Die Streikwelle in Großbritannien wächst trotz aller Versuche der Gewerkschaftsbürokratie, sie unter Kontrolle zu bringen. Am letzten Donnerstag und Freitag streikten mehr als 200.000 Arbeiter.
Ein zweitägiger Streik von 115.000 Postbeschäftigten der Royal Mail, die von der Communication Workers Union (CWU) vertreten werden, fiel zusammen mit einem 48-stündigen Ausstand von 70.000 Beschäftigten aller Hochschuleinrichtungen und einem Streik von bis zu 50.000 Lehrkräften in Schottland. Alle drei Berufsgruppen planen weitere Streiktage, u.a. das Universitätspersonal und die Postbeschäftigten am 30. November und 1. Dezember. Am Freitag kündigte das Educational Institute of Scotland weitere 16 aufeinanderfolgende Streiktage im Januar und Februar an.
Bei Großbritanniens größtem Arbeitgeber, dem Nationalen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS), endete eine Urabstimmung unter 300.000 Mitgliedern der Pflegegewerkschaft Royal College of Nursing, mit der für nächsten Monat zwei Streiktage angesetzt wurden. Etwa eine halbe Million NHS-Beschäftigte der größten Gewerkschaft des britischen öffentlichen Dienstes, Unison, beendeten am Samstag ihre Urabstimmung. Auch in anderen Gewerkschaften des Gesundheitswesens finden Urabstimmungen statt, u.a. unter den 30.000 Mitgliedern des Hebammenverbands Royal College of Midwives. Die Gewerkschaft Unite schließt nächste Woche eine Abstimmung unter ihren Mitgliedern beim NHS ab. Zehntausende von Ärzten in der Ausbildung werden über Arbeitskämpfe im neuen Jahr abstimmen.
Die Transportgewerkschaft Rail, Maritime and Transport Union (RMT) hat für den Zeitraum vom 13. Dezember bis zum 7. Januar acht weitere landesweite Streiktage für ihre 40.000 Mitglieder bei Network Rail und den anderen Bahnverkehrsunternehmen angekündigt. Die Streiks von Tausenden Mitgliedern der Lokführergewerkschaft ASLEF dauern an. Am Samstag fand ihr fünfter landesweiter Streik in diesem Jahr statt.
Als Reaktion auf diese Eskalation des Klassenkampfs veröffentlichte die Times am Freitag einen besorgten Leitartikel mit der Überschrift „Alle im Streik“. Darin erklärte sie mit Blick auf die Streiks bei der Post und im Bildungswesen: „Wenn Großbritannien wirklich ein neuer Winter der Unzufriedenheit bevorsteht, hat er gestern richtig begonnen. Im ganzen Land haben Hunderttausende Beschäftigte Arbeitskämpfe begonnen, die den öffentlichen Dienst lahmlegen sollen...“
Der Leitartikel warnt: „Da die Inflation bei 11,1 Prozent liegt und kurzfristig kein Rückgang in Sicht ist, fordern die Arbeiter zwangsläufig, dass ihre schwindenden Reallöhne in einem vergleichbaren Ausmaß steigen. Alle Arbeitgeber im öffentlichen und privaten Sektor sind unausweichlich diesem Druck ihrer Arbeiter ausgesetzt.“
Die Zahl von 11,1 Prozent ist die niedrigste Schätzung für die Inflation. Der Einzelhandelspreisindex, der als genauerer Maßstab gilt, liegt bereits bei über 14 Prozent.
Die Times rät der konservativen Regierung, „die Minister sollten keinen Kompromiss“ in Bezug auf die Forderungen der Streikenden eingehen.
Wie es bei den Leitartiklern der herrschenden Elite üblich ist, versuchen sie Teile der Gewerkschaftsbürokratie als unvernünftig darzustellen. Mick Lynch von der RMT und Jo Grady von der UCU werden als „starrsinnige Gewerkschaftsführer“ dargestellt, die „im Großen und Ganzen nicht eingesehen haben, dass auch sie Kompromisse machen müssen“.
Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Sämtliche Streiks gehen weiter oder – wie im Bildungssektor und im NHS – beginnen überhaupt, obwohl die Gewerkschaften wochenlang mit der Regierung und den Arbeitgebern verhandeln und beide Seiten betonen, es sei weiterhin möglich, Streiks durch einen Deal zu verhindern.
Die Times selbst berichtete über die Verhandlungen zwischen der RMT und Verkehrsminister Mark Harper, der nun hofft, dass die Eisenbahnstreiks „vor Weihnachten beendet sein werden“.
Harper erklärte dreimal, es gäbe eine „gemeinsame Übereinkunft“, dass der Konflikt „schon zu lang andauere“ und dass „in diesem Prozess sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeber realistisch sind“.
RMT-Gewerkschafter Lynch selbst bezeichnete das Treffen als „produktiv“ und erklärte, er glaube, die Regierung sei „die aggressiven Monster losgeworden, die wir hatten“. Er sprach ebenfalls von einer „gemeinsamen Übereinkunft“, mit der „beide Seiten, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber, diesen Konflikt beenden können“.
Die Bürokratien in allen streikenden Gewerkschaften verlangen nur minimale Zugeständnisse, die sie ihren Mitgliedern als „Sieg“ verkaufen können. Wie fadenscheinig ihre Pläne sind, zeigten die Dokumente, die letzte Woche der pseudolinken Socialist Workers Party zugespielt wurden. Darin beschwert sich die RMT, dass die Tory-Regierung „sich weigert, den Eisenbahnergewerkschaften und den Bahnunternehmen Diskussionen [über einen Deal] zu erlauben... und direkt unsere Versuche behindert, eine Einigung zu erzielen“.
Die Vereinbarung, über die die RMT diskutieren will, sieht „eine Lohnerhöhung von vier Prozent in diesem Jahr, dann vier Prozent im nächsten Jahr und zusätzlich 500 Pfund“ vor, aber nur wenn „die Gewerkschaftsführer den Kürzungen zustimmen und sie durchsetzen“. Was die RMT will, zeigt ihre Einigung mit ScotRail, die eine fünfprozentige Erhöhung für ein Jahr sowie 750 Pfund Einmalzahlung vorsieht; als Gegenleistung akzeptiert die RMT neue Technologien und Kürzungen. Eine weitere Vereinbarung bei Transport for Wales besteht „aus einer Lohnerhöhung von nur 4,5 Prozent, die durch ,Produktivitätselemente‘ auf 6,6 steigen soll“.
Die Streiks im Vereinigten Königreich sind Teil einer wachsenden Welle von weltweiten Kämpfen. In ganz Europa finden in allen Bereichen Streiks statt, u.a. letzte Woche ein eintägiger landesweiter Streik für höhere Löhne im öffentlichen Dienst von Portugal und Arbeitsniederlegungen in französischen und niederländischen Ölraffinerien. Am Montag traten an den kalifornischen Universitäten 48.000 akademische Beschäftigte in einen Streik für höhere Löhne und Zusatzleistungen, um die Inflation auszugleichen. Daneben stimmten letzte Woche in den USA die Arbeiter einer vierten Eisenbahnergewerkschaft gegen den Ausverkauf des landesweiten Tarifkampfs, den das Weiße Haus ausgehandelt hatte.
Die Arbeiterklasse ist in allen Ländern mit einem Gewerkschaftsapparat aus gutbezahlten Bürokraten konfrontiert, der sich im Auftrag der Konzerne und des Staats die Unterdrückung des Klassenkampfs zum Ziel gesetzt hat. Angesichts der Ausweitung des Klassenkampfs muss die Arbeiterklasse Organisationsformen entwickeln, die die Sabotage ihrer Kämpfe durch die Gewerkschaftsbürokratie verhindern.
Die Arbeiter müssen dringend eigene, demokratisch gewählte Aktionskomitees bilden, die unabhängig vom Würgegriff der Gewerkschaftsbürokratien agieren. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale hat die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees (IWA-RFC) ins Leben gerufen, um die Aktionskomitees anzuleiten und international zu koordinieren.