Mehr als 50.000 Menschen sind seit Pandemiebeginn in Deutschland an Covid-19 gestorben. Vor fast genau einem Jahr, am 25. Januar, wurde als erster ein Mitarbeiter der Firma Webasto in Bayern positiv auf das Coronavirus getestet.
Damals schrieb die World Socialist Web Site: „Die potenziell starke Verbreitung des Virus nur wenige Wochen nach seinem ersten Auftreten [in Wuhan] spricht sowohl für die Gefährlichkeit des Erregers als auch für den hohen Grad der Integration des modernen wirtschaftlichen und sozialen Lebens.“ Eine solche Katastrophe sei vermeidbar, setzten wir hinzu: „Die medizinische Wissenschaft ist so weit fortgeschritten, dass sie in der Lage ist, neue Viren innerhalb von Wochen zu identifizieren und Impfstoffe innerhalb von Monaten zu entwickeln.“
Die WSWS warnte jedoch auch: „Keine kapitalistische Regierung hat angemessene Vorbereitungen für diese Gefahren getroffen (…) Die Verteidigung der menschlichen Zivilisation gegen die Bedrohung durch globale Pandemien erfordert ein Maß an Planung und globaler Zusammenarbeit, zu dem der Kapitalismus nicht in der Lage ist.“
Diese Warnung hat sich im ersten Jahr der Seuche zweifelsfrei und grausam bestätigt. Die Pandemie nimmt immer bedrohlichere Dimensionen an. Rasend schnell breiten sich neue Virusmutanten wie das in Großbritannien festgestellte Coronavirus B.1.1.7 in Europa aus. Aber sowohl die Bundes- und Länderregierungen, als auch die Europäische Union weigern sich, den notwendigen, strikten Lockdown und ein globales, umfassendes Impfprogramm konsequent zu realisieren.
Ein Corona-Gipfel der EU ist am Donnerstag ohne greifbare Ergebnisse zu Ende gegangen. Davor hatten am Dienstag, den 19. Januar, die Kanzlerin und die deutschen Länderchefs zwar die aktuellen Maßnahmen bis zum 14. Februar verlängert, aber weder Home-Office noch verpflichtende Produktions- und Betriebsschließungen beschlossen. „Ich will nicht, dass wir unsere gesamte Volkswirtschaft runterfahren müssen“, hatte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) kurz zuvor kategorisch erklärt.
Schon am nächsten Morgen kündigte der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) an, sein Land werde die Schulen zum 1. Februar wieder öffnen. Ähnlich gaben auch die Länderchefs von Rheinland-Pfalz (Malu Dreyer, SPD), Niedersachsen (Stephan Weil, SPD), Nordrhein-Westfalen (Armin Laschet, CDU) und mehrere weitere Ministerpräsidenten verschiedene Varianten von Präsenzunterricht an den Grundschulen bekannt, mit denen sie die jüngsten Beschlüsse unterlaufen.
Der rot-rot-grüne Berliner Senat informierte alle Kitas über die geplante Umsetzung der Beschlüsse in Berlin. Im Rahmen der „Notbetreuung“ sei eine durchschnittliche wöchentliche Auslastung der Kitas von 50 Prozent vorgesehen. Dann heißt es in dem Schreiben: „Wird eine Auslastung von 50 % nicht erreicht, können auch Kinder von Eltern aufgenommen werden, die nicht in einem systemrelevanten Aufgabenbereich tätig sind.“ Dies wird in der Praxis zweifellos dazu führen, dass die Einrichtungen zu mindestens 50 Prozent ausgelastet sind und noch mehr Kinder als bisher schon betreuen müssen!
Dabei breitet sich die neue Virusmutante gerade unter Kindern besonders rasch aus. So wiesen Experten in Großbritannien nach, dass das neue Virus im November und Dezember unter den 11- bis 16-Jährigen so stark wie in keiner anderen Altersgruppe grassierte. Eine weitere, groß angelegte Studie von Oxford-Wissenschaftlern hatte die Wirksamkeit von Schulschließungen zur Pandemiebekämpfung zweifelsfrei nachgewiesen. Inzwischen sind in Hannover nach Angaben des Corona-Krisenstabs auch zwei Kinder so schwer erkrankt, dass sie beatmet werden müssen.
Immer deutlicher werden die warnenden Stimmen der ernsthaften Virologen und Mediziner. Der Charité-Virologe Christian Drosten warnt in einem Spiegel-Interview vor einer dritten Welle mit Zehntausenden täglichen Neuinfektionen und betont, dass wegen der Virusmutante B.1.1.7 die Einschränkungen keinesfalls gelockert werden dürfen. Andernfalls „werden sich innerhalb kurzer Zeit noch viel mehr Leute infizieren, als wir uns das jetzt überhaupt vorstellen können. Dann haben wir Fallzahlen nicht mehr von 20.000 oder 30.000, sondern im schlimmsten Fall von 100.000 pro Tag.“
Drosten erklärt, er würde einen strikten Lockdown, wie ihn die Bewegung #ZeroCovid fordert, begrüßen, um die Ausdehnung der Pandemie drastisch zu reduzieren. Er sagt: „Ich glaube schon, dass das möglich wäre, mit großen Anstrengungen. Natürlich würde das Virus immer wieder aufflackern, so wie das ja auch in China und Australien geschieht. Aber es wäre absolut erstrebenswert, jetzt auf die Null zumindest zu zielen. Vor allem weil ich schlimme Befürchtungen habe, was sonst im Frühjahr und Sommer passieren könnte.“
Geradezu vernichtend sind schließlich seine klaren Aussagen darüber, dass Kinder ebenso ansteckend sind wie alle anderen Menschen. Bei den Pandemiemaßnahmen empfiehlt Drosten deshalb besonders die Einschränkung von Schulen und Kitas.
Er habe es schon vor seiner Studie über die Viruslast bei Kindern „nicht für möglich gehalten, dass Kinder verschont bleiben von Sars-CoV-2,“ sagt er. „Rein biologisch betrachtet, ändert sich die Schleimhaut im Nasen-Rachen-Raum nicht so stark beim Heranwachsen. Also müssen Kinder auch infiziert – und infektiös sein. Dass daran so grundlegende Zweifel aufkommen konnten, war mir ein Rätsel und ist es bis heute.“
Was der Virologe nicht versteht, ist jedoch eine grundlegende Tatsache: Bürgerliche Politiker sind eben nicht in erster Linie der Vernunft oder dem Leben der arbeitenden Bevölkerung verpflichtet, sondern der kapitalistischen Wirtschaft und den Profiten von Banken und Konzernen. Die Schulöffnungen sind dafür ein beredtes Beispiel. Sie sind nötig, um die Eltern in die Produktion und andere Betriebe zurück zu zwingen. Um sie durchzusetzen, leugnen Politiker aller Parteien seit vielen Monaten, dass Kinder sich und andere auch anstecken könnten.
Im Juli 2020 hatte die sächsische Landesregierung die Öffnung aller Schulen nach den Sommerferien mit einer Pseudostudie gerechtfertigt, die angeblich beweisen sollte, dass Kinder „nicht die Treiber der Infektion, sondern eher Bremsklötze“ seien (wie der sächsische Kultusminister Christian Piwarz, CDU, damals wiederholte). Noch Ende November behauptete Ties Rabe (SPD), Schulsenator von Hamburg, „dass Schule ein Stück weit überschätzt wird in Bezug auf die Gefahren“. Es sei „bemerkenswert“, so der Senator, dass sich „die mit Abstand meisten Schülerinnen und Schüler nicht in der Schule, sondern außerhalb“ infiziert hätten.
Damit die Profite weiter sprudeln, kolportierte noch vor wenigen Tagen Jörg Hofmann, der erste Vorsitzende der IG Metall, die plumpe Mär, dass sich Arbeiter vor allem im familiären Bereich und in der Freizeit infizierten. Auf die Frage, was passieren würde, wenn die Industrie „komplett runterfahren“ müsste, antwortete Hofmann: „Dann würde unsere Wirtschaftskraft zusammenbrechen.“
Dann behauptete der IGM-Chef, ohne irgendwelche Beweise vorzubringen: „Wir können feststellen, dass dort, wo in den Betrieben die in Zusammenarbeit mit der Politik entwickelten Hygienemaßnahmen strikt umgesetzt werden, die Infektionszahlen geringer sind als im privaten Umfeld.“
Dabei tragen gerade die DGB-Gewerkschaften maßgeblich dazu bei, Corona-Ausbrüche in den Betrieben zu vertuschen. Das zeigten zuletzt die Zahlen, die erst im Zusammenhang mit dem tragischen Tod des Berliner Straßenbahnfahrers Sven B. an die Öffentlichkeit drangen: Demnach haben sich allein bei der BVG bisher schon 245 Mitarbeiter mit Covid-19 infiziert.
Die Marke von 50.000 Corona-Toten, die in dieser Woche überschritten wurde, macht eines völlig deutlich: Die offizielle Corona-Politik hat versagt. Ein Jahr lang haben die Regierungen im Interesse der Wirtschaft eine faktische Durchseuchungspolitik betrieben, und die Gewerkschaften haben sie dabei unterstützt. Zwei Ergebnisse sind festzustellen: Einerseits hat sich der Dax gesundgestoßen, und andererseits ist die Seuche mit aggressiv steigenden Todeszahlen zuletzt noch gefährlicher geworden.
Die Corona-Pandemie ist also keine rein medizinische, sondern eine soziale und politische Frage. Um sie zu lösen, ist ein politischer Kampf erforderlich. Ein solcher Kampf muss davon ausgehen, dass die Pandemie ein globales Problem ist, welches eine internationale Lösung erfordert. Er darf nicht den Banken und Konzernen und ihren Politikern überlassen werden, die von der Dezimierung der Alten und Schwachen profitieren und die Pandemie nutzen, um Arbeiter zu erpressen.
Die Arbeiterklasse ist eine internationale Klasse, sie hat die Hauptlast der Epidemie zu tragen. Wie die World Socialist Web Site und die Sozialistische Gleichheitspartei seit langem erklären, kann nur die Arbeiterklasse den Kampf gegen die Pandemie erfolgreich führen. Arbeiter müssen selbst aktiv werden und international gemeinsam eine sozialistische Politik durchsetzen, die den kapitalistischen "Profite vor Leben"-Kurs beendet. Konkret ist es notwendig, unabhängige Aktionskomitees aufzubauen, um einen europaweiten Generalstreik vorzubereiten und die nötigen Pandemiemaßnahmen durchzuführen.