Seit mehr als sechs Wochen streiken die Beschäftigten an den sechs Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen zu Recht für eine Verbesserung ihrer katastrophalen Situation. Doch der so genannte Entlastungstarifvertrag, den Verdi abschließen will, wird an den unerträglichen Arbeitsbedingungen nichts ändern.
Pflegekräfte, Ärzte und sonstige Klinikbeschäftigte sind am Ende ihrer Kräfte und enorm wütend, weil sie seit zweieinhalb Jahren völlig unterbesetzt am absoluten Limit arbeiten. Denn die Regierung hat die Pandemie immer nur so weit eingedämmt, dass die Kliniken nicht völlig kollabieren, aber stets am Limit arbeiten. Schon zuvor waren die Arbeitsbedingungen durch Privatisierung und Umstrukturierung unerträglich geworden.
Der Streik ist Ausdruck davon. Doch die Gewerkschaft Verdi will mit ihrem Entlastungstarifvertrag (TV-E) diese Wut auffangen und ins Leere laufen lassen, aber nicht die Situation der Arbeiter ernsthaft verbessern. Das zeigt ein Blick nach Berlin, wo Verdi für die Kliniken der Charité und Vivantes einen solchen Tarifvertrag am Ende eines 50-tägigen Streiks abschloss.
An der Charité sollen demnach in der Pflege 700 zusätzliche Beschäftigte angestellt werden. Die ursprüngliche, bereits viel zu gering angesetzte Forderung von 1200 zusätzlichen Mitarbeitenden wurde damit fast halbiert. Zudem darf sich die Klinikführung dafür die nächsten drei Jahre Zeit lassen. Ob diese neuen Kräfte tatsächlich eingestellt werden, steht in den Sternen.
Ein weiterer zentraler Punkt ist die Einführung von so genannten Belastungspunkten. Damit wurde ein ausgeklügeltes System installiert, das in Wirklichkeit die Überlastung nicht verringert, sondern zementiert und legitimiert.
So soll es für fünf Schichten in Unterbesetzung einen Punkt geben, der als Belastungsausgleich in acht Stunden Freizeit umgewandelt werden kann. Wenn also eine Pflegekraft acht Stunden lang für zwei gearbeitet hat, soll sie nicht einmal zwei Stunden davon als Freizeit ausgeglichen bekommen. Maximal soll es aber nur fünf freie Tage pro Jahr geben, es werden also nicht mehr als 40 Schichten pro Jahr in Unterbesetzung ausgeglichen.
Für die Klinik bleibt damit die Unterbesetzung immer noch deutlich rentabler als die Einhaltung der vorgeschriebenen Personalschlüssel. Das schreibt die permanente Überlastung der Klinikbeschäftigten fest, anstatt sie zu beenden.
Ein ähnliches, aber noch schlechteres System wurde für Vivantes vereinbart. Hier erhält die Pflegekraft, die eine Schicht lang auf einer unterbesetzten Station gearbeitet hat, einen „Vivantes-Freizeitpunkt“. Für neun angesammelte Punkte gibt es eine Schicht Freizeitausgleich oder alternativ 150 Euro. 2023 soll dies ab sieben Punkten gelten. Auch hier bleibt es für die Klinik kostengünstiger, unterbesetzte Schichten zu planen, zumal auch hier wie in der Charité die Anzahl der möglichen freien Tage gedeckelt wird.
Doch selbst diese Vereinbarungen werden nicht eingehalten. Bei Vivantes wurden nach einem Bericht der taz die neuen Regelungen nicht umgesetzt, weil es angeblich Probleme mit der Dienstplansoftware gibt. Hier wurde im April eine Übergangslösung eingeführt, die einer Provokation gleichkommt. Pro 10 gearbeiteten Schichten erhält der Beschäftigte einen halben freien Tag. Der Zeitraum Januar bis Ende März wurde überhaupt nicht berücksichtigt, obwohl hier die Vereinbarung bereits Gültigkeit hatte.
Auch bei der Charité haben Pflegekräfte bereits die zusätzlichen freien Tage angesammelt, angesichts des fehlenden Personals können diese aber kaum genommen werden. Wie hoch die tatsächliche Überlastung der Pflegekräfte ist, soll verheimlicht werden. Im März gab es einen internen Bericht dazu, der nie veröffentlicht wurde.
Pflegekräfte berichteten aber dem Tagesspiegel, dass nur rund die Hälfte der Schichten so besetzt gewesen seien, wie es der Tarifvertrag vorsieht. Berichten zufolge wird darüber hinaus auch Personal eingerechnet, das überhaupt nicht in der direkten Patientenversorgung tätig ist und damit nichts zur Entlastung der Pflegekräfte beiträgt.
Gegen diese Verstöße des Tarifvertrags unternimmt Verdi nichts außer ein paar zahnlosen Appellen an den Berliner Senat. Dessen Finanzsenator Daniel Wesener (Grüne) ist gleichzeitig im Aufsichtsrat von Vivantes und verantwortet die Situation direkt mit.
Den Beschäftigten werden die Hände gebunden, weil Verdi den Tarifvertrag mit einer extrem langen Laufzeit von vier Jahren abgeschlossen hat. Die mit der Laufzeit einhergehende „Friedenspflicht“ ist ein zentraler Punkt des Vertrags. Die Beschäftigten sollen so vier Jahre lang diese untragbaren Bedingungen ohne Streik und Protest hinnehmen.
Dass die Ziele der Klinikbeschäftigten in direktem Gegensatz zu denen Verdis stehen, ist dabei nicht neu. An den großen landeseigenen Kliniken der Hauptstadt haben Gewerkschaften und Betriebsrat eine schändliche Bilanz vorzuweisen. Der Sparkurs der letzten Jahrzehnte wurde in enger Zusammenarbeit von Gewerkschaft, Klinikmanagement und Berliner Senat durchgesetzt. Die meisten Verdi-Funktionäre sind Mitglieder von SPD, Linken oder Grünen und wechseln oft von gewerkschaftlichen in politische Ämter und zurück.
So wurden die Ausgliederungen der heutigen Tochterunternehmen von Charité und Vivantes von SPD und Linkspartei initiiert und von den Gewerkschaften abgesegnet. Die Charité Facility Management (CFM) wurde 2006 ausgegliedert, um Löhne zu senken und Kosten zu sparen. Dabei wurden diverse nicht-ärztliche und nicht-pflegerische Berufsgruppen wie Wachleute und Reinigungskräfte aus dem Charité-Tarifsystem herausgenommen und von der eigens gegründeten CFM beschäftigt. Ein Großteil der CFM-Beschäftigten erhielt dadurch hunderte Euro weniger Lohn.
Auch nachdem später die CFM wieder zurückgekauft wurde, erhält die Mehrheit der Beschäftigten noch immer niedrigere Löhne. Tatsächlich ging es beim Rückkauf immer darum, den Charité-Tarif aufzubrechen und nach unten zu senken.
Ähnlich ist die Situation bei der Klinikkette Vivantes. Hier gehören die Tochterfirmen komplett dem landeseigenen Konzern. Auch hier erhalten die rund 2000 ausgegliederten Beschäftigten deutlich weniger Geld als ihre Kolleginnen und Kollegen im Stammkonzern.
Nachdem im letzten Jahr die Beschäftigten der Tochterunternehmen von Vivantes zeitgleich mit den Pflegekräften in den Streik traten, setzte Verdi alles daran, rasch zu einer Einigung zu kommen, um die Streiks zu isolieren. Am Ende wurde eine lächerliche Lohnerhöhung vereinbart, die noch nicht einmal annähernd die Inflation im letzten Jahr ausgeglichen hätte.
Doch selbst davon haben die Beschäftigten nichts. Wie aus Medienberichten hervorgeht, erhielt eine Reinigungskraft im April nur 11,11 Euro pro Stunde, also deutlich unter dem Mindestlohn, weil sämtliche Zuschläge für Dienste an Feiertagen, Wochenenden etc. in den Lohn eingerechnet werden. Diese Lohnbestandteile, die eigentlich besondere Belastungen der Arbeit vergüten sollen, werden so genutzt, um die Löhne niedrig zu halten.
An der Charité initiierte Verdi 2016 einen Tarifvertrag für „mehr Personal“, nachdem es dort immer wieder zu Streiks und Protesten kam. Der von Verdi gefeierte „historische“ Erfolg diente in Wirklichkeit von Anfang an dazu, die Rolle von Betriebsrat und Gewerkschaft zu festigen und den zunehmenden Widerstand der Beschäftigten gegen die schlechten Arbeitsbedingungen zu unterdrücken.
Über Jahre, wurden die Pflegekräfte hingehalten, ohne dass durch den Tarifvertrag auch nur eine einzige Verbesserung eingetreten ist. Der wochenlange Streik im letzten Jahr zeigte dann die Kampfbereitschaft der Beschäftigten, die durch den Entlastungstarifvertrag wieder eingefangen wurde.
Vor diesem Hintergrund versucht Verdi nun den Entlastungstarifvertrag in NRW durchzusetzen. Dieser dient nicht dazu, die miserablen Bedingungen in den Kliniken, die Verdi mitverantwortet, zu beenden. Im Gegenteil: Er soll sie festschreiben.
Verdi selbst genießt aufgrund ihrer jahrelangen Politik in den Kliniken über keine nennenswerte Unterstützung. Die Gewerkschaft versucht daher mit eigens organisierten Vorfeldorganisationen ihren Einfluss auszubauen. Organisationen wie das „Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus“, die „Berliner Krankenhaus Bewegung“ oder „Notruf NRW“ geben vor, „basisdemokratisch“ die Interessen der Beschäftigten zu vertreten. Tatsächlich sind es reine Gewerkschaftsorganisationen, die sich auf die Vertrauensleute stützen und die Politik Verdis gegen die Beschäftigten durchsetzen.
Eine besonders üble Rolle übernehmen die pseudolinken Gruppierungen, die zumindest in den Berliner Vorfeldorganisationen von Verdi eine Rolle spielen. In Berlin konnte sich der rot-rot-grüne Senat bei den Angriffen auf die Beschäftigten in den Kliniken und Krankenhäusern immer auf die Unterstützung von Gruppen wie der Sozialistischen Alternative Voran (SAV) und der „Revolutionären Internationalistischen Organisation“ (RIO) verlassen.
Die Beschäftigten der Unikliniken in NRW müssen die Lehren aus den Erfahrungen der letzten Jahre, vor allem mit dem Entlastungstarifvertrag in Berlin, ziehen und dieses üble Manöver von Verdi zurückweisen. Stattdessen müssen sie unabhängige Aktionskomitees aufbauen, die international organisiert sind und für massive Investitionen und grundlegende Umstrukturierungen im Interesse von Patienten und Beschäftigten im Gesundheitswesen kämpfen.
Die Klinikbeschäftigten und Pflegekräfte in NRW und Deutschland sind nicht allein. Weltweit finden Kämpfe gegen die katastrophalen Arbeitsbedingungen im Gesundheits- und Pflegesystem statt. In den USA sind tausende Pflegekräfte im Streik, ebenso streiken Beschäftige in Frankreich, Spanien, Griechenland, der Türkei, Russland und Sri Lanka.
In einigen Ländern haben Beschäftigte bereits von den Gewerkschaften unabhängige Komitees gegründet, auch hier in Deutschland. Wir rufen alle Beschäftigten im Gesundheitssystem und der Pflege auf, sich diesem Komitee anzuschließen. Schreibt uns dazu eine Nachricht über WhatsApp +4915203521345 und registriert Euch hier.