Pflegenotstand: „Menschen sterben, die noch leben könnten“

In Nordrhein-Westfalen streiken die Pflegekräfte, und ihr Kampf stößt im gesamten Pflegebereich auf Begeisterung.

„Richtig so“, „Meine Hochachtung“, „Das sollten alle tun“, lauten nur einige Kommentare, die in den sozialen Medien unter den Berichten und Videos stehen, die die World Socialist Web Site (WSWS) regelmäßig publiziert. „Endlich hat jemand den Mut zu kämpfen, Bravo!“ heißt es dort. „Es muss sich etwas ändern.“ Und mehrere schreiben: „Wie gerne würde ich auch streiken“, oder: „Wir sollten alle auf die Straße gehen.“

Besonders der Aufruf, „Unterstützt den Pflege-Streik in NRW! Baut unabhängige Aktionskomitees auf!“, hat in mehreren Gruppen viele hundert Likes und rege Diskussionen ausgelöst. Das neue Aktionskomitee Pflege ist von Verdi unabhängig und arbeitet mit Pflegekräften auf der ganzen Welt zusammen. Für den Kampf gegen den Pflegenotstand in NRW hat es konkrete Forderungen aufgestellt.

Eine dieser Forderungen lautet: „Für jede unterbesetzte Schicht müssen Beschäftigte einen Ausgleich in Höhe des Lohns der ausgefallenen Kraft plus 50 Prozent Stress-Zulage erhalten!“ Als Begründung heißt es: „Wer für zwei arbeitet, muss auch für zwei entlohnt werden! Nur so kann das perfide System beendet werden, in dem sich die Unternehmen an der Unterbesetzung auf Kosten unserer Gesundheit bereichern!“

Diese Forderung wird von vielen erfahrenen Pflegekräften unterstützt. Einer von ihnen ist Krankenpfleger Frank, der in einer kirchlichen Einrichtung in NRW arbeitet.

„Ja genau, das sage ich auch immer!“, sagte Frank der WSWS. „Wenn ich schon allein die Arbeit von zwei Pflegern mache, dann muss ich auch die doppelte Bezahlung bekommen!“ Er hofft: „Wenn die Pflege ordentlich bezahlt wird, dann kommen auch wieder mehr Menschen in den Beruf, dann kommen viele zurück, die gegangen sind, und andere lassen sich zur Pflegekraft ausbilden, weil es ein schöner, gut bezahlter Beruf sein wird. Dann wird sich die Personalnot bessern.“

Dem stehe jedoch die Profitlogik entgegen, fährt er fort. „Da stehen große Konzerne dahinter, die das beeinflussen und die Politik diktieren.“ Das Grundübel in der Pflege und Medizin sieht er darin, dass die Versicherungs- und Klinikkonzerne Gewinn mit der Pflege erwirtschaften. Er fordert: „Überall da, wo es um die Gesundheit geht, darf kein Profit erwirtschaftet werden!“

Die Privatisierung im Gesundheitsbereich kritisiert er scharf. Sie wurde schon lange vor Corona von sämtlichen etablierten Parteien, auch von SPD, Grünen und Linkspartei durchgesetzt.

Frank erklärt: „Wenn private Eigentümer dahinter stehen, muss Gewinn generiert werden, denn die Investoren wollen ja Geld sehen. Und das bedeutet immer, dass an den Ressourcen gespart wird. Ressourcen – das sind in erster Linie die Menschen, die da arbeiten. Aber auch Material, da wird ebenfalls gespart. Da werden minderwertige Kanülen eingekauft und Pflegeprodukte, die gerade günstig sind, aber eben nicht optimal. Das geht immer auf Kosten der zu versorgenden Menschen und des Personals. Beide tragen den Gewinn auf ihren Schultern.“

Die Arbeit sei physisch und psychisch sehr anstrengend, so der Krankenpfleger. „Wenn ich von der Schicht komme, bin ich platt, habe kaum noch Energie und Kraft für Familie und Freizeit, und um mich auf den nächsten Tag vorzubereiten.“

Der Beruf sei im Vergleich zu der beruflichen Qualifikation, der Verantwortung und großen Belastung finanziell einfach nicht attraktiv. Infolgedessen seien immer weniger Pflegekräfte vorhanden, was die Bedingungen nochmals verschlechtere. „Und obwohl weniger Personal da ist, wächst die Zahl der Patienten, und sie müssen doch alle versorgt werden. Das ist ein Teufelskreis.“

Er setzt hinzu: „Aus diesen Gründen sterben Menschen, die sonst noch leben könnten. Darüber gibt es zwar keine Statistik, aber daran sterben definitiv Menschen.“

Auch bei den Unikliniken, die mehrheitlich noch in staatlicher Hand sind, sei es nicht viel anders, erklärt Frank. Das liege daran, dass die Krankenkassen die Finanzierung nach den sogenannten Fallpauschalen [den DRG, Diagnosis Related Groups] bemessen. „Da ist es egal, was die Behandlung in Wirklichkeit kostet. Die Eingangs-Diagnose bestimmt, wie viel Geld fließt. Deshalb versuchen alle Klinikbetriebe, die Patienten so schnell als möglich wieder los zu werden.“ Dafür existiere mittlerweile der Begriff der „blutigen Entlassungen“.

Auch die Verweildauer im Pflegeberuf nach dem Examen sei deutlich kürzer geworden. Sie betrage noch durchschnittlich fünf Jahre. Er, Frank, habe einen langjährigen Kollegen verloren, weil dieser sich gegen den Pflegeberuf und für die Arbeit als Busfahrer entschieden habe.

In der Corona-Pandemie habe sich die Belastung in allen Krankenhäusern und Altenheimen verdoppelt, sagt Frank weiter, denn jeder Patient, jeder Bewohner habe isoliert werden müssen. Er warnt: „Die neue Welle wird unweigerlich kommen, weil ja alle Corona-Schutzmaßnahmen weggefallen sind.“ Falls nicht noch eine zusätzliche, gegen die Subtypen wirksame Impfung entdeckt werde, gehe er davon aus, dass „das Virus wieder ordentlich zuschlagen“ werde.

„Man hätte alle Wellen relativ früh brechen können“, erklärt er, „wenn man von vorneherein einen harten Lockdown durchgesetzt und das gesellschaftliche Leben entschieden runtergefahren hätte. Nicht diese halbgaren Lockdowns. Bei denen sind die Betriebe ja die ganze Zeit offengeblieben.“ Er stellt fest: „Durch einen richtigen Lockdown hätte man vieles, vieles verhindern können. Viele könnten noch leben, die gestorben sind.“

Wie er berichtet, hat sich in seinem Kollegenkreis praktisch jeder zweite infiziert, wenn auch zum Glück nicht alle mit schwerer Erkrankung. „Unter den Pflegekräften hat es viele erwischt. Man kann zwar Schutzmaßnahmen ergreifen, auch im Krankenhaus, aber beispielsweise die Schnelltests sind nicht zuverlässig. So erwischt es immer wieder welche, denn wir haben engen Patientenkontakt.“

Er gehe davon aus, dass besonders unter den Pflegekräften etliche gestorben seien. „Die Zahlen werden ja nicht veröffentlicht. Das wird alles unter dem Deckel gehalten.“ Jedenfalls seien in seinem Umfeld „auch junge Kollegen in hoher Zahl erkrankt. Und bei vielen hält die Belastung an, wenn sie wieder arbeiten. Sie leiden bis heute unter Atemnot, haben Probleme, bei der Arbeit unter der FFP2-Maske Luft zu bekommen.“

Frank warnt vor der aktuellen Durchseuchungspolitik, die in Kauf nimmt, dass sich am Ende doch jeder ansteckt. Er erklärt: „Viele infizieren sich, haben wenig oder gar keine Symptome – und sind dann irgendwann trotzdem an Long Covid erkrankt. Das ist noch wenig erforscht. Und es trifft auch die Jüngeren. Sie werden aus dem Leben herausgeschossen und können nicht mehr so leben wie zuvor. Das hätte alles nicht sein müssen. Wer jetzt im Herbst infiziert wird, erleidet vielleicht Schäden, die erst in zwei, drei Jahren auftreten.“

Frank unterstützt das Aktionskomitee auch aufgrund seiner tiefen Skepsis in die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Er könne nicht davon ausgehen, dass sie die Profitlogik in der Pflege konsequent bekämpfe. „Sie sind ja selbst nicht frei von Interessen“, so sein Urteil. „Sie sehen nur ihre eigenen Standesinteressen, wollen ihre warmen Posten behalten. Und das geht durch gute Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern am besten. Dann hat man seine Ruhe.“

Von Verdi sei nichts zu erwarten, fährt er fort: „Die Arbeitgeber laden ja nicht umsonst die Mitarbeitervertreter zu den Verhandlungen in teure Hotels ein, und bezahlen ihnen – überspitzt gesagt – sogar noch das Bordell. Die kratzen sich gegenseitig kein Auge aus.“ Auch müsse man einmal aufzeigen, wo so ein Funktionär seinen Posten herhabe, und wie viele Aktienpakete er oder sie an den einzelnen Konzernen halte. „Sie sind von der Wirtschaft abhängig und von vorneherein nicht neutral.“

Auch die Tatsache, dass sich Verdi im NRW-Pflegestreik ausschließlich auf einen „Tarifvertrag Entlastung“ (TV-E) konzentriere, müsse zu denken geben. Ein solcher TV-E ist bereits bei Vivantes und der Charité in Berlin eingeführt worden. Schon heute funktioniere aber die Festlegung von Mindestbesetzungen nur sehr schlecht. „Es gibt gesetzliche Vorgaben zur Mindestbesetzung, aber in der Praxis werden sie nicht unbedingt eingehalten. Siehe z.B. in der Intensivpflege, in der Kardiologie, Neurologie, Chirurgie etc. Die Vorgaben werden immer wieder durchbrochen, und da wird ständig getrickst.“

Frank berichtet von einer selbsterlebten Situation, in der eine Pflegekraft nachts mit 30 Patienten allein ist. Noch dazu „in einer Abteilung der Kardiologie, in der alle am Monitor angeschlossen sind und überwacht werden müssen. Die Monitore melden ständig Alarm, und die Fachkraft muss entscheiden, ob sie einen Arzt hinzuzieht oder nicht. Die Monitore sind sehr empfindlich, die melden ständig Alarm. Der Personalschlüssel sieht vor, dass man zu zweit sein muss, aber in der Realität wird einem höchstens eine Hilfskraft an die Seite gestellt, und das ist dann auch schon alles.“

Von den unabhängigen Aktionskomitees erwartet Frank, dass sie diese Missstände aufdecken werden. „Wenn man beruflich so stark eingespannt ist, ist man in seiner Freizeit derart niedergedrückt, dass man sich kaum noch mit anderen Themen befassen kann. Das muss auch eine Aufgabe des Aktionskomitees sein: die Zustände an die Öffentlichkeit zu bringen und diejenigen gut zu informieren, die selbst betroffen sind. In der Öffentlichkeit wird alles so schön dargestellt. Was nicht klappt, kommt nur ausnahmsweise mal vor. Aber dass es sich um systematische Übel handelt, die bewusst so herbeigeführt werden, das weiß keiner.“

Darüber müsse man den Leuten die Augen öffnen. Auch finde er die internationale Zusammenarbeit wichtig. „Mir ist wichtig, dass man sich international austauschen kann, und dass wir zusammenhalten. Das ist ja überall so: Es ist viel schwieriger, etwas alleine als gemeinsam zu schaffen.“

Im Netz kursieren zahllose Texte, die Franks Bericht untermauern und zeigen, dass es auch anderswo nicht besser ist. So zum Beispiel der Kommentar von Altenpflegerin Monika aus Brandenburg, die von ihrer Einrichtung berichtet: „Im Altenheim gibt es für 38 Bewohner nachts einen Pfleger, im Frühdienst zwei. Wenn es gut läuft, sind mit Schülern drei bis vier Personen da, mehr hast du nicht.“

Und Tamara M. aus Aachen schreibt: „Ganz ehrlich? Es müsste in allen Gesundheitsbereichen zeitgleich gestreikt werden, damit sich zügig und im besten Fall nachhaltig etwas zum Besseren verändert!“

Derweil steht der Pflegestreik in NRW schon in seiner siebten Woche. Am gestrigen Dienstag, den 14. Juni, fand erneut eine zentrale Kundgebung statt. Sie wurde kurzfristig von Münster nach Bonn verlegt, da das Uniklinikum Bonn den Arbeitskampf gerichtlich für illegal erklären wollte.

Der Versuch der Bonner Klinikleitung, eine einstweilige Verfügung gegen den Streik zu erwirken, scheiterte jedoch noch am Dienstag vor dem Bonner Arbeitsgericht. „Was die Patienten gefährdet, das ist nicht der Notdienst während unseres Streiks“, lautete der Kommentar einiger Streikender dazu. „Was sie wirklich gefährdet, ist der alltägliche Normalbetrieb.“

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