Perspektive

Klassenkampf in den USA: Weitere Bahngewerkschaft lehnt vom Weißen Haus vermittelten Tarifvertrag ab

Ein Arbeiter auf einem Eisenbahnwaggon an einem BNSF-Bahnübergang in Saginaw, Texas, 14.09.2022 [AP Photo/LM Otero]

Am Dienstag lehnten die Mitglieder der Gewerkschaft der Kesselschmiede, International Brotherhood of Boilermakers (IBB), den Tarifvertrag für die Eisenbahn ab, der vom Weißen Haus vermittelt wurde. Das ist der jüngste Schlag gegen das Abkommen, das einen Ausverkauf für die Bahnarbeiter bedeutet. Die IBB ist mit nur 500 Mitgliedern die kleinste der 12 Handwerksgewerkschaften in der Branche, aber Ende letzten Monats hatten bereits die Arbeiter in der Instandhaltung von der Brotherhood of Maintenance of Way Employes (BMWED) und die Fahrdienstleiter der Brotherhood of Railroad Signalmen (BRS) den Vertrag abgelehnt.

In weniger als einer Woche werden die 60.000 Lokführer und Zugbegleiter, die den Widerstand angeführt haben, ihre Stimme abgeben. Damit zeichnet sich eindeutig eine Niederlage des Tarifabkommens ab. Darüber hinaus wäre sogar ein Streik der 500 IBB-Mitglieder gleichbedeutend mit einem landesweiten Streik der 120.000 Eisenbahner, da sich die Kollegen aus den anderen Berufsgruppen an den Streikposten beteiligen würden.

Die ständigen Drohungen mit einer einstweiligen Verfügung des Kongresses und die Lügen- und Fehlinformationskampagne der Gewerkschaftsbürokratie führten zu ständigen Verzögerungen und spalteten die Arbeiter entlang der Einzelgewerkschaften, um ihre Einheit zu brechen. Trotzdem konnten sie die Welle des Widerstands nicht aufhalten. Die Arbeiter sind entschlossen, einen landesweiten Bahnstreik zu beginnen, um der chronischen Überlastung und den unsicheren Arbeitszeiten, dem Personalmangel und den Angriffen auf Reallöhne und Gesundheitsleistungen ein Ende zu setzen.

Die Gewerkschaftsbürokratie versucht jedoch immer schamloser, den Kampf zu sabotieren. Bei Abstimmungen hatten 99 Prozent der Arbeiter für den Streik gestimmt, was die Gewerkschaftsführung einfach ignorierte. Sie boxte den ausgehandelten Tarifvertrag in sieben Gewerkschaften mit knapper Mehrheit durch, wobei es schwerwiegende Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen gab. Auf Bitte des Weißen Hauses hat die Eisenbahner-Gewerkschaft BMWED die selbst gesetzte Streikfrist, die sie in Geheimabsprache mit den Bahnunterhändlern festgelegt hatte, nun erneut auf den 9. Dezember verschoben.

Um diese Entscheidung zu rechtfertigen, griff die BMWED-Führung auf unverschämte Lügen zurück. Zum Beispiel behauptete sie, dass die Arbeiter nicht streiken können, solange der Kongress kein Gesetz verabschiedet, das ihnen die Erlaubnis erteilt – obwohl das nicht einmal der Kongress selbst behauptet hat. Die Gewerkschaften beweisen durch ihr eigenes Verhalten, dass sie von einem abgehobenen Apparat kontrolliert werden, der der Basis keine Rechenschaft ablegt und jede Entscheidung in Absprache mit den Transportunternehmen und dem Weißen Haus trifft, nicht mit den Arbeitern.

Am Dienstag erschienen in der Zeitung Politico ausführliche Interviews mit führenden Gewerkschaftsfunktionären. Sie zeigen die zunehmende Verzweiflung und Wut des Apparats angesichts des Widerstands an der Basis. Ein Funktionär sagte gegenüber Politico, die Situation sei „außer Kontrolle“. Mehrere beklagten die Rolle der sozialen Medien, d. h. die Tatsache, dass die Beschäftigten ihren Widerstand gegen das Abkommen über Online-Plattformen organisieren, die von der Bürokratie nicht zensiert werden.

„Wir müssen für die nächste Verhandlungsrunde lernen, wie wir ... das Narrativ etwas besser kontrollieren können“, sagte ein hoher Funktionär der AFL-CIO, bevor er sich wieder fing und hinzufügte: „Und das meine ich nicht im Sinne von Propaganda, sondern um sicherzustellen, dass die Leute die Fakten kennen.“ In Wirklichkeit ist die Gewerkschaftsbürokratie die Hauptquelle für Fehlinformationen. Die Arbeiter dürfen nicht alles für bare Münze nehmen, was aus ihrem Munde kommt.

In den letzten Monaten haben die Bürokraten die Abstimmungsfristen bis nach den Zwischenwahlen hinausgezögert. Sie hofften offenbar, dass die Wahlen Washington ein gewisses Maß an Stabilität bringen und den Kongress in die Lage versetzen würden, stärker gegen die Eisenbahner vorzugehen. Das könnten die Gewerkschaften dann nutzen, um den Tarifvertrag als unvermeidlich darzustellen. Die Funktionäre wollen den Arbeitern weismachen, sie hätten die Wahl zwischen einer „Annahme“ des Vertrags und der Auferlegung des Vertrags durch eine einstweilige Verfügung.

Doch zwei Faktoren haben ihre Pläne durchkreuzt. Erstens haben die Zwischenwahlen die „Normalität“ in Washington überhaupt nicht wiederhergestellt, sondern nur eine neue Phase der politischen Krise eingeleitet. Mehr als eine Woche später steht das Ergebnis der Wahl immer noch nicht fest, und es wird im Senat und Repräsentantenhaus hauchdünn ausfallen, was zu einer Lähmung des Parlaments führen könnte. Die Wahl selbst war Ausdruck der tiefen Ablehnung der Bevölkerung gegenüber beiden großen Parteien und dem gesamten politischen Establishment.

Zweifellos war diese Erkenntnis ein Hauptgrund für die Streikfristverlängerung der Gewerkschaft BMWED, die am Tag nach dem Wahltag bekannt gegeben wurde.

Der zweite und entscheidendere Faktor ist die massive Zunahme des Klassenkampfs, der selbst ein grundlegender Auslöser für die politische Krise und Instabilität ist. Der Widerstand der Eisenbahner gewinnt an Stärke, weil er Teil einer breiteren Entwicklung der gesamten Arbeiterklasse ist.

  • Am Montag, dem gleichen Tag, an dem die IBB-Abstimmung veröffentlicht wurde, streikten 50.000 Studenten an der University of California, um höhere Löhne und Leistungen zu fordern, die mit der Inflation Schritt halten;
  • In der Gewerkschaft United Auto Workers (in der die kalifornischen Studenten Mitglied sind) gewinnt der sozialistische Autoarbeiter und Präsidentschaftskandidat Will Lehman mit seinem Programm für die Abschaffung der Bürokratie und die Arbeiterkontrolle erhebliche Unterstützung;
  • In den letzten Wochen haben Zehntausende Piloten bei großen Fluggesellschaften für die Ablehnung von Ausverkaufsverträgen oder für Streiks gestimmt. Flugbegleiter haben am Dienstag landesweit eine Reihe von Streikposten organisiert, um ihre Forderungen bekannt zu machen. Wie die Eisenbahner unterliegen auch die Beschäftigten der Fluggesellschaften dem verhassten Eisenbahn-Arbeitsgesetz (Railway Labor Act), das ihre Streikmöglichkeiten stark einschränkt;
  • Wut und Frustration machen sich unter den 20.000 Hafenarbeitern an der Westküste breit. Nach Ablauf ihres Vertrags mussten sie weiterarbeiten, weil die Gewerkschaft ILWU in Absprachen mit den Hafenbetreibern und dem Weißen Haus einen monatelangen Streikverzicht umsetzte, ähnlich wie bei den Verlängerungen der Abstimmungsfristen in der Bahnindustrie;
  • Große Kämpfe stehen unmittelbar bevor. Nächstes Jahr laufen die Tarifverträge für die Autoarbeiter von Ford, GM und Stellantis sowie für 250.000 UPS-Beschäftigte aus.

Die Entwicklung in den Vereinigten Staaten ist Teil einer weltweiten Bewegung. Arbeiter streiken in französischen Ölraffinerien, bei der britischen Eisenbahn und den Häfen sowie in anderen Schlüsselindustrien. Letzte Woche haben Beschäftigte im Bildungswesen in Ontario, Kanada, einen provinzweiten Streik begonnen, der von Arbeitern aus dem ganzen Land stark unterstützt wurde. In Deutschland finden Tarifverhandlungen und Warnstreiks in der Metall- und Elektroindustrie statt.

Es gibt ein enormes Potenzial für einen gemeinsamen Kampf der Eisenbahner mit den Arbeitern in anderen Schlüsselindustrien. Die Androhung von Gegenmaßnahmen des Kongresses oder andere Versuche, den Arbeitern das demokratische Grundrecht auf Streik zu verweigern, müssen mit einem Kampf zur Mobilisierung der gesamten Arbeiterklasse zur Verteidigung der Eisenbahner beantwortet werden.

Für die herrschende Klasse steht viel mehr als nur ein Tarifvertrag auf dem Spiel. Die Biden-Regierung verfolgt die Strategie, die Gewerkschaftsbürokratie zu nutzen, um den Klassenkampf zu unterdrücken. Wenn Biden behauptet, der „gewerkschaftsfreundlichste Präsident in der amerikanischen Geschichte“ zu sein, meint er damit, dass er die Dienste des Gewerkschaftsapparats in Anspruch nehmen will, der schon seit langem vollständig in den Staat und die Konzernführungen integriert ist.

Aber sowohl die Regierung als auch die Gewerkschaftsbürokratie sind bei der Arbeiterklasse zutiefst verhasst und von ihr isoliert. Ein Durchbruch der Arbeiter gegen diese geschlossene Front in einem Industriezweig könnte ihre Kollegen im ganzen Land ermutigen, ihre eigenen Forderungen durchzusetzen. Das ist es, was die herrschende Klasse bei einem Bahnstreik noch mehr fürchtet als die Auswirkungen auf die „Wirtschaft“, d. h. die Profite, und warum sie vor nichts zurückschrecken wird, um ihn zu verhindern.

Die Eisenbahner haben es mit entschlossenen Gegnern zu tun. Trotz der Ergebnisse der Zwischenwahlen bereitet der Kongress hinter verschlossenen Türen immer noch Antistreik-Gesetze vor, und die Gewerkschaftsbürokratie kennt keine Hemmungen, wenn es darum geht, die Eisenbahner zu hintergehen. Wie die Abstimmung der Lokführer und Zugbegleiter ausgeht, ist keineswegs sicher. Die Erfahrungen mit der Abstimmung der Elektro-Gewerkschaft IBEW zeigen, dass die Gewerkschaften selbst vor offenem Wahlbetrug nicht zurückschrecken werden, um die verhassten Verträge zu „verabschieden“.

Die jüngsten Ereignisse zeugen jedoch von der immensen Stärke der Arbeiterklasse ebenso wie von der Zerbrechlichkeit der Institutionen, auf die sich die herrschende Klasse so lange verlassen hat, um den Widerstand der Arbeiter zu unterdrücken.

Der Kampf erfordert jedoch eine unabhängige Organisation und Leitung. Die Mobilisierung und Vereinigung der Arbeiterklasse gegen ihren gemeinsamen Feind ist untrennbar mit ihrer Befreiung aus dem Würgegriff des Gewerkschaftsapparats verbunden. Dafür müssen die Arbeiter Aktionskomitees aufbauen, demokratische Organe, mit denen sie die Kontrolle über die Arbeitskämpfe in die eigene Hand nehmen und Entscheidungen, die gegen den Willen der Mitglieder verstoßen, widerrufen können.

Die Logik dieses Kampfs richtet sich gegen das Profitsystem selbst, in dessen Rahmen kein einziges gesellschaftliches Problem auf fortschrittliche Weise gelöst werden kann. Die grundlegende Frage lautet: Wer hält die Gesellschaft am Laufen? Die Arbeiter müssen die Macht selbst in die Hand nehmen und die Wirtschaft nach den Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung und nicht des privaten Profits umstrukturieren. Das ist das Programm des Sozialismus.

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