Timothy Snyders Bloodlands: Rechte Propaganda im Gewand von Geschichtswissenschaft – Schlussbetrachtung

Geschichtslügen im Dienst der imperialistischen Reaktion

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Dies ist der letzte Teil einer fünfteiligen Rezension von Timothy Snyders Buch Bloodlands. Eine begleitende Zeitleiste informiert über wichtige historische Hintergründe.

Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich alle Seitenangaben auf Timothy Snyder: Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin, 6., erw. Auflage, Verlag C. H. Beck, 2022.

Auch diese ausführliche Rezension konnte nur einen Teil der Verfälschungen, Lügen und Geschichtsverdrehungen von Timothy Snyder ansprechen. Die Fülle an Fehlern in seinen Zitaten, die Übersetzungsfehler und die falsche Darstellung wissenschaftlicher Werke – das würde schon ausreichen, um jedes Kapitel in Bloodlands selbst als Einstieg ins Thema zu disqualifizieren.

Timothy Snyder und sein Buch Bloodlands [Photo by Heinrich-Böll-Stiftung/WSWS / CC BY-SA 2.0]

Snyders Methode in Bloodlands ist zügelloser Subjektivismus und Eklektizismus: Völlig beliebig führt er Fakten an oder lässt sie aus; nicht der objektive Gang der historischen Entwicklung ist sein Maßstab, sondern die Erfordernisse seines „Narrativs“. Den historischen Akteuren werden Gedanken und Motive zugeschrieben, ohne dass der soziale und ökonomische Kontext, in dem ihre Entscheidungen und Handlungen stattfinden, ernsthaft untersucht wird, und meistens auch ohne irgendwelche beweiskräftigen Dokumente. Snyder gefällt es, Horrorgeschichten über einen zweifellos schrecklichen Zeitabschnitt der Geschichte zu erzählen, er will den Leser schockieren, verstören und verwirren, nichts erklären. Häufig schmückt er sie mit Details aus, die nicht historisch verbürgt sind, sondern Snyders Fantasie entspringen.

Um mit Georg Friedrich Wilhelm Hegel zu sprechen, muss man Timothy Snyder vorwerfen,

allen möglichen unhistorischen Ausgeburten einer eitlen Einbildungskraft Eingang zu verschaffen. Dies ist die andre Weise, Gegenwart in der Geschichte zu gewinnen, indem man subjektive Einfälle an die Stelle geschichtlicher Daten setzt, – Einfälle, die für um so vortrefflicher gelten, je kühner sie sind, das ist, auf je dürftigeren Umständchen sie beruhen und je mehr sie dem Entschiedensten in der Geschichte widersprechen.[1]

Diese Methode ist nicht die eines Historikers, sondern die eines Propagandisten. Doch obwohl seine Behauptungen oft abenteuerlich und weit hergeholt sind, gibt es in den vorgebrachten Argumenten eine objektive politische und historische Logik. Bloodlands ist ein Werk, das bewusst rechten Geschichtsrevisionismus propagiert. Sein Dreh- und Angelpunkt ist die ideologische Rehabilitierung der von Nolte entwickelten Rechtfertigung des Faschismus, zusammen mit Schlüsselelementen der Propaganda der polnischen und ukrainischen extremen Rechten. Erst greift Snyder die Oktoberrevolution und die Linke Opposition an und setzt ausgehend davon den Stalinismus fälschlicherweise mit dem Kommunismus und dem Bolschewismus gleich. Im nächsten Schritt verzerrt er das Wesen des Stalinismus und seiner Verbrechen, die er nicht nur auf eine Stufe mit den Verbrechen des Faschismus stellt, sondern oft sogar als noch schlimmer bezeichnet.

Snyders Gemisch aus Verzerrungen, Auslassungen und reinen Erfindungen gipfelt in seiner Darstellung des NS-Krieges gegen die Sowjetunion und des Holocausts, die die Verbrechen der Wehrmacht und der osteuropäischen faschistischen Verbündeten des Nationalsozialismus systematisch herunterspielt und relativiert.

Es gibt kein einziges neu entdecktes historisches Dokument, das Snyder anführen kann, um seine ungeheuren Behauptungen zu untermauern. Ungeachtet seiner großspurigen Behauptungen über seine „Sprachkenntnisse“ und den angeblich „empirischen Charakter“ seines Buches spricht nichts dafür, dass er selbst tiefgehend für sein Buch recherchiert hat. Seine Darstellung beruht nicht auf der wirklichen Geschichte, sondern ist eine Fälschung derselben.

Die Bücher, auf die sich Snyder bezieht, um seine Behauptungen zu „untermauern“, gehören größtenteils zwei Kategorien an. Entweder stammen sie (1) von Autoren der politischen und intellektuellen Rechten und der extremen Rechten und liefern die Inspiration für Snyders zentrale Behauptungen, oder (2) es handelt sich um legitime wissenschaftliche Werke, deren Inhalt und Argumente Snyder ignoriert, verzerrt oder zurückweist, ohne dass seine Leser erfahren, was diese Forscher tatsächlich geschrieben haben. Diese Verzerrungen sind gewollt. Sie zielen darauf ab, die historischen Tatsachen über die Verbrechen des Stalinismus und Faschismus, die in den letzten Jahrzehnten dokumentiert wurden, zu revidieren und die Lügen und Propaganda der deutschen und osteuropäischen extremen Rechten zu legitimieren.

Timothy Snyder kann sich nicht auf Unwissenheit berufen. Er hat die Geschichte Osteuropas, insbesondere Polens und der Ukraine, drei Jahrzehnte lang studiert. Er ist mit der wichtigsten Literatur über die Verbrechen des Nationalsozialismus und seiner osteuropäischen Kollaborateure bestens vertraut. Gerade durch seine Arbeiten über die UPA und ihren Massenmord an den Polen in der Westukraine hat sich Snyder einen Namen auf dem Gebiet der Osteuropastudien gemacht.

Der britische Historiker Richard J. Evans kommentierte den wesentlichen politischen Inhalt von Ernst Noltes Relativierung der Verbrechen des Faschismus in den 1980er Jahren wie folgt:

... So versucht Nolte die Deutschen, die Nationalsozialisten, das Bürgertum und den Faschismus überhaupt zu rehabilitieren oder zumindest zu entschuldigen, indem er Hitlers Politik als eine Reaktion der Verteidigung auf die sowjetische und kommunistische Bedrohung hinstellt. Gewalt, meint er, kommt immer zuerst von der Linken. Der Nationalsozialismus sei im Grunde eine „gerechtfertigte Reaktion“ auf den Kommunismus gewesen, er sei bloß übers Ziel hinausgeschossen.[2]

Das trifft im Kern auch auf Snyders Bloodlands zu. Mit seiner Darstellung verharmlost und relativiert Snyder nicht nur die Verbrechen der deutschen Bourgeoisie, sondern auch die ihrer faschistischen und nationalistischen Verbündeten in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion. Sie zielt letztlich darauf ab, die versuchte nationalistische und faschistische Reaktion gegen die sozialistische Oktoberrevolution von 1917 zu legitimieren.

Die politischen und intellektuellen Implikationen dieser reaktionären Bestrebungen sind äußerst ernst und gefährlich. Die historische Lüge erfüllt, wie Leo Trotzki immer betonte, eine bestimmte politische und soziale Funktion. Die historischen Lügen von Bloodlands dienen heute vor allem dazu, erstens faschistische Kräfte zu stärken und zweitens den imperialistischen Krieg gegen Russland in der Ukraine, sowie allgemeiner den Drang zu einem weiteren Weltkrieg zu rechtfertigen.

Zunächst ist festzuhalten, dass das Erscheinen von Bloodlands im Jahr 2010 ein Markstein in den Bemühungen der internationalen Rechten war, die Verbrechen des Faschismus zu verharmlosen und zu rechtfertigen. Zweifelsohne waren Herausgabe und Vermarktung des Buches gut geplant und großzügig finanziert. Inzwischen ist es in mehr als 30 Sprachen übersetzt worden und wurde, was niemanden überraschen wird, in Polen und der Ukraine, aber auch in den USA, Deutschland und vielen anderen Ländern mit Preisen überhäuft. Reaktionäre Kreise haben richtig erkannt, dass Bloodlands einen Durchbruch bedeutete, die historischen Lügen der extremen Rechten über das 20. Jahrhundert zu rehabilitieren und ihnen Glaubwürdigkeit in akademischen Kreisen zu verleihen.

So begrüßte der rechtsextreme Professor Jörg Baberowski von der Berliner Humboldt-Universität begeistert die Veröffentlichung von Bloodlands und schrieb: „Vor 20 Jahren wäre das noch undenkbar gewesen: dass ein Historiker die Mordexzesse und Vernichtungsstrategien der Nationalsozialisten mit den Bluttaten der Bolschewiki in einer Geschichte miteinander verbindet.“

Screenshot eines Artikels über Jörg Baberowski auf der amerikanischen faschistischen Website The Daily Stormer

Im Februar 2014 erklärte Baberowski: „Nolte wurde Unrecht getan. Historisch gesehen hatte er recht... Natürlich war Hitler nicht unbeeinflusst von dem, was er über den russischen Bürgerkrieg und den Stalinismus wusste. Hitler war kein Psychopath, und er war nicht bösartig... Stalin hingegen freute sich, die Todeslisten zu ergänzen und abzusegnen. Er war bösartig. Er war ein Psychopath.“[3]

Auch ist der Hinweis angebracht, dass Snyder vor allem seit Ausbruch des Ukrainekrieges häufig in den deutschen Medien schreibt, um den Historikerstreit ins Lächerliche zu ziehen und die deutsche herrschende Klasse, die das größte Aufrüstungsprogramm seit dem Untergang des Dritten Reichs in Angriff genommen hat, zu einer noch stärkeren Beteiligung am imperialistischen Stellvertreterkrieg in der Ukraine zu drängen.

Zweitens haben das Buch und seine verlogenen Behauptungen über einen angeblichen „sowjetischen Völkermord“ an der ukrainischen Bevölkerung sowie die systematische Schönfärberei des ukrainischen Faschismus eine zentrale Rolle in der Kriegspropaganda der Nato gespielt, zunächst im Zusammenhang mit dem vom Imperialismus unterstützten rechtsextremen Putsch in Kiew im Jahr 2014 und jetzt im imperialistischen Stellvertreterkrieg gegen Russland.

Bereits 2014 schrieb David North in einem Kommentar zur Rolle von Intellektuellen wie Timothy Snyder bei der Förderung der imperialistischen Propaganda: „In den Schriften Timothy Snyders tritt uns eine wissenschaftsfeindliche und gefährliche Tendenz entgegen: die Verwischung des Unterschieds zwischen Geschichtsschreibung und der Fabrikation von Propaganda im Dienst des Staates.“ (Hervorhebung im Original)

Soldaten des Asow-Bataillons mit Nazi-Flagge [Photo by Heltsumani / CC BY-SA 4.0]

Wütende antirussische Threads, impressionistische Behauptungen über „russischen Faschismus“, leichtfertige Tweets über einen angeblichen „Hungerplan“ Putins, bis hin zu Snyders Verschleierung der Rolle der Rechtsextremen in der heutigen Ukraine: Die Relativierung und Verharmlosung der Verbrechen des Faschismus und insbesondere der Organisation Ukrainischer Nationalisten ist heute der ideologische Kitt für das Bündnis des amerikanischen Staatsapparats und der Demokratischen Partei mit faschistischen Kräften wie dem Asow-Bataillon in der Ukraine. Die führenden der Demokratischen Partei nahestehenden Medien verbreiten Snyders Propaganda und auch der Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO, der tief in die Kriegsanstrengungen des US-Imperialismus verwickelt ist, verbreitet sie unter Millionen Arbeitern. Vor allem die American Federation of Teachers (AFT) hat für Snyder geworben, auf ihrem Kongress 2022 hielt er sogar eine Rede.

Es muss klar gesagt werden, dass Snyder, der sein Ansehen als Geschichtsprofessor an der Yale University bewusst ausnutzt, nicht als Historiker wirkt, sondern als Propagandist des US‑Imperialismus.

Timothy Snyder spricht auf dem Kongress der American Federation of Teachers 2022

Seriöse und gewissenhafte Historiker verstehen ihre Arbeit als wissenschaftliche Aufgabe, aber auch als Herausforderung des Status quo und der Herrschenden. Vor allem Historiker, die sich mit Nazi-Deutschland, der Sowjetunion und Osteuropa beschäftigen, sehen sich häufig erheblichem Druck seitens der politischen Rechten ausgesetzt, bis hin zu Drohungen und sogar körperlichen Angriffen. Oft müssen sie viel Zeit und Ressourcen aufwenden, um Zugang zu wichtigen, staatlich kontrollierten Archivmaterialien zu erhalten.

Viele der bahnbrechenden historischen Werke über die Verbrechen des Faschismus und Stalinismus – darunter Raul Hilbergs wegweisendes Buch Die Vernichtung der europäischen Juden, die erste umfassende Studie über den Holocaust, sowie die erste Geschichte der sowjetischen Linken Opposition von Wadim Rogowin (um nur zwei Beispiele zu nennen) – wurden unter großem persönlichem Aufwand, mit wenig bis gar keinem materiellen Gewinn und in bewusster intellektueller Opposition zum vorherrschenden politischen und kulturellen Klima geschrieben.

Trotz unterschiedlicher politischer Auffassungen war die Arbeit dieser Historiker letztlich von der Einsicht getragen, dass die Geschichte eine Wissenschaft ist, die wichtig für den Fortschritt der Gesellschaft ist, und um eine Wiederholung der Schrecken der Vergangenheit zu verhindern.

Timothy Snyder repräsentiert etwas ganz anderes. Er ist ein „Staatswissenschaftler“, dessen politische und intellektuelle Einstellung sich vor allem durch Zynismus, Opportunismus und Nibelungentreue zum amerikanischen Staat und seiner Kriegsmaschinerie auszeichnet.

Wenn es in Snyders Karriere in den letzten dreißig Jahren eine Konstante gab, dann seine Orientierung am und Verbindung zum amerikanischen Staatsapparat. Snyder studierte in den letzten Jahren der Sowjetunion an der Brown University, wo ihn der damalige US-Botschafter in Polen – Thomas W. Simons Jr, der tief in die Restauration des Kapitalismus verstrickt war – lehrte, „das Unterfangen ‚Geschichte‘ zu lieben“[4].

Anschließend schrieb er seine Dissertation an der Universität Oxford – eine Studie über den polnischen Frühsozialisten Kazimierz Kelles-Krauz – unter der Anleitung des berüchtigten antikommunistischen und antimarxistischen polnischen Philosophen Leszek Kołakowski. Sein anderer Mentor in Oxford war Timothy Garton Ash, der bald zu einem der prominentesten Sprachrohre des britischen und amerikanischen Imperialismus und ihrer Interventionen in Osteuropa werden sollte. In den folgenden Jahren erforschte Snyder weiterhin ernsthaft die Geschichte Polens und der Ukraine. Er tat dies aber immer im Rahmen von Institutionen und in Zusammenarbeit mit Personen, die eng mit dem amerikanischen Staat verbunden waren.

Seit 1996 arbeitet er mit dem Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen zusammen, das in den frühen 1980er Jahren von antikommunistischen polnischen Intellektuellen mit finanzieller Unterstützung der USA gegründet wurde. (Dieses Institut ist zur Drehscheibe für die Vernetzung von rechten Intellektuellen in Mittel- und Osteuropa geworden. 2021 bot es der ehemaligen Pressesprecherin des neonazistischen Asow-Bataillons, Olena Semenyaka, ein Stipendium an).

1997 wurde Snyder vom Olin Institute for Strategic Studies an der Harvard University ein Zuschuss gewährt, um an seinem Buch Reconstruction of Nations zu arbeiten. Das Institut ist eine der vielen „Forschungsaußenstellen“ des Außenministeriums und der CIA an US-amerikanischen Hochschulen.

Es vergibt Post-Doc-Stipendien an Personen, die „im großen Bereich Sicherheit und strategische Fragen“ arbeiten, insbesondere „zu den Ursachen und der Führung von Kriegen, der Militärstrategie und -geschichte, zur Verteidigungspolitik und zu Verteidigungsinstitutionen, zivil-militärischen Beziehungen und dazu, wie die Vereinigten Staaten und andere Gesellschaften ihre Sicherheit in einer gefährlichen Welt gewährleisten können“.

Ab den späten 1990er und in den ersten 2000er Jahren, als die Nato nach Osteuropa expandierte, lag der Schwerpunkt von Snyders Arbeit auf der Analyse der Kräfte, die am sogenannten Intermarium-Bündnis der 1920er und 1930er Jahre beteiligt waren. Unter der Führung des polnischen nationalistischen Diktators Józef Piłsudski sollte sich das Intermarium vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer erstrecken und in der Region als Bollwerk des Imperialismus dienen. Das Bündnis war vor allem gegen die Sowjetunion gerichtet, und seine vorrangige Strategie zur Schwächung der UdSSR bestand darin, die ultranationalistischen Kräfte zu stärken, die im Bürgerkrieg die Bolschewiki bekämpft hatten. In seinen Büchern Reconstruction of Nations (2004) und Sketches from a Secret War (2007) zeichnet Snyder die Geschichte dieser Operationen in den 1920er und 1930er Jahren in Polen und der Ukraine nach und zeigt, wie sie wieder aufgenommen wurden, als die stalinistische Bürokratie in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren den Kapitalismus restaurierte.

Snyders offensichtliche Faszination für Geheimdienste, staatsnahe Intellektuelle und extremen Nationalismus waren der Antrieb für sein Buch über Erzherzog Wilhelm von Habsburg – einen der letzten Prinzen der Dynastie der Habsburger – der, getrieben vom Hass auf den Sozialismus, in Snyders eigenen Worten, als „aristokratischer Faschist“ endete. Wilhelm wurde zum Bewunderer Hitlers und glühenden Unterstützer der OUN und der UPA, bevor er schließlich in die Welt der US-amerikanischen und britischen Geheimdienste eintauchte.[5] (Im Januar 2022 bezeichnete Snyder diesen „aristokratischen Faschisten“ auf seinem Blog als Vorbild dafür, wie man die Ukraine heute „unterstützen“ sollte.)

Aber schon 2010, kurz vor dem Erscheinen von Bloodlands, schrieb Snyder einen Aufsatz für die New York Review of Books, in dem er die unverhohlene Verherrlichung des OUN-Führers Stepan Bandera in der Ukraine anprangerte.[6] Mit Bloodlands hat er alle seine früheren Recherchen und, wie man hinzufügen muss, auch seine Glaubwürdigkeit als Historiker endgültig über Bord geworfen. Wenn es überhaupt eine Kontinuität zu seinen früheren Schriften gibt, dann ist es seine Besessenheit von den Regionen, die in der Strategie des Intermarium eine Rolle spielten und sich weitgehend mit seinen ansonsten willkürlich definierten „Bloodlands“ decken. Alles an dem Buch deutet darauf hin, dass seine politischen Ziele und historischen Behauptungen bereits feststanden, bevor die „Quellen“ zu ihrer „Untermauerung“ hinzugefügt wurden.

Tatsächlich sind die Fehler so eklatant und die Bemühungen, die Nolte-These und andere Behauptungen der osteuropäischen extremen Rechten zu rehabilitieren, so dreist, dass Timothy Snyders Ruf als Historiker damit zerstört sein müsste. Doch das ist nicht der Fall.

Zwar haben mehrere bedeutende Historiker, allen voran Omer Bartov, Richard J. Evans und Jürgen Zarusky, vernichtende Rezensionen veröffentlicht, in denen sie insbesondere Snyders Verharmlosung der faschistischen Kollaborateure der Nazis in Osteuropa und seine Verharmlosung des Krieges der Nazis gegen die Sowjetunion zurückweisen.[7] Auffallend ist jedoch, dass selbst sie sich kaum mit seinen maßlosen Angriffen auf die Oktoberrevolution auseinandersetzten und die falsche Gleichsetzung von Stalinismus und Kommunismus praktisch akzeptieren. Auch hat keiner von ihnen die Rehabilitierung von Ernst Nolte und andere Tendenzen des rechten Geschichtsrevisionismus, die eindeutig im Mittelpunkt von Bloodlands stehen, offen angesprochen. Die Neuauflage von Bloodlands inmitten des imperialistischen Stellvertreterkriegs gegen Russland in der Ukraine wurde mit fast ohrenbetäubendem Schweigen aufgenommen.

Bestimmt kann dieses Schweigen weitgehend auf intellektuelle Selbstgefälligkeit und sogar Feigheit zurückgeführt werden. In den höheren Kreisen des akademischen Milieus sind die finanziellen und politischen Verlockungen des Staates nur an wenigen spurlos vorübergegangen. Und es gibt die Angst um das, was einer Schicht der oberen Mittelschicht wichtiger ist als alles andere: die eigene Karriere.

Aber nicht jeden treiben egoistische Interessen und Gleichgültigkeit gegenüber der historischen Wahrheit an. Tatsächlich hat die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten wichtige Fortschritte bei der Erforschung der Verbrechen des Nationalsozialismus und auch des Stalinismus gemacht. Wie in dieser Rezension betont wurde, besteht ein Hauptziel von Snyders Buch darin, diese Wissenschaft zu fälschen, zu diskreditieren und zu untergraben. Doch selbst die Historiker, deren Arbeit Snyder tatsächlich angreift und fälscht, haben bis heute mehrheitlich geschwiegen.

Letztendlich kann das Bloodlands-Phänomen nur verstanden werden als ein Ergebnis intellektuellen Niedergangs, die Folge der Zerstörung der Sowjetunion und der Restauration des Kapitalismus in ganz Osteuropa durch die stalinistischen Bürokratien und der darauffolgenden imperialistischen Reaktion.

Bürgerliche Experten riefen nach dem Zusammenbruch des Stalinismus das „Ende der Geschichte“ aus. Eine große Schicht der kleinbürgerlichen Ex-Linken, die sich auf die eine oder andere Weise an den stalinistischen Bürokratien orientiert hatte, nutzte den Zusammenbruch des Stalinismus, um das „Ende des Sozialismus“ zu verkünden und jede Verbindung zum Kampf für Fortschritt überhaupt abzubrechen.

Dieser politische Rechtsruck fand seinen ideologischen Ausdruck in der Dominanz der Postmoderne und ihrer Ablehnung von Wissenschaft und historischer Wahrheit. Jahrzehntelang prägten Antimarxismus, Irrationalismus und die Förderung von Rassen- und anderen Formen der Identitätspolitik die dominanten Strömungen an den Universitäten. Man muss betonen, dass Snyder, während er der Rehabilitierung Noltes und des ukrainischen Faschismus das Wort redet, sich gleichzeitig für Identitätspolitik stark gemacht hat, auch für die rassenideologisch gefärbte Geschichtsfälschung im 1619-Projekt der New York Times.

Diesen politischen und ideologischen Verschiebungen liegen wichtige Klassenentwicklungen zugrunde. Während die Arbeiterklasse durch einen jahrzehntelangen Angriff der Bourgeoisie auf ihren Lebensstandard verarmte und der US-Imperialismus einen verbrecherischen Angriffskrieg nach dem anderen führte, konnten Teile der Mittelschicht, vor allem diejenigen, die man häufig mit der „Linken“ assoziiert, lukrative Karrieren in der Wissenschaft machen, indem sie Verbindungen zur herrschenden Klasse pflegten und sich in den Staatsapparat integrierten.

In diesem Klima haben selbst die Historiker, die ernsthaft geforscht haben, in ihrer Arbeit weitgehend ohne soziale und politische Achse und Kompass gearbeitet.

Die Tatsache, dass ein Werk wie Bloodlands über ein Jahrzehnt lang in die akademische Welt und in die Öffentlichkeit hineinwirken konnte, ist eine ernste Warnung und spricht für die dringende Notwendigkeit einer grundlegenden politischen und sozialen Neuorientierung. Auf dem Spiel stehen fundamentale Prinzipien und Errungenschaften des historischen Fortschritts und der Wissenschaft.

Die historischen Lügen und Verfälschungen in Bloodlands dienen nicht nur der Rehabilitierung des Faschismus und der Vorbereitung eines neuen imperialistischen Weltkriegs. Sie stellen auch einen Frontalangriff auf das historische Bewusstsein und das Konzept von Geschichte als Wissenschaft dar.

Die Entwicklung der Geschichtsschreibung zu einer Wissenschaft war eine der großen intellektuellen Fortschritte der Menschheit in den letzten 250 Jahren. Die Grundlage dafür legte vor allem die Aufklärung. Gab es vorher keine klaren Grenzen zwischen Geschichtsschreibung und dem Schreiben einer Geschichte, so wurde durch die Entwicklung der empirischen Forschung – einschließlich der Statistik und der Analyse historischer Dokumente – die Geschichtsschreibung mehr als nur das Schreiben einer Geschichte. Sie stützte sich nun auf überprüfbare, objektive Belege und konnte so weiterentwickelt und, wenn nötig, überarbeitet und korrigiert werden.

Die Ausarbeitung des historischen Materialismus durch Marx und Engels in der Mitte des 19. Jahrhunderts stellte einen qualitativen Fortschritt gegenüber dem empirischen Herangehen an die Geschichte dar, das die großen Historiker der frühen bürgerlichen Periode vertreten hatten. Historiker konnten die geschichtlichen Tatsachen nun nicht mehr nur feststellen und untersuchen, sie konnten auch die innere Logik und die objektiven Gesetze, die den Klassenkampf antreiben, aufdecken. Im Gegensatz zu einem rein empirischen Geschichtsverständnis ermöglicht es der historische Materialismus außerdem, die komplexe Wechselwirkung zwischen dem „Subjektiven“ – den Entscheidungen und Handlungen von Individuen, politischen Tendenzen und sogar Klassen – und dem „Objektiven“ – den allgemeinen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungen – zu analysieren und zu verstehen.

Der Marxismus versucht immer, in Engels’ berühmten Worten „die Motive hinter den Motiven“ aufzudecken, d. h. die objektiven Tendenzen, die hinter den Handlungen und Entscheidungen historischer Persönlichkeiten und auch Klassen stehen. Gleichzeitig ermöglicht und verlangt er ein Verständnis der Auswirkungen, die Programme, Parteien und Individuen als Vertreter bestimmter widerstreitender Klassenkräfte auf den Verlauf der historischen Entwicklung haben. Ohne einen solchen Ansatz kann man die komplexe Dynamik des Klassenkampfes, der sozialen Revolution im 20. Jahrhundert und die Entstehung von Phänomenen wie dem Stalinismus kaum verstehen.

Diese Herangehensweise steht überhaupt nicht im Gegensatz zu historischer Objektivität. Ganz im Gegenteil. In seiner bis heute unübertroffenen Geschichte der Russischen Revolution beschrieb Leo Trotzki die Aufgaben historischer Objektivität wie folgt:

Der ernste und kritische Leser bedarf keiner verlogenen Unvoreingenommenheit, die ihm den Kelch der Versöhnung, mit gut abgestandenem Gift reaktionären Hasses auf dem Boden, darbietet, sondern der methodischen Gewissenhaftigkeit, die für ihre offenen, unverschleierten Sympathien und Antipathien eine Stütze in ehrlicher Erforschung der Tatsachen sucht, in der Feststellung ihres wirklichen Zusammenhanges, in der Aufdeckung der Gesetzmäßigkeit ihrer Folge. Das ist die einzig mögliche historische Objektivität und dabei eine völlig ausreichende, denn sie wird überprüft und bestätigt nicht durch die guten Absichten des Historikers, für die obendrein er selbst einsteht, sondern durch die von ihm aufgedeckte Gesetzmäßigkeit des historischen Prozesses selbst.[8]

Doch unabhängig von der jeweiligen Methode und politischen Einstellung eines Historikers muss er unbedingt die wissenschaftlichen Standards einhalten, die sich in der über 200-jährigen Geschichte dieser Disziplin etabliert haben. Jede historische Studie, die diesen Namen verdient, muss sich letztlich daran messen lassen, inwieweit sie unser Verständnis sowohl für die Fakten der Geschichte als auch für die ihrer Entwicklung zugrunde liegenden Gesetze bereichert. Die Quellen und Fakten müssen den Regeln entsprechend angegeben werden und nachprüfbar sein, die bisherigen Erkenntnisse der Forschung müssen gebührend berücksichtigt werden, und die Historiker müssen durch eigenständige Forschung darauf hinarbeiten, unser Verständnis davon zu vertiefen, was, wie und warum etwas in der Geschichte geschah. Bloodlands ist ein Angriff und ein Hohn auf all diese grundlegenden Prinzipien der Geschichtsforschung und -wissenschaft.

Es muss angemerkt werden, dass vor 1991 sogar antikommunistische Historiker, so feindselig sie auch dem Marxismus gegenüberstanden, versucht haben, die umfassendere soziale, politische und wirtschaftliche Dynamik zu ergründen, die zur russischen Revolution führte und sich in der Folgezeit entfaltete. Doch nach 1991 änderte sich der Ton in der akademischen Welt dramatisch. Professoren an einigen der bekanntesten Universitäten – darunter Richard Pipes an der Harvard University, Ian Thatcher und Geoffrey Swain an der University of Glasgow und Robert Service an der Oxford University – führten grobschlächtige Attacken, zunächst gegen die Oktoberrevolution, aber zunehmend auch gegen die Person Leo Trotzkis. Die postsowjetische Schule der Geschichtsfälschung machte eine giftige Mischung aus Antikommunismus und den alten Lügen und Verleumdungen der stalinistischen Bürokratie gegen Trotzki und die linke Opposition zum „legitimen“ Teil des wissenschaftlichen „Diskurses“.

Von wenigen löblichen Ausnahmen abgesehen, beantworteten die meisten Akademiker David Norths vernichtende Kritik an Historikern, die die Oktoberrevolution und vor allem das Leben und Wirken von Leo Trotzki hemmungslos angegriffen und verfälscht hatten, vor allem mit Gleichgültigkeit und Schweigen.[9] Diese Akzeptanz dreister Geschichtslügen, mit denen politische Interessen bedient werden, hat einen gefährlichen Präzedenzfall für eine laxe Haltung gegenüber Angriffen auf die historische Wahrheit geschaffen. Mit Snyder und Baberowski hat sich diese Schule der postsowjetischen Geschichtsfälschung nun zu einem ausgewachsenen Versuch entwickelt, den Faschismus zu rehabilitieren. Doch ihre Bemühungen werden scheitern.

Die Periode der sozialen und politischen Reaktion, die die vorübergehende Dominanz der historischen Lüge im sozialen, politischen und kulturellen Leben ermöglichte, kommt jetzt an ihr Ende. Die vergifteten und reaktionären Strömungen der Postmoderne, der Identitätspolitik und der Rehabilitierung des Faschismus werden durch die sich abzeichnende explosive Entwicklung des Klassenkampfes unvermeidlich herausgefordert und unterminiert. Der Ausbruch einer offenen Konfrontation zwischen den imperialistischen Mächten und Russland in der Ukraine markiert nicht nur den Prolog eines neuen Weltenbrandes, sondern auch eine neue Stufe in der Entwicklung der sozialistischen Weltrevolution.

Die Rückkehr der internationalen Arbeiterklasse auf die Bühne der Geschichte wird die objektiven Bedingungen schaffen, um die Luft von dem ideologischen Schmutz und den vergifteten Geschichtslügen zu reinigen, die Snyder und Konsorten verbreiten.

Dieser längst überfällige Prozess erfordert jedoch eine bewusste Anstrengung. Es ist höchste Zeit, dass seriöse Historiker, junge Menschen und Studierende die historischen Lügen und den Angriff auf die Geschichte, den dieses Buch darstellt, zurückweisen und für die Verteidigung der historischen Wahrheit über die wichtigsten Erfahrungen der Menschheit kämpfen.

Dafür ist es notwendig, mit den politischen und ideologischen Strömungen, die die akademische Welt in den letzten Jahrzehnten dominiert haben, entschieden abzurechnen. Es erfordert ein ernsthaftes Studium der Geschichte der revolutionären marxistischen Bewegung und die Hinwendung zur Arbeiterklasse – der sozialen und politischen Basis für den Kampf gegen imperialistischen Krieg und für gesellschaftlichen Fortschritt.

Ende


[1]

Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Einleitung. URL: https://www.marxists.org/reference/archive/hegel/works/hi/history2.htm

[2]

Richard J. Evans, Im Schatten Hitlers? edition suhrkamp, 1991, S. 46)

[3]

Jörg Baberowski „Hitler und Stalin: In verwüstetem Land“. Zeit Online. 26. Juli 2011. http://www.zeit.de/2011/29/L-Snyder-Bloodlands. Die Zitate von Barberowski stammen aus, Dirk Kurbjuweit, „Schuldfrage spaltet Historiker heute“, Spiegel Online, 14. Februar 2014. URL: https://www.spiegel.de/international/world/questions-of-culpability-in-wwi-still-divide-german-historians-a-953173.html Eine gründliche Analyse der Geschichtslügen von Jörg Baberowski, siehe: Christoph Vandreier, „Jörg Baberowskis Geschichtsfälschung“, World Socialist Web Site, 5. Dezember 2016, URL: https://www.wsws.org/en/articles/2016/12/05/sowj-d05.html

[4]

Timothy Snyder, Nationalism, Marxism and Modern Central Europe, A Biography of Kazimierz Kelles-Krauz (1872-1905), Harvard Papers in Ukrainian Studies 2017, S. xv.

[5]

Timothy Snyder,Red Prince: The Secret Life of a Habsburg Archduke, Vintage 2009 [dt.: Der König der Ukraine. Die geheimen Leben des Wilhelm von Habsburg. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Hilzensauer. Zsolnay, Wien 2009, ISBN 978-3-552-05478-3].

[6]

Timothy Snyder, „Ein faschistischer Held in der demokratischen Ukraine“, New York Review of Books, 24. Februar 2010. URL: https://www.nybooks.com/daily/2010/02/24/a-fascist-hero-in-democratic-kiev/

[7]

Zu den seriösesten und vernichtenden Kritiken von Bloodlands gehören Jürgen Zarusky, „Timothy Snyders „Bloodlands“, Kritische Anmerkungen zur Konstruktion einer Geschichtslandschaft“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Jahrgang 60 (2012), Heft 1, S. 1-31. Hier online verfügbar. Omer Bartov, „Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin. Von Timothy Snyder,“ in: Slavic Review, Vol. 70, Issue 2, Summer 2011, S. 424-428; Richard J. Evans, „Who Remembers the Poles?“, in: London Review of Books, Vol. 32, Nr. 21, 4. November 2010.

[8]

Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution. Vorwort. URL: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/b1-vorwo.htm

[9]

Eine bemerkenswerte Ausnahme von diesem Schweigen waren 14 deutsche Historiker, die auf Basis der Kritik von David North gegen die deutsche Ausgabe der Trotzki-Biografie von Robert Service protestierten. Siehe: „Brief an den Suhrkamp Verlag“, World Socialist Web Site, 19. November 2011, URL: https://www.wsws.org/de/articles/2011/11/brie-n19.html. Die wichtigsten Dokumente dieses Kampfes sind David Norths Verteidigung Leo Trotzkis (Mehring Verlag, 2013), Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert (Mehring Books, 2014) sowie die Bände über die Geschichte der Linken Opposition und den stalinistischen Terror von Wadim Rogowin.

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