In ganz Norwegen haben vom Sonntag bis Donnerstag rund 24.000 Beschäftigte der Transport-, Energie- und Baubranche, der Lebensmittel- und Getränkeindustrie und des Fährbetriebs an einem Lohnstreik teilgenommen. Gleichzeitig traten am Montag 150 Lokführer in Stockholm für drei Tage in einen spontanen Streik.
In Norwegen hatten der größte Gewerkschaftsdachverband Landesorganisasjonen (LO) und der kleinere Verband der Berufsgewerkschaften (YS) zu dem Streik aufgerufen, nachdem Gespräche über einen Versuch der Arbeitgeberorganisation (NHO), Lohnerhöhungen unterhalb der Inflationsrate durchzusetzen, gescheitert waren.
Zuletzt haben die Gewerkschaftsverbände jedoch am Donnerstagnachmittag (LO) und Abend (YS) einem wenig veränderten Angebot zugestimmt und den Streik für beendet erklärt. Das Abkommen, auf das sich die Gewerkschaften nun mit dem Arbeitgeberverband geeinigt haben, beläuft sich insgesamt auf 5,2 Prozent. Die Gewerkschaftsführung brüstet sich damit, einen „historisch hohen Abschluss“ erreicht zu haben, doch das ist reine Augenwischerei. Finanzexperten weisen darauf hin, dass auch die Inflation „historisch hoch“ sei. Die Inflation wird insbesondere durch die Bereiche Energie und Nahrungsmittel stark angetrieben und betrug im März 2023 im Vergleich zum Vorjahres-März 6,5 Prozent. Das Abkommen kommt somit einer deutlichen Reallohnsenkung gleich.
Ein Streik, wie er in dieser Woche stattgefunden hat, ist in Norwegen selten. Betriebe sind bestreikt worden, in denen es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs keinen Streik mehr gab.
Seit Jahrzehnten unterhält das Land umfassende korporatistische Beziehungen zwischen den Gewerkschaften, den Unternehmern und dem Staat, um den Klassenkampf zu unterdrücken. Der letzte größere Streik der LO liegt schon über zwei Jahrzehnte zurück, als 86.000 Beschäftigte im Jahr 2000 die Arbeit niederlegten.
Bei den Verhandlungen ging es um die Halbzeitanpassung der zentral verhandelten Tarifverträge, die in der Regel eine Laufzeit von zwei Jahren haben. Die Gewerkschaften sahen sich gezwungen, den Vorschlag des Schlichters am 16. April abzulehnen, um dem Druck der Beschäftigten nach höheren Lohnerhöhungen Rechnung zu tragen. Nie zuvor war es in Halbzeitverhandlungen zu Streiks gekommen. Aber die Wut der Beschäftigten hatte sich nicht zuletzt an den massiven Gehaltserhöhungen für Spitzenmanager entzündet: In der Industrie hatten 3.100 Top-Manager letztes Jahr durchschnittliche Gehaltserhöhungen von 9,6 Prozent erhalten. Im profitablen Öl- und Gassektor lagen die Gehaltserhöhungen für Direktoren sogar bei unverschämten 21 Prozent.
Die Tatsache, dass die Gewerkschaften sich gezwungen sahen, den Streik auszurufen und noch auszuweiten, unterstreicht, dass der Klassenfrieden auch in Norwegen bröckelt. Seit dem zweiten Weltkrieg war es lange Zeit möglich, den Klassenkampf zu unterdrücken und über zentralisierte Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmern den Arbeitern relativ großzügige Löhne und Leistungen zu gewähren. Die Grundlage dieser Politik bildete Norwegens großer Öl- und Gasreichtum, während die unangefochtene Hegemonie des US-Imperialismus die wirtschaftliche Stabilität absicherte. Diese Sicherheit ist jedoch vorbei.
Der US-Nato-Krieg gegen Russland hat Norwegen und die anderen nordeuropäischen Länder zu Frontstaaten der Imperialisten gemacht, die Russland auf den Status einer Halbkolonie reduzieren wollen. Norwegen erlebt derzeit eine enorme Ausweitung der US-Militäraktivitäten, insbesondere im hohen Norden des Landes, wo es eine relativ kurze, 196 Kilometer lange Grenze zu Russland hat. Auch Finnland und Schweden werden rasch in die Nato integriert. Immer mehr Streitkräfte der USA und der europäischen imperialistischen Mächte werden seither in der gesamten nördlichen Region stationiert.
Die umfassenden Wirtschaftssanktionen, die die westlichen Mächte gegen Russland verhängen, haben Norwegen zu einem immer wichtigeren Akteur auf den europäischen Energiemärkten gemacht. Seine Erdöl- und Erdgaslieferungen an Deutschland und andere große Volkswirtschaften haben stark zugenommen. Die Regierung hat im Juli 2022 den ungewöhnlichen Schritt unternommen, einen Streik der Ölarbeiter zu verbieten, da sie befürchtete, dass die Fortsetzung des Streiks die norwegischen Energielieferungen nach Europa gefährden und die Kriegsanstrengungen behindern könnte. Das Verbot, das kurz nach einem Besuch von Wirtschaftsminister Robert Habeck in Oslo erfolgte, stützte sich auf die Gewerkschaften, die es durchsetzten, da auch sie die Waffenlieferungen an die Ukraine billigen.
Während die norwegische Koalitionsregierung aus Arbeiderpartiet (Sozialdemokraten) und Senterpartiet (Zentrumspartei) von der arbeitenden Bevölkerung verlangt, die Lasten der Inflation und des Krieges gegen Russland zu tragen, hat sie kein Problem damit, den Militärhaushalt massiv aufzustocken. Der Verteidigungsminister von der Senterpartiet, Bjørn Arild Gram, kündigte für den Haushalt 2023 eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben um 6,7 Milliarden norwegische Kronen (580 Millionen Euro) an, was einer Steigerung von etwa 9 Prozent gegenüber dem Haushalt 2022 entspricht. Erhebliche Investitionen werden im hohen Norden getätigt, wo dem US-Militär zu bestimmten Regionen ungehinderter Zugang gewährt wird. Eine massive, gegen Russland gerichtete militärische Aufrüstung ist weit fortgeschritten.
In ganz Skandinavien ist ein ähnlicher Prozess im Gange. So hat sich im Nachbarland Schweden die rechtsgerichtete Koalitionsregierung von Ministerpräsident Ulf Kristersson verpflichtet, die Militärausgaben bis 2028 um über 60 Prozent zu steigern. Kristersson stützt sich für seine parlamentarische Mehrheit auf die faschistischen Schwedendemokraten.
In dieser Woche begann in Schweden die größte Militärübung seit 30 Jahren. 26 000 Soldaten aus 14 Ländern üben ein Szenario, bei dem das Land von einem äußeren Feind angegriffen wird. Unterdessen steigt die soziale Ungleichheit sprunghaft an, denn die jahrelangen Sparmaßnahmen bei den öffentlichen Ausgaben, Privatisierungen und Steuersenkungen zugunsten der Reichen fordern ihren Tribut.
Dies schafft die Voraussetzungen für eine rasche Verschärfung des Klassenkampfs. Am Montag sind in Stockholm 150 Lokführer in einen spontanen, dreitägigen Streik getreten. Sie protestieren gegen die Entscheidung der Stockholmer Verkehrsbehörde SL, die Schaffner, die zur Sicherheit in den Nahverkehrszügen der Region noch mitfahren, zu streichen. Der Streik wurde auf einer Versammlung von 150 Lokführern beschlossen, und zwar gegen den ausdrücklichen Willen der Gewerkschaft Seko, die ihre Mitglieder aufgefordert hatte, sich nicht daran zu beteiligen.
Über diese Anordnung haben sich die Lokführer hinweggesetzt. So hielten sie am Montag ab 3 Uhr morgens die meisten Nahverkehrszüge an. Von 199 Zügen, die zwischen 9 und 16 Uhr verkehren sollten, fielen am ersten Streiktag 127 aus. Am dritten und letzten Tag des Streiks fielen am Mittwoch zwischen 80 und 90 Prozent aller Züge aus.
Trotz der Unannehmlichkeiten für die Pendler fand die Aktion der Lokführer große öffentliche Unterstützung. Ein Crowdfunding-Aufruf der Streikenden sammelte in nur 48 Stunden 500.000 schwedische Kronen (ca. 44.200 Euro) an Spenden. Zur Begründung ihres Streiks schrieben die Lokführer auf einer Facebook-Seite:
Wir glauben nicht, dass ein einziger Stockholmer in einem Zug sitzen möchte, wenn er weiß, dass nur eine verantwortliche Person an Bord ist, die im schlimmsten Fall bei einem Unfall von Anfang an außer Gefecht gesetzt sein könnte. Und das mit bis zu 1.800 Reisenden, die mitten im Wald und 20 km vom nächsten Bahnhof entfernt festsitzen könnten.
In dem Beitrag wurden Lokalpolitiker der Grünen, der Sozialdemokraten und der rechtsgerichteten Moderaten Partei für ihre verantwortungslose Beteiligung an der Einführung von Ein-Personen-Besatzungen in Pendlerzügen kritisiert. Die Lokalpolitiker haben sich damit gebrüstet, dass die Änderung 150 Millionen Kronen (13,2 Millionen Euro) an jährlichen kommunalen Ausgaben einsparen werde.
Der private Betreiber MTR, der die Züge im Auftrag von SL betreibt, verklagte die Fahrer am Dienstag vor dem schwedischen Arbeitsgericht. Das Unternehmen forderte von der Gewerkschaft Seko 100.000 Kronen (etwa 8.800 Euro) und von 74 Streikenden, deren Namen in der Klageschrift steht, jeweils mehr als 3.000 Kronen (270 Euro) Schadenersatz.
Der Aufschwung des Klassenkampfs in Nordeuropa ist Teil eines internationalen Prozesses. Am Freitag fanden Streiks an deutschen Flughäfen und im gesamten Schienennetz statt. Auch in Großbritannien haben ausgedehnte Streiks von Beschäftigten im Gesundheitswesen und bei der Post stattgefunden. In Frankreich kämpft die Arbeiterklasse seit drei Monaten mit Streiks und Protesten gegen die von Präsident Emmanuel Macron durchgesetzte Rentenkürzung.
Diese Kämpfe werden vom Bemühungen der herrschenden Klasse angetrieben, alle gesellschaftlichen Ressourcen dem imperialistischen Krieg gegen Russland unterzuordnen, während sie der arbeitenden Bevölkerung Lohn- und Leistungskürzungen, Sparmaßnahmen und Arbeitsplatzabbau zumuten.
Die streikenden Arbeiter in Norwegen und Schweden müssen sich an ihre internationalen Klassenbrüder und -schwestern wenden und Kontakt zur Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees aufnehmen, um gegen die prokapitalistischen und nationalistischen Gewerkschaften neue Kampforganisationen aufzubauen.
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