatz zur sowjetischen Hungersnot in den frühen 1930er Jahren handelte es sich bei diesem Plan eindeutig um einen vorsätzlichen Massenmord. Doch Snyder konstruiert eine falsche Parallele zwischen den beiden Plänen und verharmlost auf haarsträubende Weise den verbrecherischen und brutalen Charakter der Wehrmacht. Er schreibt:
Hitlers Gefolgsmann Göring verhielt sich im September 1941 auffallend ähnlich wie Stalins Gefolgsmann Kaganowitsch im Dezember 1932. Beide Männer gaben Anweisungen für eine Ernährungspolitik, die in den folgenden Monaten den Tod von Millionen Menschen bedeutete. Beide behandelten die Hungersnot, die aus ihren Maßnahmen folgte, nicht als menschliche Tragödie, sondern als Feindagitation. … Stalin und Kaganowitsch hatten 1932/33 die ukrainische KP zwischen sich und die ukrainische Bevölkerung gestellt, damit ukrainische Kommunisten für die Getreiderequirierungen verantwortlich waren und zur Rechenschaft gezogen werden konnten, wenn die Quoten nicht erfüllt wurden. Hitler und Göring stellten 1941/42 die Wehrmacht zwischen sich und die hungrige sowjetische Bevölkerung... Für die Soldaten und Offiziere der unteren Ränge gab es daraus keinen Ausweg als Befehlsverweigerung oder Kapitulation, was für deutsche Soldaten 1941 ebenso undenkbar war wie für ukrainische Kommunisten 1932. (S. 183/84)
Außerdem behauptet Snyder, dass die deutsche Wehrmacht erst nach Kriegsbeginn beschloss, sich an diesem verbrecherischen Unterfangen zu beteiligen:
... es war das Ausbleiben des Sieges in der Sowjetunion, das die Wehrmacht untrennbar an das NS‑Regime band. In der hungernden UdSSR des Herbstes 1941 saß die Wehrmacht in einer moralischen Falle, aus der der Nationalsozialismus der einzige Ausweg schien. (S. 191, Kursivschrift im Original)
Diese Behauptungen sind nicht nur falsch, sondern stellen auch einen Versuch dar, die alten Mythen wiederaufleben zu lassen, die nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang von der deutschen Rechten und dem politischen Establishment über die angeblich ehrenhafte Wehrmacht verbreitet wurden. Die offizielle Behauptung lautete, dass die Wehrmacht, soweit sie überhaupt in die Verbrechen des Nationalsozialismus verwickelt war, diese Verbrechen nur gegen ihren Willen beging oder als erzwungene „Reaktion“ auf „die Umstände“ und „Gewalt“, die von der sowjetischen Seite ausgingen.
Bei diesen Behauptungen beruft sich Snyder auf den deutschen Historiker Christian Gerlach, dessen 1.250-seitige Studie über die nationalsozialistische Besatzung Weißrusslands, Kalkulierte Morde, er fast 40-mal zitiert. Damit versucht er gezielt, seinem rechten Geschichtsrevisionismus falsche Glaubwürdigkeit zu verleihen. Christian Gerlach hat mit seinem Engagement gegen alle Versuche, die Verbrechen des Naziregimes in seinem Krieg gegen die Sowjetunion zu verharmlosen, einen wichtigen Beitrag geleistet. Sein Buch aus dem Jahr 1999, Kalkulierte Morde, war eine bahnbrechende Studie, die sowohl die Kriegspläne der Nazis für den Osten als auch deren Umsetzung in Weißrussland detailliert rekonstruierte.
Entgegen Snyders Behauptung, die Wehrmacht habe erst im Herbst 1941 – also Monate nach dem Einmarsch – beschlossen, den Hungerplan umzusetzen, hat Gerlach ausführlich dokumentiert, dass sich bereits im Januar/Februar 1941 – also ein halbes Jahr vor dem Einmarsch – alle Ebenen des deutschen Staates, einschließlich der Heeresführung, über die Grundzüge des Hungerplans verständigt hatten.[3]
Der Hungerplan, schrieb Gerlach, war ein „untrennbarer Bestandteil der militärischen Seite des Angriffskrieges gegen die UdSSR und erschien als Voraussetzung für dessen Erfolg“. Die erfolgreiche Unterwerfung der Sowjetunion wiederum galt als Grundbedingung, damit der deutsche Imperialismus Krieg gegen die USA und Großbritannien führen konnte. In der irrigen Annahme, der sowjetische Staat werde bei einem Angriff sehr schnell zusammenbrechen, verfolgten die Nazis entschlossen das Ziel, 30 Millionen Slawen verhungern zu lassen, um die Versorgung der deutschen Bevölkerung und der Armee mit Nahrungsmitteln sicherzustellen. Gerlach betonte, dass die Umsetzung der Wirtschaftspolitik und der daraus resultierenden Verbrechen – einschließlich des Hungerplans – „im Interesse der Wehrmacht“ lagen, denn nur durch das Aushungern der sowjetischen Bevölkerung konnte die deutsche Armee mit Lebensmitteln versorgt werden.[4]
Doch Snyder verzerrt Gerlach und insistiert:
Die Wehrmacht konnte den Hungerplan nicht umsetzen... Die deutschen Besatzer waren nie in der Lage, wann und wo sie wollten für Hunger zu sorgen... Sie konnten für Terror sorgen, aber weniger systematisch als zuvor die Sowjets; es fehlte ihnen die Partei und die Angst und der Glaube, die sie erzeugen konnte. Der Wehrmacht fehlte auch das Personal, um Städte von der Umgebung abzuriegeln. Und je länger der Krieg dauerte, desto größere Sorgen machten sich deutsche Offiziere, dass organisierte Hungersnot eine Widerstandsbewegung hinter den eigenen Linien schaffen würde. (S. 180, 181)
An anderer Stelle stellt er fest:
Die Wehrmacht folgte nicht dem ursprünglichen Hungerplan, sondern erzeugte den Hunger dort, wo es nützlich schien. (S. 184)
Diese Aussagen verharmlosen nicht nur erneut die Brutalität der Wehrmacht, sie führen auch gewollt in die Irre. Es ist sicherlich richtig, dass die Wehrmacht den Hungerplan nicht „vollständig“ umsetzen konnte, nicht zuletzt, weil das Massakrieren der gesamten Bevölkerung in einem Krieg, der sich viel länger hinzog, als die Nazis erwartet hatten, logistische Herausforderungen für die Lebensmittelversorgung der Wehrmacht mit sich gebracht hätte. Aber sie hat sicherlich versucht, alles dafür zu tun.
Snyder erweckt wieder einmal den falschen Eindruck, dass seine Aussagen über das angebliche „Versagen“ der Wehrmacht bei der Umsetzung des Hungerplans durch die Arbeit anderer Historiker untermauert werden. Dagegen betont Alex J. Kay, auf den sich Snyder bezieht:
... man sollte aus dem Scheitern des geplanten Verhungerns von dreißig Millionen Sowjets keineswegs schließen, dass die Umsetzung dieser Politik nicht versucht wurde. Die Besatzungsbehörden vor Ort wussten, wie sie die einheimische Bevölkerung zu behandeln hatten. Bei einer Rede im Jahr 1942 erinnerte sich der Bevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel daran, dass bei einem Besuch in der Ukraine im Spätherbst 1941 alle deutschen Behörden dort überzeugt waren, dass im Winter 1941/42 „mindestens zehn bis zwanzig Millionen dieser Menschen einfach verhungern werden“. Bei einem Gespräch in Berlin Ende November 1941 sagte Göring dem italienischen Außenminister Graf Galeazzo Ciano, dass bestimmte Völker dezimiert werden müssten und zwanzig bis dreißig Millionen Einwohner der Sowjetunion im Laufe des Jahres 1941 verhungern würden.[5]
Von den Städten, die monate- oder gar jahrelang belagert wurden, erwähnt Snyder nur drei, und auch nur kurz. Leningrad, die Stadt der Revolution, war einer fast 900-tägigen Belagerung ausgesetzt, der längsten in der modernen Geschichte. Außerdem erwähnt Snyder nur die niedrigste Schätzung der zivilen Todesopfer, nämlich eine Million, und ignoriert die Tatsache, dass schätzungsweise eine weitere Million Soldaten der Roten Armee bei der Verteidigung der Stadt ums Leben gekommen sein sollen.
Wenn Snyder die Belagerung von Kiew durch die Nazis erörtert, bei der die deutschen Truppen die Bevölkerung aushungerten, behauptet er sogar, dass die sowjetischen Behörden 1933 brutaler gegen die Bevölkerung der Stadt vorgegangen seien, indem er schreibt: „Die Deutschen konnten die Stadt nicht so abriegeln wie die Sowjets 1933.“ (S. 184). Viele weitere Belagerungen, die sich im Bereich des von Snyder willkürlich definierten geografischen Rahmens ereigneten, werden überhaupt nicht erwähnt, etwa die Belagerung der relativ kleinen Stadt Pawlowsk, bei der 6.000 von 11.000 Einwohnern verhungerten, sowie die achtmonatige Belagerung von Sewastopol auf der Krim durch rumänische und deutsche Wehrmachtssoldaten.
Ein weiteres zentrales Angriffsziel des Hungerplans waren die sowjetischen Kriegsgefangenen. Zwischen 3 Millionen und 3,5 Millionen sowjetische Kriegsgefangene verhungerten in deutscher Gefangenschaft, mehr als 2 Millionen von ihnen bis zum Frühjahr 1942, also innerhalb der ersten zehn Monate des Krieges. Tatsächlich waren bis zum Frühjahr 1942 nicht die Juden, sondern die sowjetischen Kriegsgefangenen die größte Opfergruppe der Nazis. Sie wurden im Herbst und Frühjahr 1941/1942 systematisch in Lagern und auf Todesmärschen erschossen und verhungerten, und zwar bis zu 300.000 pro Monat. In diesem Zeitraum wurden zwischen 85 und 90 Prozent aller sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Gefangenschaft getötet.
Die Verantwortung der Nazis für dieses grausame Verbrechen wird von Timothy Snyder absichtlich heruntergespielt. Er behauptet: „Doch die sowjetischen Kriegsgefangenen starben als Resultat einer Interaktion beider Systeme.“ (S. 382, Kursiv im Original)
Auch dies widerspricht direkt den historischen Belegen. Vor allem die Historiker Christian Streit und Christian Gerlach haben unwiderlegbare Beweise für die geplante und vorsätzliche Tötung von Millionen sowjetischer Kriegsgefangener durch die Wehrmacht im Rahmen des Hungerplans vorgelegt.[6] Beide, Streit und Gerlach, betonen auch die Bedeutung des berüchtigten „Kommissarbefehls“, den Snyder unterschlägt. Die deutsche Heeresführung erließ diesen Befehl am 6. Juni 1941. Er forderte die deutschen Truppen offen dazu auf, gefangene sowjetische Politkommissare zu ermorden.
Snyder verweist auf diese Historiker, deren Werke nicht ins Englische übersetzt wurden, verschweigt seinen Lesern aber, dass diese beiden herausragenden Experten auf dem Gebiet seine wichtigsten Behauptungen nachdrücklich zurückweisen.
Die Nazi-Besetzung Weißrusslands und der Krieg gegen die Partisanen
Es gab während des Zweiten Weltkriegs vielleicht kein Land, in dem die Zivilbevölkerung prozentual mehr Opfer zu beklagen hatte als Weißrussland. In den mehr als drei Jahren der Besatzung wurden mindestens 1,5 bis 1,6 Millionen Menschen getötet, also zwischen 18 und 19 Prozent der Gesamtbevölkerung von 9 Millionen. Von den Opfern waren zwischen 500.000 und 550.000 belarussische Juden (über 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung vor dem Krieg) und 700.000 Kriegsgefangene. Zusätzlich zu den zivilen Todesopfern starben nach Schätzungen über eine halbe Million Weißrussen als Soldaten der Roten Armee.
Neben dem Völkermord an der jüdischen Bevölkerung und der systematischen Liquidierung von Kriegsgefangenen war der Krieg der Nazis gegen die Partisanen das Kriegsverbrechen, das die meisten Opfer unter der Zivilbevölkerung forderte. Mindestens 345.000 Menschen wurden ermordet und über 600 Dörfer zerstört.[7]
In wenigen Ländern war die Beteiligung der Bevölkerung am Partisanenwiderstand gegen die Nazis während des Zweiten Weltkriegs so hoch wie in Weißrussland. Bis 1943 war die Partisanenbewegung so stark angewachsen, dass sie große Teile der Bevölkerung umfasste. Etwa 39,6 Prozent der Partisaneneinheiten waren Bauern, 17 Prozent Arbeiter, 20 Prozent Intellektuelle und 12,2 Prozent Jugendliche.[8]
In Bloodlands führt Snyder einen erbitterten Angriff auf diese antifaschistische Widerstandsbewegung. Er beschuldigt die Partisanen, einen „illegalen“ Krieg zu führen, und stellt sie als marodierende Banditen dar, die die Zivilbevölkerung absichtlich als Geiseln nähmen. Die Partisanen, so behauptet Snyder, sind am Tod von hunderttausenden Zivilisten durch den deutschen „Krieg gegen die Partisanen“ in gleichem Maße schuld wie die Nazis selbst.
Snyder tobt:
Partisanenkampf war ein Alptraum der deutschen Militärplanung, und Wehrmachtsoffiziere waren ausgebildet worden, hart dagegen vorzugehen... Partisanenkrieg war (und ist) illegal, weil er die Konvention untergräbt, dass uniformierte Armeen gegeneinander statt gegen die Zivilbevölkerung Gewalt anwenden. In der Theorie schützen Partisanen die Zivilisten vor einem feindlichen Besatzer; in der Praxis müssen sie ebenso wie der Besatzer von dem leben, was sie den Zivilisten nehmen. Da Partisanen sich unter Zivilisten verstecken, verursachen sie Vergeltungsmaßnahmen des Besatzers gegen die Zivilbevölkerung, häufig mit Absicht. (S. 243)
An anderer Stelle behauptet er: „Beim Partisanenkrieg in Weißrussland wirkten Hitler und Stalin auf perverse Art zusammen; beide ignorierten das Kriegsrecht und eskalierten den Konflikt hinter der Front.“ (S. 258)
Während Snyder seinen Bericht über den deutschen Krieg gegen die Partisanen und die Zivilbevölkerung in Weißrussland damit beginnt, dass er den Kampf der Partisanen gegen die Invasoren für „illegal“ erklärt, widmet er den weitreichenden Plänen der Nazis für ihre Kriegsführung genau einen Satz und bezeichnet sie nicht einmal als „illegal“. Er stellt beiläufig fest: „Hitler hatte die Wehrmachtssoldaten bereits von rechtlichen Konsequenzen bei Aktionen gegen Zivilisten entbunden.“ (S. 243)
Worauf Snyder hier in einem flüchtigen Satz anspielt, ist der Kriegsgerichtsbarkeitserlass, eines der wichtigsten Dokumente des Krieges der Nazis gegen die Sowjetunion und eines der finstersten der Weltgeschichte. Das Dokument, am 13. Mai 1941 vom Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel erlassen, befreite „die Wehrmachtssoldaten“ nicht nur vom „Verfolgungszwang“ bei Tötung von Zivilisten, es forderte auch ausdrücklich zu Massenrepressalien gegen die sowjetische Zivilbevölkerung und zur Vernichtung ganzer Dörfer und Städte auf. Die deutsche Heeresleitung rechtfertigte dieses verbrecherische Handeln unmissverständlich als Vergeltung für die Oktoberrevolution und die sozialistische und kommunistische Bewegung in Deutschland selbst.
Im Abschnitt Behandlung der Straftaten von Angehörigen der Wehrmacht und des Gefolges gegen Landeseinwohner heißt es im Erlass:
1. Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist.
2. Bei der Beurteilung solcher Taten ist in jeder Verfahrenslage zu berücksichtigen, dass der Zusammenbruch im Jahre 1918, die spätere Leidenszeit des deutschen Volkes und der Kampf gegen den Nationalsozialismus mit den zahllosen Blutopfern der Bewegung entscheidend auf bolschewistischen Einfluss zurückzuführen war und dass kein Deutscher dies vergessen hat.[9]
In den Worten eines Historikers:
Der Kriegsgerichtsbarkeitserlass ermächtigte jeden einzelnen Offizier des Ostheeres zur Anordnung von verfahrenslosen Exekutionen gegen sowjetische Zivilisten, erlaubte kollektive Repressalien gegen ganze Ortschaften und verpflichtete das Ostheer auf ein denkbar radikales Vorgehen gegen jede Form aktiven oder passiven Widerstands. Mit der Aufhebung des Strafverfolgungszwanges bei Straftaten von Wehrmachtsangehörigen gegen Zivilisten verwandelte der Kriegsgerichtsbarkeitserlass die besetzten Gebiete zugleich in einen nahezu rechtsfreien Raum und schuf damit die Voraussetzung für die deutsche Gewaltherrschaft in der Sowjetunion.[10]
Snyder übergeht nicht nur dieses Dokument, das bereits im Voraus den verbrecherischen Charakter der deutschen Besatzungspolitik im Osten bestimmte. Er zitiert oder erwähnt nicht einmal deutlich diesen noch einen der fünf anderen verbrecherischen Befehle, die das Verhalten der Wehrmacht im Vernichtungskrieg regelten. Vor allem der Barbarossabefehl (13. Mai 1941), die Richtlinien „für das Verhalten der deutschen Truppen in der Sowjetunion“ (19. Mai 1941) und der Kommissarbefehl (6. Juni 1941) sind hier zu nennen. Sie alle traten über einen Monat vor Beginn der Invasion in Kraft und stellten die Kriegsführung der Wehrmacht außerhalb aller geltenden völkerrechtlichen Normen und Konventionen.
Stattdessen gibt sich Snyder große Mühe, die Partisanen als Schläger und Gangster darzustellen, die der Not der Zivilbevölkerung gleichgültig gegenüberstanden. Im Grunde propagiert er damit das Bild der „Banditen“, das die Nazis selbst verbreiteten, um ihre Massenrepressalien zu rechtfertigen. Dabei unterlaufen ihm bei der Übersetzung von NS-Dokumenten Fehler, die sich nur schwer mit mangelnden „Sprachkenntnissen“ oder bloßer Schlamperei erklären lassen. So verwandelt er „Feindtote“ in „Partisanen“ und den Begriff „Bandenverdächtige“ in „Partisanenverdächtige“ (S. 250). Mit anderen Worten: Snyder ändert einfach die Begriffe „Feinde“ und „Banditen“, die im Deutschen genauso eindeutig sind wie im Englischen, in den Begriff „Partisanen“[11].
Doch anders als der Yale-Professor seinen Lesern weismachen will, war der brutale Krieg der Nazis gegen die Zivilbevölkerung keine Reaktion auf die Partisanen, vielmehr war es der Krieg gegen die Zivilbevölkerung, der die Reihen der Partisanen bis 1943 enorm anschwellen ließ. Wie ein Historiker, den Snyder zitiert, feststellte:
Die Grundlagen für die Grausamkeit und Brutalität [des Krieges gegen die Partisanen] waren bereits in der Struktur des Krieges gegen die Sowjetunion verwurzelt, die in der Planungsphase festgelegt worden war... Die grundsätzliche und systematische Verrohung der Kriegsführung wurde durch die deutschen Kriegsziele und deren Mittel bestimmt... Die Grausamkeit der deutschen Eroberer provozierte den hartnäckigen Widerstand, nicht umgekehrt.[12]
Niemand hat dies eindrucksvoller nachgewiesen als Christian Gerlach. In einem 200-seitigen Kapitel über den NS-Krieg gegen die Partisanen in Weißrussland in seiner Studie Kalkulierte Morde über die NS-Besatzung von Weißrussland kommt Gerlach unmissverständlich zu dem Schluss, dass der Krieg gegen die Partisanen „ein staatlich organisiertes Massenverbrechen“[13] war.
Außerdem wies Gerlach detailliert nach, dass viele der schrecklichsten Massenmorde an der Zivilbevölkerung, die als „Partisanenbekämpfung“ bezeichnet wurden, nicht so sehr durch den militärischen Verlauf des Feldzugs an sich bedingt waren, sondern vielmehr durch die Pläne der Nazis, durch die Ausbeutung der weißrussischen Bauernschaft das deutsche Heer zu ernähren.
Doch Snyder, der seinen Lesern unter Missachtung der historischen Fakten weismachen will, dass die sowjetische Hungersnot das Ergebnis einer Politik des vorsätzlichen Massenmords war, ignoriert einfach die historische Tatsache, dass ganze Regionen in Weißrussland von den Nazis entvölkert wurden, weil die dortigen Bauern die gewünschten Quoten nicht erfüllten.
In Gerlachs Worten:
Die wichtigste Aufgabe der weißrussischen Bauern aus deutscher Sicht war es, Agrarprodukte zu liefern. Was die unbewaffneten Zivilisten anging, bestand die schwerwiegendste Widerstandshandlung darin, dass sie keine Produkte lieferten. Nicht nur, dass sie damit ihre politische Haltung demonstrierten oder zu demonstrieren schienen: Sie hatten aus deutscher Sicht schlicht keinen Daseinszweck mehr.[14]
Bei vielen der größten Operationen der „Partisanenbekämpfung“ waren dutzende Vertreter des Landwirtschaftsministeriums anwesend, um Agrarerzeugnisse zu beschlagnahmen. Tatsächlich wurden viele dieser Operationen vom Landwirtschaftsministerium angeordnet und richteten sich gegen Höfe und Dörfer, die die von den Nazibesatzern festgelegten Quoten nicht erfüllt hatten, manchmal nur um ein paar Kühe.
Die Brutalität dieser „Operationen“ ist auch heute noch unfassbar. Sie haben sich tief ins Bewusstsein der Menschen in der ehemaligen Sowjetunion eingegraben und gaben den Stoff für einen der eindrücklichsten Antikriegsfilme des 20. Jahrhunderts ab, Come and See, der das Niederbrennen eines Dorfes und seiner Bewohner bei einer „Partisanenbekämpfung“ zeigt.
Christian Gerlach beschrieb diese Operationen wie folgt:
Der Ablauf der Massaker in den heimgesuchten Orten zeugt von einem organisierten Vorgehen der deutschen Einheiten und ihrer Helfer. So handelte es sich in nicht wenigen Fällen um Grubenerschießungen ganz ähnlich den Judenexekutionen von SS, Polizei und Wehrmacht, ausgeführt mit Maschinengewehren. Andernfalls fand die Vernichtung in Scheunen, Ställen oder größeren Gebäuden statt, manchmal indem die Deutschen die Menschen lebendig verbrannten. Diese Exekutionsorte sollten verhindern, dass die Opfer auseinanderliefen und entkamen. Die dritte Möglichkeit war, dass jede einzelne Familie in ihrem Haus unter Arrest gestellt und dort mit Schüssen – besonders aus Maschinenpistolen – und Handgranaten umgebracht wurde. Anschließend wurden die Häuser angezündet. Spezielle Trupps waren für das Abbrennen der Dörfer zuständig. Manchmal wurden Tage zuvor alle Bewohner jedes einzelnen Hauses registriert, im Einzelfall Gaswagen als Mordwerkzeug verwendet.[15]
Auch die deutsche Luftwaffe beteiligte sich durch den Abwurf tonnenschwerer Bomben in tausenden Luftangriffen an der Zerstörung von Dörfern.
Trotz dieser unglaublich brutalen Kriegsführung durch die Nazis und obwohl Stalin während des Großen Terrors Schulen für die Ausbildung von Partisanen sowie Munitions- und Waffenlager für den Partisanenkrieg aufgelöst hatte, konnten die sowjetischen Partisanen den Nazis erheblichen Schaden zufügen. Es ist bemerkenswert, wie unterschiedlich Snyder und Gerlach diese Tatsache bewerten.
Timothy Snyder sieht in jedem Schaden, den die Partisanen den deutschen Kriegsanstrengungen zufügten, nur einen weiteren Beweis für den verbrecherischen Charakter ihres Kampfes. Er prangert die Partisanen an, weil sie Lokomotiven in die Luft gesprengt haben, und bezieht sich dabei erneut auf Gerlach. Jedoch betont Gerlach in der zitierten Passage, dass diese Aktionen „europaweit spürbare Auswirkungen“ und einen „nicht zu unterschätzenden Effekt“ auf den Ausgang des Krieges hatten: Die Angriffe der Partisanen auf Bahnanlagen und Lokomotiven zerstörten jeden Monat so viele Lokomotiven, wie die gesamte von den Deutschen kontrollierte Eisenbahnindustrie in Europa zu dieser Zeit produzieren konnte, und untergruben damit ernsthaft die Kriegsanstrengungen der Nationalsozialisten.[16]
Aus Gründen, die er selbst am besten kennt, betont Snyder immer wieder, dass sich Juden, die aus den Ghettos flohen, den Partisanen anschlossen. „Deutsche ermordeten Juden als Partisanen, und viele Juden wurden daraufhin Partisanen. Diese dienten dem Sowjetsystem und wirkten an einer Politik mit, die Vergeltungsmaßnahmen gegen Zivilisten provozierte.“ (S. 258) Man kann diese Passage kaum anders lesen denn als Andeutung, dass Holocaust-Überlebende, die zu Partisanen wurden, die Folgen der Partisanenbekämpfung der Nazis selbst zu verantworten hatten. Und man mag nicht glauben, dass es Timothy Snyder, der seit fast drei Jahrzehnten mit der Geschichte Osteuropas befasst ist, entgangen ist, dass die osteuropäische extreme Rechte die faschistische Gewalt während des Krieges routinemäßig mit der „Beteiligung der Juden“ am Sowjetregime rechtfertigt.
Timothy Snyders Rückgriff auf Bogdan Musiał
In der Tat zeigt schon Snyders verzerrte Darstellung der Verbrechen des Stalinismus eindeutig, dass seine Argumente denen der osteuropäischen Rechten ähnlich sind. Davon zeugen sogar die Quellen, die er verwendet. Während Snyder die Erkenntnisse von Historikern wie Christian Gerlach verzerrt und revidiert, ist die wahre Quelle seiner Inspiration der rechte deutsch-polnische Historiker Bogdan Musiał.
Im Gegensatz zu Gerlach, der den Großteil seines Berufslebens der Dokumentation der Verbrechen der deutschen Wehrmacht gewidmet hat, ist Musiał vor allem als Gegner der Aufdeckung der Verbrechen der Wehrmacht und des Nationalsozialismus bekannt. Als in den 1990er Jahren eine Ausstellung in Deutschland zum ersten Mal seit 1945 das ganze Ausmaß der Mittäterschaft der Wehrmacht beim Krieg im Osten aufdeckte, trat Musiał als einer ihrer entschiedensten Gegner hervor und brachte viele der falschen Argumente vor, die deutschen Politikern den Vorwand für die Schließung der Ausstellung lieferten.[17]
Musiał ist auch bekannt als einer von vielen polnischen Rechtsintellektuellen, die sich dagegen gewandt haben, die Beteiligung von Polen an antijüdischen Pogromen während des Zweiten Weltkriegs ans Licht zu bringen. Wie in der osteuropäischen extremen Rechten üblich, rechtfertigte Musiał „antijüdische Emotionen“ unter Polen mit dem „Verhalten nicht weniger Juden“ unter sowjetischer Herrschaft in Ostpolen.[18]
Trotz der fragwürdigen, weithin bekannten Vorgeschichte von Musiał gehört sein Buch über die sowjetischen Partisanen in Weißrussland aus dem Jahr 2009 zu den von Snyder am häufigsten zitierten Werken in seinem Kapitel über die Partisanen. Wie üblich verschweigt Snyder seinen Lesern den Charakter und die Hauptaussagen des Werks, auf das er Bezug nimmt. Dafür hat er gute Gründe. Musiał stellt in diesem Werk zwei zentrale Behauptungen auf: Erstens charakterisiert er den Überfall der Nazis auf die Sowjetunion auf hinterhältige Weise als Antwort auf angeblich langgehegte Pläne für einen „Angriff“ der Bolschewiki auf Deutschland und Polen.
Er schreibt:
Sowohl am Vorabend des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion als auch in den 1920er und 30er Jahren galt in der Sowjetunion die militärisch-strategische Konzeption des „offensiven Krieges“ bzw. die „Politik der Offensive“, d. h. des Angriffskrieges nach Westen, für den die Sowjetunion spätestens seit 1930 massiv aufrüstete.[19]
Dies ist praktisch eine Neuauflage des altbekannten Mythos, dass Deutschland Krieg gegen die Sowjetunion führen musste, um einen Angriff der UdSSR zu verhindern. Tatsächlich war dies die Rechtfertigung, die die Nazis selbst für ihren Überfall am 22. Juni 1941 lieferten, als die deutsche Botschaft dem Kreml erklärte, der Einmarsch sei ein „Präventivkrieg“. Obwohl er nicht so weit ging, die These vom „Präventivkrieg“ offen zu vertreten, zielte Ernst Nolte eindeutig auf ihre vollständige Rehabilitierung ab. 1987 schrieb er über den Angriff auf die Sowjetunion, „Er (ein Angriffskrieg) kann ein objektiv begründeter und unvermeidbarer Entscheidungskampf sein“, der als präventive Antwort auf eine von den Nazis als permanent existierende Bedrohung wahrgenommene Situation verstanden werden musste, hervorgerufen durch die russische Revolution und den Bürgerkrieg.[20]
Snyder unterlässt es nicht nur, seine Leser Informationen über Musials Buch an die Hand zu geben, er übernimmt auch fast unverändert das zweite zentrale Argument von Musiał: Der Massenmord an der belarussischen Zivilbevölkerung sei eine Reaktion der deutschen Armee auf den, in Musials Worten, „Terror der Partisanen“ gewesen. Musiał lieferte eindeutig die Vorlage für Snyders Narrativ in Bloodlands:
Mit dem Anwachsen der Partisanenbewegung ab 1942 wurde die Lage der Bevölkerung immer prekärer. Auf die lawinenartig steigende Zahl der Partisanenaktionen und -überfälle reagierten die deutschen Besatzer mit kleineren und großen Operationen, die nominell gegen die Partisanen gerichtet waren. In erster Linie litt darunter die Bevölkerung der umkämpften Gebiete.[21]
Diese Behauptung ist nicht nur falsch, wie bereits gezeigt; mit ihr wird vielmehr versucht, die Verbrechen des Nationalsozialismus als eine erzwungene, höchstens etwas fehlgeleitete oder „überzogene“ Antwort und Reaktion auf die Verbrechen der Sowjets darzustellen. Unter dem Deckmantel der Geschichtsforschung lässt Snyder all die alten Argumente wieder aufleben, die in der Vergangenheit von der deutschen und osteuropäischen extremen Rechten vorgebracht wurden, um die Verbrechen des Faschismus sowohl gegen die sowjetische Bevölkerung als auch gegen das europäische Judentum zu verharmlosen und zu rechtfertigen.
Wird fortgesetzt
Werner Jochmann (ed.), Im Kampf um die Macht: Hitlers Rede vor dem Hamburger Nationalklub von 1919, Europäische Verlagsanstalt 1960, S. 102-103
Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Propyläen Verlag 1987, S. 17, 16
Christian Gerlach, Kalkulierte Morde, Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weissrussland 1941 bis 1944, Hamburg: Hamburger Edition 1999, S. 63
Ebd., S. 75 and 51. Hervorhebung im Original
Alex J. Kay, “The Purpose of the Russian Campaign Is the Decimation of the Slavic Population by Thirty Million: The Radicalization of German Food Policy in Early 1941,” Nazi Policy on the Eastern Front, 1941: Total War, Genocide and Radicalization, ed. by Alex J. Kay, Jeff Rutherford, and David Stahel, University of Rochester Press 2012, S. 115. Hervorhebung hinzugefügt. (Aus dem Englischen
Die wichtigsten Arbeiten dazu sind Christian Streits Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegesgefangenen, 1941-1945, Dietz 1978, und Christian Gerlachs Krieg, Ernährung, Völkermord: Forschungen zur Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburger Edition 1998. Beide Werke sind in der Bibliografie von Bloodlands aufgeführt. Ihre Erkenntnisse werden von Snyder völlig verzerrt oder zurückgewiesen. Snyder teilt dem Leser nicht mit, zu welchen Ergebnissen diese Studien gelangten
Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 1158. Snyder zitiert Gerlach falsch, wenn er dessen Opferzahlen des nationalsozialistischen Kriegs gegen die Partisanen mit 320.000 angibt (S. 259, Endnote 59)
Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 862
Kriegsgerichtsbarkeitserlass. URL: https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0093_kgs&l=d
Felix Römer, “Einführung zum Kriegsgerichtsbarkeitserlass”. URL: https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0093_kgs&l=d
Die Übersetzungsfehler beziehen sich auf Zitate in Moritz Felix Lück, “Partisanenbekämpfung durch SS und Polizei in Weißruthenien 1943: Die Kampfgruppe von Gottberg,” in: Alfons Kenkmann, Christoph Spieker (Hg.), Im Auftrag. Polizei, Verwaltung und Verantwortung. Begleitband zur gleichnamigen Dauerausstellung—Geschichtsort Villa ten Hompel, Klartext Verlag: Essen 2001, p. 239. In den neun Verweisen auf diesen Essay gibt es noch weitere Fehler, einmal abgesehen davon, dass Snyder die wesentlichen Argumente des Autors ignoriert. Bei der unvollständigen Übersetzung einer anderen Textstelle, die die Bedeutung des ursprünglichen Zitats verzerrt, schreibt Snyder mit Bezug auf Lück, dass „… 1942 Dorfbewohner, die mit ihnen zu tun hatten (den Partisanen), ‚wie Juden‛ zu vernichten“ waren (S. 249). Bei Lück heißt es „wie Juden und Zigeuner“ (S. 239). Die völkermörderische Politik der Nazis gegenüber den Sinti und Roma ist Snyder im gesamten Buch keine Erwähnung wert
Moritz Felix Lück, „Partisanenbekämpfung durch SS und Polizei in Weißruthenien 1943”, S. 225
Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 967
Ebd., S. 982-983
Ebd., S. 915
Ebd., S. 868-869.
Mehr zu dieser Ausstellung und zur Rolle, die Bogdan Musial bei ihrer Schließung spielte, siehe: Wolfgang Weber, Die Debatte über die Verbrechen von Hitlers Wehrmacht, World Socialist Web Site, 26.-27. Juli 2001.
Teil 1: https://www.wsws.org/de/articles/2001/07/weh1-j26.html
Teil 2: https://www.wsws.org/de/articles/2001/07/weh2-j27.htm
Bogdan Musiał, Sowjetische Partisanen, 1941-1944. Mythos und Wirklichkeit, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2009, S. 34
Nolte, Der Europäische Bürgerkrieg, S. 460-466
Musiał, Sowjetische Partisanen, S. 31. Anzumerken ist, dass Snyders Verweise auf Musial zahlreiche Fehler enthalten, obwohl seine und Musials Argumente sich überschneiden. Von sieben Verweisen auf Musial sind vier nicht oder nur teilweise korrekt. In Kapitel 7, „Holocaust und Vergeltung“ verweist Endnote 34 auf die Seiten 189 und 202 bei Musial. Die korrekte Angabe wäre S. 189-201. Seite 202 ist für Snyders Textstelle unwesentlich. Endnote 48, die auf Seite 195 bei Musial verweist, sollte auf die Seiten 195-207 verweisen. Endnote 49 auf Seite 212 bei Musial sollte korrekt auf die Seiten 211 bis 219 verweisen. Die einzige Endnote, die auf dieses rechte Werk verweist und nicht zu beanstanden ist, ist Endnote 50.