Mit über dreizehn Millionen Covid-19-Fällen erreicht das Coronavirus immer neue Rekordzahlen. Weltweit werden mittlerweile an jedem Tag nahezu eine viertel Million neuer Erkrankungen registriert. Auch in Deutschland ist die Gefahr, an dem Virus ernstlich zu erkranken, nach wie vor hoch.
Laut John-Hopkins-Universitäthat die Zahl der registrierten Infektionen in Deutschland die Marke von 200.000 überschritten. 9.078 Personen sind demnach an Covid-19 gestorben. Der R-Wert bewegt sich beharrlich um die kritische Marke von eins und stand zuletzt bei 1,06, was bedeutet, dass ein Infizierter im Durchschnitt etwas mehr als einen weiteren Menschen ansteckt. Die gefährliche Lungenkrankheit ist alles andere als überwunden.
In dieser Situation hat der sächsische Kultusminister Christian Piwarz (CDU) am Montag hochoffiziell eine Studie vorgestellt, die angeblich den Nachweis erbracht haben soll, dass Schulen keine Corona-Hotspots sein könnten. Praktisch im gleichen Atemzug gab Piwarz bekannt, dass das Land Sachsen nach den Sommerferien alle Schulen uneingeschränkt wieder öffnen werde.
Die Studie der Medizinischen Fakultät der TU Dresden, die unter Leitung eines Prof. Reinhard Berner erstellt worden ist, hatte den Auftrag der sächsischen Landesregierung, die teilweise Schulöffnung in Sachsen im Mai zu begleiten. Seither hat sie rund 2.000 Blutproben von Schülern und Lehrern auf Antikörper gegen das SARS-CoV-2-Virus getestet.
Die Blutproben, die an 13 Schulen in Dresden und den Landkreisen Bautzen und Görlitz gewonnen wurden, stammten von 1545 Schülern zwischen 14 und 18 Jahren und von insgesamt 504 Lehrkräften. Im Ganzen konnte die Studie nur in zwölf Proben Antikörper zweifelsfrei nachweisen. Daraus schloss Prof. Berner, der auch Direktor der Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Dresdner Uniklinikum ist, dass die Schulen sich nicht als Hotspots für Corona-Infektionen erweisen würden. Anders als bei der Influenza seien Kinder „nicht die Treiber der Infektion, sondern eher Bremsklötze“. Auch in den Familien sei „die dynamische Verbreitung des Virus offenbar überschätzt worden“, so Berner.
Diese angeblich wissenschaftliche Erkenntnis im Regierungsauftrag griffen TV-News und große Medien von Bild über FAZ bis zur Süddeutschen Zeitung begierig auf. Kritiklos übernahmen sie die gefährliche Einschätzung, dass die Schulen „keine Corona-Hotspots“ sein könnten. „Kinder wirken eher als Bremsklötze der Infektion“, titelte die FAZ und ihr Artikel beginnt mit dem Satz: „Die Verbreitung des Coronavirus in Kindergärten, Schulen und Familien wurde bisher offenbar überschätzt.“ Die Süddeutsche wählte als Überschrift: „Kinder bremsen laut Studie das Virus aus“. All diese Formulierungen sind selbst dann völlig absurd, wenn man eine geringere Ausbreitung des Virus unter Kindern annimmt.
In Wirklichkeit ist aber das ganze Studienergebnis nichts weiter als ein Gefälligkeitsdienst für die sächsische Landesregierung und alles andere als verlässlich. Die Untersuchung wurde in Landkreisen durchgeführt, die bisher unterdurchschnittlich von Corona betroffen waren. Das Infektionsgeschehen im Bundesland Sachsen liegt mit 0,1 Prozent deutlich niedriger als der deutsche Durchschnitt. Und die Studie bezog sich nur auf Schüler der höheren Klassen.
Der eingeschränkte Regelbetrieb, der seit dem 18. Mai an den sächsischen Schulen gilt, lässt aber den vollen Präsenzunterricht nur für Grundschüler zu. Die 14- bis 18-Jährigen an den weiterführenden Schulen, die nur wenige Tage Präsenzunterricht hatten, sind außerdem deutlich verständiger und besser in der Lage, die Corona-Regeln konsequent einzuhalten.
Die Studie ist nicht repräsentativ für einen vollständigen Regelbetrieb. Sie hat die Grundschulen und Kindergärten ausgeklammert, obwohl gerade dort ein Ergebnis interessant gewesen wäre. Denn unter den kleinen Kindern ist es von vorneherein deutlich schwieriger, die Corona-Regeln einzuhalten.
Tatsächlich hat sich die Gefahr für die Kleineren seit Wiederöffnung der Schulen und Kitas ständig erhöht. Vergangene Woche lag der Anteil der unter-10-Jährigen bei den neugemeldeten Coronavirus-Infizierten laut RKI bei 10,7 % und damit erstmals über der Zehn-Prozent-Marke. Im Vergleich dazu war vor drei Monaten, als alle Schulen und Kitas geschlossen waren, der Anteil der Kleinen noch bei knapp unter zwei Prozent.
Auch muss selbst das offizielle Studienergebnis, so beschränkt auch immer es zustande kam, Anlass zur Sorge geben. Die Studienleitung behauptet, es sei ermutigend, dass der konstatierte Immunisierungsgrad „deutlich unter einem Prozent (0,6 Prozent)“ liege. Damit falle er „geringer aus als prognostiziert“. Tatsächlich liegt die Infektionsquote an den Schulen damit sechsmal höher als im Durchschnitt der sächsischen Gesamtbevölkerung (0,1 Prozent).
Das behauptete Studienergebnis widerspricht zugleich wichtigen früheren Studien, beispielsweise derjenigen des Charité-Virologe Christian Drosten. Dieser hatte nachgewiesen, dass sich im Rachen von infizierten Kindern, auch von Kleinkindern, eine ebenso große Virenlast wie bei Erwachsenen findet. Er und andere warnten davor, dass die rücksichtslos geöffneten Schulen und Kitas im Herbst leicht zu Superspreading-Events werden könnten.
Auch international nehmen die warnenden Beispiele zu, und in Kalifornien, Israel und Südafrika mussten Schulen nach einer verfrühten Öffnung wieder geschlossen werden, um eine zweite Corona-Welle einzudämmen. In Australien wies der Leiter des Gesundheitsamts von Victoria, Prof. Brett Sutton, am 13. Juli eine verfrühte Öffnung der Schulen zurück und warnte die Eltern ausdrücklich vor der damit verbundenen Infektionsgefahr. Auch dort war zuvor verbreitet worden, dass Kinder nur ein „geringes Pandemie-Risiko“ darstellten. „Je mehr Kinder wir testen, desto offensichtlicher wird die Übertragung von Kind zu Kind“, sagte Brett Sutton dem australischen Sender 9News. „Wir haben mehr getestet, und wir haben festgestellt, dass es wahrscheinlich mehr Kinder gibt, die sich infizieren.“
Weltweit sind schon tausende Lehrkräfte und Erzieher an Covid-19 gestorben. In dieser Woche hat die WSWS über den tragischen Tod einer Lehrerin in Arizona berichtet, die gemeinsam mit zwei Kolleginnen aus einem Schulraum heraus ihren Schülern Online-Instruktionen gab. Alle drei erkrankten an Covid-19. Kimberley Chavez Lopez Byrd (61) starb am 24. Juni, weniger als zwei Wochen, nachdem sie mit akuter Atemnot ins Krankenhaus eingeliefert worden war.
Die Studie in Sachsen dient offensichtlich nur einem einzigen Zweck: Sie muss die Rechtfertigung dafür liefern, dass nach den Ferien die Schulen ohne Einschränkung wieder geöffnet werden. Das hat Sachsens Kultusminister Christian Piwarz vollkommen deutlich gemacht. Es sei richtig gewesen, so Piwarz, schon früh wieder mit dem Schulbetrieb zu beginnen. Am 31. August sollen nun alle Jahrgangsstufen uneingeschränkt wieder mit dem Regelbetrieb beginnen. „Die Schülerinnen und Schüler werden dann wie gewohnt in ihren Klassen und Kursen nach den geltenden Stundentafeln und Lehrplänen unterrichtet“, so Piwarz – also ohne jede Pandemie-Maßnahme, ohne Abstandsgebot und Maskenpflicht, und ohne dass die Lehrer und Erzieher getestet werden.
Piwarz rechtfertigte diese Mitteilung mit den Worten, das „Recht der Kinder und Jugendlichen auf Bildung und Teilhabe und die Chancengerechtigkeit“ dürften „nicht leichtfertig unter die Räder geraten“. Das ist nichts als ein wohlfeiler Vorwand dafür, alle Vorsichtsmaßnahmen fallen zu lassen. Der sächsischen Landesregierung geht es keineswegs um die Rechte der Kinder und Jugendlichen – im Gegenteil. Es geht darum, dem Druck der Wirtschaft auf möglichst rasche Rückkehr zum Normalbetrieb nachzukommen.
Das wird in Sachsen besonders deutlich. Das Bundesland ist Standort von fünf großen Autowerken, drei von VW und je eins von BMW und Porsche, und von 780 Zuliefer-Unternehmen. Allein die Autoindustrie beschäftigt in Sachsen rund 95.000 Arbeiterinnen und Arbeiter. Traditionell gibt es hier auch eine starke Maschinen- und Anlagenproduktion.
Gerade in Sachsen leben viele Familien, in denen beide Eltern arbeiten und stärker darauf angewiesen sind, dass die Kinder tagsüber betreut sind. Das zeigt schon ein kurzer Vergleich der Kita-Betreuung in den „alten“ und „neuen“ Bundesländern, die 40 Jahre lang zur DDR gehörten. Während die Tagesbetreuung der Unter-Dreijährigen in Ostdeutschland durchwegs mehr als 50 Prozent beträgt, reicht sie im Westen von gut 27 Prozent (in Nordrhein-Westfalen) bis höchstens 44 Prozent (in Hamburg).
Die hohe Doppelerwerbstätigkeit hat natürlich vor allem soziale Gründe, da die Löhne im Osten immer noch deutlich niedriger als im Westen sind. Außerdem ist Sachsen das Bundesland mit der höchsten Quote an Wochenend-, Nacht- und Schichtarbeit. Dabei sind die Löhne trotz dieser hohen Arbeitsbelastung deutlich niedriger als im Bundesdurchschnitt, und nur 39 Prozent der Beschäftigten werden nach Tarif bezahlt.
Aus all diesen Gründen ist es kein Zufall, dass Sachsen – wie auch Thüringen – bei den Lockerungen und Schul- und Kita-Öffnungen den Anfang macht. Auch in Thüringen soll nach den Sommerferien der Regelbetrieb in den Schulen und Kitas wieder vollständig anlaufen.
In Thüringen regiert die Linke unter Bodo Ramelow zusammen mit der SPD und den Grünen. In Sachsen ist es die CDU von Michael Kretschmer, die seit Januar mit SPD und Grünen in der „Kenia-Koalition“ regiert. Die riskanten Schulöffnungen in diesen Ländern zeigen deutlich, dass es egal ist, welche parlamentarische Partei am Ruder ist. Mit ihren Pandemie-Entscheidungen zeigen sie alle ihr wahres Gesicht, und kein demonstrativ getragener Mundschutz kann das verbergen: Ihr Ziel besteht darin, die Interesse der Banken und Konzerne durchzusetzen, auch wenn es auf Kosten von Gesundheit und Leben der Kinder, ihrer Familien und der Lehrer und Erzieher geht.
Diese Politik stößt auf wachsenden Widerstand. Das zeigt insbesondere in den sozialen Netzwerken. Die Sachsen-Studie, schreibt etwa ein Twitter-User, „liefert einen Persilschein für sämtliche Experimente“. Ein anderer schreibt: „Wir wollen sichere Schulen! Warum sonst über Tönnies schimpfen?!“
Ein Elternteil berichtet, es habe beim sächsischen Kultusministerium nachgefragt, wie man sich dort die vollständige Schulöffnung für Risikokinder und deren Geschwister vorstelle. „Antwort 1: Die Studie von Herrn Berner hat ja nun bewiesen, dass Kinder ein Bremsklotz der Pandemie sind. Antwort 2: Wenn das so schlimm für ihr Kind ist, dann kann es ja auch nicht in der Grippesaison in die Schule.“ Diese Leute, so der Kommentar, „entscheiden tatsächlich über die Gesundheit unserer Kinder“.