Von Schirachs „Feinde“: ARD stellt Polizeifolter zur Diskussion

Die ARD hat das neue Jahr mit einem ganz besonderen Fernsehereignis begonnen: Sie stellte die Frage in den Raum, ob es „gerecht“ sei, dass die Polizei Verdächtige nicht foltern darf.

Der Aufwand dazu war beträchtlich: Ein Fernsehfilm mit dem Titel „Feinde“ lief über je 90 Minuten in zwei unterschiedlichen Versionen. Die erste, Untertitel „Gegen die Zeit“, lief im Ersten zur besten Sendezeit, Sonntagabend um 20:15 Uhr. Es folgte eine halbstündige „Dokumentation“ zur Frage „Recht oder Gerechtigkeit“, in der ein ausgewähltes Publikum von „Eltern, Polizisten und Juristen“ über das im Film gefällte Urteil abstimmen durfte. Anschließend lief die zweite Version, „Das Geständnis“.

Damit möglichst viele Zuschauer den Film verfolgten, strahlten ihn zeitgleich, aber in umgekehrter Reihenfolge, auch alle Dritten Programme sowie das Programm ONE aus. Dazu kam ein „Web-Special“, das sich auf „die juristischen Fragen konzentrieren sollte“, eine „Dokumentation“ mit diversen Interviews und separate Interviews mit dem Drehbuchautor, dem bekannten Schriftsteller und Rechtsanwalt Ferdinand von Schirach, sowie den Hauptdarstellern Klaus Maria Brandauer und Bjarne Mädel. Alle genannten Sendungen sind noch in der Mediathek der ARD abrufbar.

Der Plot ist so konstruiert: Der Wachmann einer reichen Familie entführt deren ihm bekannte Tochter, um Geld zu erpressen, und hinterlässt dabei keine verwertbaren Spuren. Der leitende Ermittler, Kommissar Peter Nadler (Mädel), kommt trotzdem intuitiv auf ihn. Der Verdächtige leugnet im Verhör jedoch. Nadler stellt einen Antrag bei der Polizeipräsidentin, ihn unter ärztlicher Aufsicht foltern zu dürfen. Diese lehnt ab. Der Kommissar unterzieht den Entführer darauf selbst der Folter mittels Waterboardings. Der gesteht daraufhin und gibt das Versteck des Mädchens preis. Zu diesem Zeitpunkt ist das Mädchen aber schon tot.

Vor Gericht kommt es zum Duell zwischen Nadler und dem Verteidiger des Entführers, Rechtsanwalt Biegler (Brandauer). Zunächst streiten sich die beiden, ob „Rettungsfolter“ (der Kommissar betont, es sei ihm darum gegangen, schnell den Aufenthaltsort des Mädchens zu erfahren, um ihr Leben zu retten) angemessen sei, schließlich entlockt Biegler dem Polizisten das Geständnis, ja er habe den Entführer, den „Schuldigen“, gefoltert. Daraufhin wird dieser freigesprochen, denn andere Beweise als das durch Folter erpresste Geständnis gibt es nicht.

Die zwei Versionen des Films unterscheiden sich nicht wesentlich: „Gegen die Zeit“ nimmt die Sicht des Kommissars ein. Vor allem durch Kameraeinstellungen soll plausibel gemacht werden, dass dieser ohne ernsthaften Beweis intuitiv erahnt, dass der überhebliche und gemein dreinblickende Wachmann der Täter ist. „Das Geständnis“ soll die Perspektive des Verteidigers einnehmen und zeigt den Anwalt als gesetzten, kultivierten und offensichtlich der gebildeten Oberschicht zugehörigen Herrn, der gutem Essen und Trinken zugetan ist und in Konflikt mit seiner Frau gerät, weil diese mit der Familie des Entführungsopfers bekannt ist.

Ob das Urteil (Freispruch des Entführers) „gerecht“ ist, fragte nun die ARD ihr ausgewähltes Testpublikum. Das Ergebnis: die Mehrheit der Eltern sagt nein, die Mehrheit der Polizisten ebenfalls, die Mehrheit der Juristen sagt ja.

Weder Schirach noch ARD-Verantwortliche machen einen Hehl daraus, dass der Film auf einer realen, fast zwanzig Jahre zurückliegenden Begebenheit beruht: Der Entführung und Ermordung des 11-jährigen Bankierssohns Jakob von Metzler durch den mit der Familie bekannten Jura-Studenten Magnus Gäfgen.

Umso bemerkenswerter ist, dass die erheblichen Unterschiede zum realen Fall nicht benannt, geschweige denn erklärt werden: Es war mit Wolfgang Daschner der Frankfurter Polizeivizepräsident selbst, der in einem Aktenvermerk festgehalten hatte, Gäfgen solle nach vorheriger Androhung und unter ärztlicher Aufsicht durch Zufügung von Schmerzen zur Aussage über den Aufenthaltsort von Jakob gezwungen werden. Die Androhung genügte, Gäfgen sagte aus und wiederholte später vor Gericht, als die Folterdrohung bereits bekannt war, ohne Zwang seine Aussage noch einmal.

Für die Folterdrohung durch die Polizei erhielt der Entführer später eine Entschädigung, die mit seinen Schulden verrechnet wurde; an seiner Verurteilung änderte das nichts. Der die Drohung ausführende Polizeibeamte und sein Vorgesetzte Daschner, der ihn angewiesen hatte, wurden unter Vorbehalt geringer Geldstrafen der Nötigung (nicht jedoch der eigentlich einschlägigen Aussageerpressung) schuldig gesprochen. Das Gericht bescheinigte ihnen eine ehrenwerte Gesinnung und sprach eine Verwarnung mit Strafvorbehalt ohne Bewährungsauflagen aus, ein Beinahe-Freispruch, mit dem sie nicht als vorbestraft galten und der ihre Beamtenkarriere rechtlich nicht behinderte.

Daschner hatte sich, anders als der fiktive Kommissar, nicht im Geringsten bemüht, die angedrohte Folter zu verheimlichen. Während im Film die fiktive Polizeipräsidentin beschied, Folter sei unter allen Umständen verboten, war es in der Realität der Frankfurter Polizeivizepräsident selbst, der sie anordnete und darüber sogar einen Aktenvermerk fertigte.

Er erhielt dafür massive politische Unterstützung, nicht nur von der Boulevardpresse, sondern auch vom hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU), von der Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD), vom damaligen Vorsitzenden des Richterbundes und späteren Justizminister von Sachsen, Geert Mackenrooth (CDU), von führenden Vertretern des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, diversen Jura-Professoren und auch dem späteren Mitbegründer der Linkspartei Oskar Lafontaine. Dies zu einer Zeit, als bereits bekannt war, dass die CIA tatsächlich Waterboarding anwandte und dies auch von der US-Regierung von George W. Bush im Namen des „Kampfs gegen Terrorismus“ ganz offiziell unterstützt wurde.

Es wird bei Schirachs Filmen nicht einmal angedeutet, dass in Deutschland höchste Vertreter von Staat, Recht und Politik dafür eintraten, dass die Polizei wieder Folter anwenden dürfe, natürlich nur „in Ausnahmefällen“, „um unschuldige Menschenleben zu retten“ und was dergleichen mehr im Film vom fiktiven Kommissar vorgebracht wird.

Dass der Autor der Filmhandlung Schirach selbst ein Gegner der Folter ist, soll nicht bestritten werden. Er lässt den fiktiven Verteidiger Biegler diverse stichhaltige Argumente dagegen vorbringen: Wann genau liegt denn ein Ausnahmefall vor, in dem gefoltert werden darf? Wie weit soll der Staat denn bei der „Rettungsfolter“ gehen dürfen? Müsste es dann nicht Regelungen dazu geben, Vorschriften wann und in welcher Weise gefoltert werden darf, ja muss?

Dies wird jedoch weitgehend dadurch konterkariert, dass im Film – in beiden Versionen – feststeht, dass der Gefolterte schuldig ist und der Kommissar, der verzweifelt das Leben des unschuldigen Kindes retten will, hierfür nur die Alternative hat, foltern oder „eben keine Antwort bekommen“, wie es Film-Anwalt Biegler lapidar sagt.

Schirach betont zwar in Interviews, es ginge ihm darum, den Zuschauer dazu zu bringen, auch andere Perspektiven einzunehmen, die eigene Position zu hinterfragen etc. Dabei sei es auch „nicht schlimm“, wenn der Zuschauer sich auf Seiten des Kommissars stelle. Wie bei ihm üblich, sieht er Rechtsfragen nicht als Machtfragen, sondern als Spannungsverhältnis zwischen Moral und Gesetz. Nicht anders als in unzähligen Polizeifilmen erscheint der Kommissar weniger als ein Vertreter der Staatsmacht, sondern als Kämpfer für das Gute, der vom „formalen“ Recht daran gehindert werden soll, das Richtige zu tun.

Und das moralisch Richtige ist in dieser Inszenierung dann eben nicht die wohlfeile juristische Spitzfindigkeit im Gerichtssaal oder bei einem guten Essen, sondern Leben und Menschenwürde der Opfer, die der sympathische Kommissar, der selbst eine Tochter hat, höher bewertet als die Menschenwürde des schuldigen Täters.

Der Ausgang der von der ARD inszenierten Abstimmung, ob denn das Recht (Verbot der Folter des Kindesentführers) hier auch gerecht sei (mehrheitliche Antwort von Eltern und Polizisten: Nein), kommt da nicht wirklich überraschend. Das Folterverbot erscheint als im Grunde unmoralischer und illegitimer Täterschutz, der die Polizei daran hindert, unschuldige Menschenleben zu retten und Schuldige zu bestrafen.

In einer Spiegel-Kolumne kritisierte der ehemalige Richter am Strafsenat des BGH und Verfasser eines Standardkommentars zum Strafgesetzbuch, Thomas Fischer, die Sendung scharf. Er schrieb:

Und es geht auch nicht darum, ob Tätern Leid angetan oder Schmerz zugefügt werden darf. Die Frage, die sich tatsächlich stellt, ist einfach zu beantworten: Jeder Leser oder Zuschauer möge sich vorstellen, irgendein Kriminalkommissar habe das „Gefühl“, dass er Mitglied einer Räuberbande sei oder dass sein Sohn ein Kind sexuell missbraucht habe. Wäre es moralisch in Ordnung, wenn der Polizeibeamte dem verdächtigen Leser/Zuschauer mit einem Hammer den kleinen Zeh zerschlägt, um herauszufinden, ob er etwas Sachdienliches weiß? Wenn nein: warum nicht? (…) Es geht also nicht um den Mörder X oder den Kindesentführer Y in Filmen und Fallgeschichten, sondern ganz direkt um jeden Bürger. Wer den des Mordes verdächtigen Herrn G. „moralisch“ foltern lassen will, müsste auch zustimmen, dass er selbst gefoltert wird, sein Ehepartner oder Kind. Man kann die Folter nicht aus immanenten Gründen der „Ungeeignetheit“ und nur mühsam aus überzeitlichen Gründen der Moralphilosophie ablehnen. Es geht um die Staatsverfassung und die Grundlagen der Demokratie.

Die World Socialist Website hatte vor fast zwanzig Jahren zum Fall Gäfgen/Daschner geschrieben:

Das Argument, Folter sei dann gerechtfertigt, wenn ein Notstand vorliege und ein höheres Rechtsgut wie das Leben Unschuldiger auf dem Spiel stehe, öffnet letztlich alle Schleusen. Rechtfertigende Notstände gibt es zuhauf. Jeder Kriegsgefangene könnte dann „rechtmäßig“ gefoltert werden, wenn er (vielleicht) über wichtige Informationen verfügt, mit denen das Leben eigener Soldaten gerettet werden kann.

In einem weiteren Artikel erklärten wir:

Ohne Zweifel ist es für vernehmende Polizisten eine „schwierige Situation“ und sogar eine „Provokation“, wenn ein Angeklagter von seinem Recht zu schweigen Gebrauch macht. Es gibt in der Geschichte der Folter bis heute wohl auch kaum jemanden, der für Anwendung nicht eine „ehrenvolle Gesinnung“, eine „schwierige Situation“ oder gar eine „Ausnahmesituation“ geltend gemacht hätte. Die Verteidigung des einzig wahren Glaubens gegen Ketzerei und Teufelswerk, der Schutz von Staat und Nation gegen Kommunismus oder Separatismus, die Rettung von Menschenleben vor Terrorismus und Kriminalität, mit all diesen und ähnlichen „ehrenvollen“ Motiven haben sich Folterknechte weltweit stets „subjektiv im Recht gefühlt“.

Die WSWS warnte schon damals:

Für [Daschners] Vorgesetzten, den Frankfurter Polizeipräsidenten, steht fest, dass er in einer „Notstandssituation“ gehandelt habe. Das ist rechtlich betrachtet nicht haltbar, denn Daschner befand sich in keiner Ausnahmesituation, sondern in einer, bei der für das Verhalten staatlicher Zwangsorgane genau geregelte Ge- und Verbote in den Polizeigesetzen und der Strafprozessordnung bestehen. Einem ermittelnden Polizeibeamten ist eben nicht alles erlaubt, was einem verzweifelten Angehörigen erlaubt ist, der zufällig in eine lebensbedrohende Situation hineingeraten ist und auf keine staatliche Hilfe hoffen kann.

Trotzdem argumentieren die meisten von Daschners Verteidigern so, als wären Ermittlungsverfahren wegen schweren Straftaten, bei denen Menschenleben auf dem Spiel stehen, ein völlig neues Phänomen, an das der Gesetzgeber beim Verbot von Folter und Willkür nicht gedacht habe. Tatsächlich weiß jeder, dass Mord und Totschlag, Entführung und Terrorismus, Hoch- und Landesverrat schon lange vor den heutigen Strafgesetzen existiert haben. Dasselbe gilt für Folter und Todesstrafe.

Relativ neu dagegen – geschichtlich betrachtet – ist die Begrenzung der staatlichen Zwangsgewalt auch und gerade gegenüber vermeintlichen wie tatsächlichen Schwerverbrechern. Sie ist ein Produkt der Aufklärung, der demokratischen Revolution und der Arbeiterbewegung. Zum Durchbruch verhalf ihr die Erfahrung mit den faschistischen Diktaturen im Zweiten Weltkrieg, jedenfalls in Westeuropa und den USA.

Heute, wo die Welt mit brutalen Eroberungskriegen wieder kolonialisiert und unter den westlichen Mächten aufgeteilt werden soll, werden in herrschenden Kreisen auch Dinge wie die Wahrung von Folterverbot, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im In- und Ausland zunehmend als überholt angesehen.

Dies ist heute aktueller denn je. Die herrschende Klasse in Deutschland gewöhnt sich in der Corona-Pandemie daran, täglich hunderte oder auch über tausend Menschen qualvoll auf Intensivstationen sterben zu lassen, weil sie „abwägt“ zwischen kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen und Menschenleben, die diesen Interessen geopfert werden. Gleichzeitig rüstet sie die Bundeswehr auf und bereitet sich auf neue weltweite Kriege in weit größerem Ausmaß als bisher vor.

In dieser Situation veranstaltet das öffentlich-rechtliche Fernsehen eine angeblich „offene Diskussion“, ob elementarste demokratische Rechte wie das Folterverbot denn noch moralisch gerecht seien. Moralisch handelt in dem Stück nur einer: Der Polizist, der einen Verdächtigen foltert. Das ist eine sehr ernste Warnung.

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