Wieder trafen sich am gestrigen Dienstag die Ministerpräsidenten der Länder bei Kanzlerin Angela Merkel, und wieder ging es um die Pandemiemaßnahmen. An diesem Tag hatte das Robert-Koch-Institut (RKI) erneut fast tausend Corona-Tote gemeldet.
Ins Zentrum rückt auch die neue Coronavirus-Mutation, die außer in Großbritannien bereits in Irland, Portugal und Spanien wütet. Hinzu kommen weitere Mutationen, die in Südafrika und Brasilien entdeckt worden sind. Doch die verantwortlichen Politiker von Bund und Ländern bestehen weiter darauf, die Betriebe, Schulen und Kitas offen zu halten und auf Einschränkungen der Wirtschaft zu verzichten.
Einen „radikalen Strategiewechsel“ fordern immer neue Petitionen von Ärzten und Virologen, von Schülern und Erzieherinnen. Die Gemeinsame Erklärung von Wissenschaftlern aus ganz Europa, die zuerst in der Fachzeitschrift The Lancet publiziert wurde, trägt die Unterschrift von weit über tausend Wissenschaftlern, darunter auch Christian Drosten und der RKI-Leiter Lothar Wieler. „Das Virus respektiert keine Landesgrenzen“, sagte Prof. Isabella Eckerle dazu der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). Notwendig sei ein europaweit koordinierter, vollständiger Lockdown.
Diese Ziele unterstützt auch die Petition „ZeroCovid“, zu deren Erstunterzeichnern rund 400 Wissenschaftler, Mediziner, Künstler und Journalisten gehören. Die Petition hat das erste Ziel von 75.000 Unterschriften in Deutschland spielend erreicht. Darin heißt es: „Um das Virus zu stoppen und weitere Zehntausende Tote zu verhindern, ist jetzt eine solidarische Pause nötig (…) Wir müssen alle nicht gesellschaftlich notwendigen Bereiche der Wirtschaft für eine Zeit stilllegen.“
Eine Gruppe von Ärzten hat sich direkt an die Bundesregierung gewandt. Sie schreiben, es dürfe „keinen Platz für eine sogenannte ‚Durchseuchungs-Strategie‘ geben. Faktenleugnung und Verwässerung wissenschaftlicher Vorschläge dürfen politische Entscheidungen nicht weiter negativ beeinflussen.“
Das Gebot eines harten Lockdowns ist umso dringender, da ja die Impfungen bereits begonnen haben. Die neuen, noch deutlich ansteckenderen Mutanten sind schon in Berlin, Bayern, Hessen und Baden-Württemberg festgestellt worden. Dazu schrieb ein Mediziner auf Twitter: „Wenn wir [die Coronavirus-Mutation] B 1.1.7 ernst nehmen, sollten wir jetzt rund um die Uhr impfen, als wäre der Katastrophenfall eingetreten. Denn das ist er.“ Aber auch die Impfungen sind ein Debakel. Sie laufen viel schleppender, als das möglich wäre, denn jeder Schritt wird von den Profitinteressen der Pharmakonzerne abhängig gemacht.
Kein Zweifel: Die Regierungspolitiker halten eisern daran fest, die Profitwirtschaft weiter am Laufen zu halten. „Profite vor Menschenleben“, so die unausgesprochene Devise, die sich auch gestern Abend in der Bund-Länder-Runde wieder durchgesetzt hat.
Beschlossen wurde zwar eine Verlängerung der bisherigen, höchst halbherzigen Maßnahmen bis zum 14. Februar, nicht jedoch nennenswerten Verschärfungen, welche die nicht-systemrelevanten Produktions- und Dienstleistungsbetriebe irgendwie einschränken würden. Nur das Tragen von FFP2-Masken oder eines chirurgischen Mund-Nasen-Schutzes („OP-Maske“) soll künftig im öffentlichen Raum und Personenverkehr zur Pflicht werden.
Nicht einmal in der Frage des Home-Office fassten die Regierungspolitiker einen wirklich verbindlichen Beschluss. Dabei arbeiten zurzeit nur etwa 15 % der Beschäftigten von Zuhause aus, während es im April 2020 mehr als doppelt so viele wie heute waren. Jetzt soll das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine befristete Verordnung erlassen, wonach die Unternehmer „überall dort, wo es möglich ist“, Home-Office für Beschäftigte ermöglichen, "sofern die Tätigkeiten es zulassen". Diese schwammigen Formulierungen lassen so viele Schlupflöcher, dass vieles beim Alten bleiben wird.
Mehrere Länderchefs und Kultusminister drängten noch in den letzten Tagen darauf, Schulen und Kitas offen zu halten, wie beispielsweise die baden-württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann oder die Bildungsminister von NRW, Hessen, Hamburg und Berlin. So sind die Folgen der Entscheidungen auf höchster Regierungsebene voraussehbar: Weiterhin volle Bahnen und Busse, Millionen Beschäftigte, die täglich zur Arbeit in die Betriebe gezwungen werden, und Kinder, die zwangsläufig weiterhin Schulen und Kitas füllen, damit die Produktion weiter läuft.
Sarkastisch kommentierte der Berliner Journalist und Autor Markus Feldenkirchen im Spiegel: „Priorität genießen natürlich Hersteller von Schweinekoteletts, Abfahrtsskiern, Eierlikör, Schellfeuerwaffen, Toastern oder etwa Zigaretten. Für deren Produktion dürfen weiter Millionen Menschen in geschlossenen Räumen zusammenkommen – als gäbe es gar kein Virus.“
Nicht verwunderlich, bewegt sich die Pandemie weiter auf hohem Niveau. Am Dienstag wurden knapp 11.369 Neuinfektionen innerhalb eines Tages gemeldet. Die Zahl der Corona-Todesfälle stieg mit 989 Verstorbenen auf insgesamt 47.622. Die Sieben-Tages-Inzidenz ist mit offiziell 131,5 Infizierten pro 100.000 Einwohner noch um ein Vielfaches zu hoch.
Dabei sind die Zahlen möglicherweise grob unvollständig. Darauf hat das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) vor kurzem hingewiesen. Das Forschungsinstitut schrieb am Donnerstag, 14. Januar, in einer besorgten Pressemeldung, dass viel zu oft überlastete Gesundheitsämter die Fallzahlen zu spät oder unvollständig meldeten.
„Bei systematischen Meldeverzügen wie beim derzeitigen Berechnungsverfahren“ bestehe die Gefahr, „dass einzelne Kreise dauerhaft mit zu niedrigen Werten in der Statistik des Infektionsgeschehens erscheinen“. Deshalb schrieb das Zi, es sei „dringend notwendig“, dass weitere zentrale Aspekte des Infektionsgeschehens in den Blick genommen würden, allen voran die Auslastung der Intensivstationen oder die Inzidenz in den Risikogruppen.
Die Situation in den Krankenhäusern und auf den überfüllten Intensivstationen ist tatsächlich höchst bedrohlich. Dort infizieren sich zunehmend – ähnlich wie in Großbritannien – große Teile des Pflegepersonals. In einem Klinikum in Nordfriesland befinden sich seit Dienstag 2.200 Menschen in Quarantäne, nachdem 73 Mitarbeiter und 60 Patienten positiv auf Corona getestet wurden, und das Klinikum hat einen allgemeinen Aufnahmestopp verhängt. Auch ein Bezirksklinikum im ostfränkischen Ansbach meldete, dass sich nicht nur 33 Patienten, sondern auch 29 Mitarbeiter nachweislich im Klinikum infiziert hätten.
Geradezu grauenvoll ist die Situation in zahlreichen Krematorien. Besonders in Sachsen haben sich laut Statistischem Bundesamt die Sterbefälle im Dezember verdoppelt. In den Nachrichten kursierten Bilder von chaotisch gestapelten Särgen aus dem Krematorium Meissen, während die Särge in Zittau außerhalb des Krematoriums zwischengelagert werden mussten.
In einem Interview mit gmx.net erklärte der Bestatter Tobias Wenzel aus dem Erzgebirge, eine solche Lage habe er sich bisher „nicht ansatzweise“ vorstellen können. Die sächsischen Bestatter und Mitarbeiter der Krematorien hätten zurzeit „mindestens ein Drittel mehr Beerdigungen als sonst“ zu bewältigen. „Im Moment funktionieren wir nur noch“, so Wenzel. Er selbst habe im Dezember 280 Stunden gearbeitet, und er sei keine Ausnahme. Das Interview endet mit der bitteren Anklage an die verantwortlichen Politiker, nicht gehandelt zu haben, als die Fachleute im letzten Sommer vor genau dieser Situation gewarnt hatten.
Die Regierungspolitiker werden auch weiterhin nicht handeln. Nicht einmal solche schaurigen Szenen aus den Krematorien, die an die Bilder aus Bergamo im letzten Frühling erinnern, können sie umstimmen. Die Forderung nach einem härteren Lockdown, der auch die Wirtschaft umfasst, ist in der arbeitenden Bevölkerung höchst populär, wie die Petitionen der Wissenschaftler oder von „ZeroCovid“ zeigen. Aber die Regierungen von Bund und Ländern lassen sich durch Druck nicht umstimmen. Von AfD über CDU, FDP, SPD, Grünen bis hin zur Linkspartei – alle Politiker richten sich nach den Bedürfnissen der Banken und Konzerne.
„Ich will nicht, dass wir unsere gesamte Volkswirtschaft runterfahren müssen“, erklärte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) kurz vor der Runde im Kanzleramt. Derweil durften im Spiegel mehrere führende Wirtschaftsvertreter ihre Ansichten ausbreiten. Unter dem Titel, „Topökonomen warnen vor Wirtschaftslockdown“ betonten sie fast wortgleich, dass eine Schließung der Wirtschaft nicht in Frage komme.
So sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und Humboldt-Professor Marcel Tratzscher: „Eine Zwangsschließung von Unternehmen (…) könnte die Lieferketten unterbrechen und damit erhebliche Kosten für die gesamte Wirtschaft verursachen (…) Eine Homeoffice-Pflicht könnte wirtschaftlich großen Schaden anrichten, da sie die effektive Arbeitszeit und Produktivität stark schädigen könnte …“
Unterstützung erhalten diese Wirtschaftsbosse von den DGB-Gewerkschaften. IG Metall-Chef Jörg Hofmann warnte in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen vor den Folgen eines wirtschaftlichen Lockdowns: „Dann würde unsere Wirtschaftskraft zusammenbrechen. Doch diese Kraft brauchen wir dringend, um uns weiter alle sozialstaatlichen Maßnahmen zur Abfederung der Folgen der Krise leisten zu können. So ein Runterfahren der Wirtschaft hat lang anhaltende Konsequenzen (…) Wir müssen – soweit es geht – die industrielle Produktion fortsetzen, weil so Wertschöpfung und Einkommen für viele Menschen entsteht“, etc.
Tatsächlich behauptet der hochrangige Gewerkschaftsfunktionär, in den Produktionsbetrieben seien „die Infektionszahlen geringer als im privaten Umfeld“ – eine Behauptung, die sich schnell in Luft auflösen würde, wären die Gewerkschaften darum bemüht, dass die Konzerne wahrheitsgemäß über die Covid-19-Fälle in den Belegschaften informierten und systematisch testen ließen.
In jedem Fall macht das Interview erneut sehr klar, dass die Gewerkschaftsführer mit den Politikern und Kapitalisten im selben Boot sitzen, und alles daran setzen, die deutsche Wirtschaft auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung offen zu halten. Jeder Appell an diese Funktionäre ist absurd.
Notwendig ist ein politischer Kampf, diese kapitalistische Logik zu durchbrechen. Die Sozialistische Gleichheitspartei und die World Socialist Web Site treten dafür ein, dass Arbeiter unabhängige Aktionskomitees aufbauen und sich auf der Grundlage eines sozialistischen Programms mit ihren Kollegen auf der ganzen Welt zusammenschließen.