Daschner-Prozess: Staatsanwaltschaft fordert Beinahe-Freispruch

Im Prozess gegen den Vize-Präsidenten der Frankfurter Polizei Wolfgang Daschner hat die Staatsanwaltschaft auf schwere Nötigung plädiert. Während jedoch die Mindeststrafe für schwere Nötigung eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten ist, fordert die Anklage lediglich die Verurteilung zu einer Geldstrafe, die dazu noch auf Bewährung ausgesetzt werden soll. Eine richterliche Ermahnung mit Strafvorbehalt also, wie es im Juristendeutsch heißt.

Daschner hatte im Oktober 2002 Magnus Gäfgen, dem Entführer des 11-jährigen Bankierssohns Jakob von Metzler, schwere Schmerzen androhen lassen, wenn er nicht das Versteck des Kindes verrate. Daraufhin gab Gäfgen zu, dass der Junge bereits tot sei. Gäfgen wurde später wegen Mordes mit besonderer Schwere der Schuld zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

Für viele Prozessbeobachter kam die Strafforderung der Staatsanwaltschaft gegen Daschner als Überraschung, teilweise auch als Schock. Die Berliner Zeitung vom 10. Dezember schreibt: "Niemand muss an den Zweck der Strafen glauben, aber erwartet werden darf, dass Staatsanwälte dem Strafrecht Respekt erweisen. Daran fehlt es, wenn ein Ankläger in der Misshandlung durch Polizeibeamte zu Recht das Ende des Rechtsstaats erkennt und an den generalpräventiven Zweck des Strafens erinnert, der von ihm empfohlene Schuldspruch aber von einem Freispruch kaum zu unterscheiden ist."

Der Kommentar warnt, wenn das Gericht der Staatsanwaltschaft folgen würde, "werden die Deutschen die Folgen der Abschreckung vielleicht bald zu spüren bekommen - sofern sie sich auf einem Polizeirevier auf ihr Recht zu schweigen berufen."

In seinem Plädoyer zählte Staatsanwalt Wilhelm Möllers zunächst lange auf, wogegen Daschner alles verstoßen hatte: Europäische Menschenrechtskonvention, Grundgesetz, Strafgesetzbuch, Strafprozessordnung, Hessisches Polizeigesetz. Er wies darauf hin, dass fast alle untergebenen Polizeibeamten die Folterdrohung abgelehnt hatten, dass sie auch kein "letztes Mittel" gewesen sei, der Polizeipsychologe sie abgelehnt und sich stattdessen erfolglos für eine Konfrontation Gäfgens mit den Geschwistern des Opfers, die dafür auch zur Verfügung standen, ausgesprochen habe. Rechtfertigungsgründe für das Verhalten Daschners habe es nicht gegeben, das sei für jeden Polizisten in der Grundausbildung zu erkennen gewesen. Die Gefahr eines Dammbruchs sei gegeben, "die Tür zu einem dunklen Raum" habe sich geöffnet.

"Eine Stunde lang steuert das Plädoyer des Staatsanwalts in Richtung Höchststrafe", schreibt die Frankfurter Rundschau, "Dann bricht das Ruder." Weil der Angeklagte aus ehrenvoller Gesinnung in schwieriger Situation und provoziert durch Gäfgens Lügen gehandelt hätte, weil er sich subjektiv im Recht gefühlt und nichts zu vertuschen versucht hätte, stelle sich seine Schuld als gering dar. So gering, dass eine Geldstrafe vorbehalten bleiben könne und eine richterliche Ermahnung ausreichend sei.

Zudem behauptete Staatsanwalt Möllers, Daschner sei einsichtig, Wiederholungsgefahr nicht gegeben. Letzteres ist nach dem Inhalt der Verhandlung schlicht falsch. Tatsächlich hatte Daschner betont, die gesetzlichen Regelungen müssten geändert werden, das Recht also zukünftig seinem Verhalten angepasst werden und nicht umgekehrt. Von Unrechtsbewusstsein oder gar Reue keine Spur. Im Gegenteil: Die öffentliche Kritik an seinem Verhalten bezeichnete er als "Kampagne".

Die Milde der Staatsanwaltschaft ist umso bemerkenswerter, wenn man sie mit dem Urteil gegen Gäfgen vergleicht. Ihm wäre aufgrund der Unverwertbarkeit seiner unter Folterdrohung zustande gekommener Aussage die Ermordung von Jakob nicht nachweisbar gewesen. Trotzdem wiederholte er das Geständnis vor Gericht, trug also in einem Akt tätiger Reue nicht nur zu einer raschen juristischen Aufarbeitung, sondern auch der eigenen Verurteilung bei. Doch trotzdem und obwohl auch Gäfgen keine Vorstrafen hatte, wurde er zur höchstmöglichen Strafe verurteilt, durch die gerichtliche Feststellung der besonderen Schwere der Schuld auch ohne Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung.

Es ist ein seit dem Ende der Inquisition unbestrittener rechtsstaatlicher Grundsatz, dass kein Angeklagter sich selbst belasten muss. Dieser Grundsatz ist in der Gefahrenabwehr zwar eingeschränkt, Folter ist jedoch auch hier ausdrücklich und absolut verboten: "Unmittelbarer Zwang", also Gewalt, "zur Abgabe einer Erklärung ist ausgeschlossen", heißt es in § 52 Absatz II des hessischen Polizeigesetzes.

Ohne Zweifel ist es für vernehmende Polizisten eine "schwierige Situation" und sogar eine "Provokation", wenn ein Angeklagter von seinem Recht zu schweigen Gebrauch macht. Es gibt in der Geschichte der Folter bis heute wohl auch kaum jemanden, der für Anwendung nicht eine "ehrenvolle Gesinnung", eine "schwierige Situation" oder gar eine "Ausnahmesituation" geltend gemacht hätte. Die Verteidigung des einzig wahren Glaubens gegen Ketzerei und Teufelswerk, der Schutz von Staat und Nation gegen Kommunismus oder Separatismus, die Rettung von Menschenleben vor Terrorismus und Kriminalität, mit all diesen und ähnlichen "ehrenvollen" Motiven haben sich Folterknechte weltweit stets "subjektiv im Recht gefühlt".

Staatsanwalt Möllers steht mit seiner Haltung aber nicht alleine da. So erschien in der Wochenzeitung Die Zeit am 9. Dezember ein Aufsatz des Mainzer Strafrechtsprofessors Volker Erb, der Freispruch für Daschner forderte, weil dieser in Notwehr bzw. Nothilfe gehandelt habe. Erb behauptet zunächst, der Staat sei zur Rettung des Lebens des Entführungsopfers unbedingt verpflichtet, dies gehe dem Schutz der Menschenwürde des Täters vor. Hier sollte man sich daran erinnern, dass in den 70-er Jahren die Familienangehörigen des von RAF-Terroristen entführten Hanns-Martin Schleyer das Bundesverfassungsgericht anriefen, um die damalige Bundesregierung per Eilantrag zu verpflichten, den Forderungen der Entführer nachzugeben, um das Leben des Opfers zu retten. Das Gericht lehnte ab, der Lebensschutz sei nicht absolut, die Regierung habe einen Ermessensspielraum. Schleyer wurde ermordet.

Auch beim Fall Daschner stellt sich die Frage: Wenn es tatsächlich nur um die Rettung des Lebens des Kindes um jeden Preis ging, warum bot Daschner dem Entführer dann nicht die Freilassung an, wenn dieser den Aufenthaltsort des Opfers nennen würde?

Erb geht aber noch weiter. Zunächst bestreitet er, dass seine Argumentation dem Einsatz von Folter Tür und Tor öffnen würde. Der Staat und seine Beamten hätten nämlich genug "Differenzierungsvermögen" sie auf den "klar umrissenen Sonderfall der Notwehrlage" zu beschränken.

Erb behauptet dann, die Mehrheit des Volkes hätte erkannt, dass das Handeln von Daschner moralisch und menschlich richtig gewesen sei, und warnt, wenn er bestraft würde, müssten "die Bürger den Eindruck gewinnen, unser Recht (einschließlich des Folterverbots - das sollte vor allem die Vertreter von Menschenrechtsorganisationen veranlassen, ihren Ruf nach einer Bestrafung Daschners gründlich zu überdenken) sei in seiner Starrheit und Unflexibilität etwas ganz Furchtbares. In einer ohnehin durch verbreitete Staatsverdrossenheit geprägten Zeit könnten Ansehen und Akzeptanz unserer Rechtsordnung in der Bevölkerung hierdurch Schaden erleiden." Die darin beinhaltete logische Schlussfolgerung, das "gesunde Volksempfinden" nach 70 Jahren wieder zur Rechtsquelle zu machen, sprach Erb dann aber lieber doch nicht explizit aus.

Hier werden die Konsequenzen des Plädoyers von Staatsanwalt Möllers für Daschner und seines Rufs nach einem Urteil weit unterhalb der Mindeststrafe trotz eindeutiger Rechtslage klar. Derlei juristische Konstrukte wurden von rechten und konservativen Rechtslehrern bereits in den 20-er Jahren der Weimarer Republik entwickelt, bevor sie dann im Dritten Reich zu voller Blüte gelangten. Ob und wie jemand bestraft wird, der in das Recht von anderen auf Menschenwürde und Leben eingreift, soll weniger davon abhängen, was er getan hat. Abzustellen sein soll darauf, ob er dabei "ehrenvolle" Motive hatte.

Wer bestimmt aber, was ehrenvoll und moralisch ist und was nicht? Der liberale Jurist Hans Kelsen erklärte dazu 1926: "Und wer die Antwort sucht, der findet, fürchte ich, nicht die absolute Wahrheit der Metaphysik noch die absolute Gerechtigkeit des Naturrechts. Wer den Schleier hebt und sein Auge nicht schließt, dem starrt das Gorgonenhaupt der Macht entgegen." (zitiert nach: Schröder, Rechtsgeschichte, Münster 2000, S. 150).

Siehe auch:
Wird Folter in Deutschland wieder hoffähig?
(26. November 2004)
Im Notstand Folter? Vizepräsident der Frankfurter Polizei wegen Folterandrohung vor Gericht
( 3. Juli 2004)
Der angeblich linke Sozialdemokrat Lafontaine verteidigt Folter
( 25. Mai 2004)
Rechtsstaat oder Polizeistaat? Zur Debatte über die Zulässigkeit von Folter
( 28. Februar 2003)
Loading