In der Türkei hat die Zahl der mit Covid-19 Infizierten ein Rekordniveau erreicht. Diese Entwicklung ist die Folge der mörderischen Politik der „Herdenimmunität“, die Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit Unterstützung der Gewerkschaften und der Oppositionsparteien im Parlament betreibt. Offenbar haben die staatliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit während der Pandemie nicht zum Ziel, die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen, sondern die Wut der Arbeiterklasse unter Kontrolle zu halten.
Mit fast 30.000 Neuinfektionen pro Tag liegt die Türkei weltweit an dritter Stelle nach den USA und Brasilien, und jetzt an erster Stelle in Europa. Die Zahl der Todesfälle liegt mit zuletzt über 200 pro Tag auf dem höchsten Stand seit dem 11. März, an dem der erste Fall in der Türkei entdeckt wurde.
Bis vor Kurzem hat sich die türkische Regierung geweigert, reale Zahlen über die Pandemie zu veröffentlichen, um die Arbeiter zur Rückkehr in die Betriebe zu zwingen und die Wut der Bevölkerung einzudämmen. Stattdessen machte sie einen willkürlichen und unwissenschaftlichen Unterschied zwischen Covid-19-„Fällen“ und -„Patienten“.
Allerdings haben die wachsende Empörung der Bevölkerung über unzureichende Einschränkungen und die Zahlen des türkischen Ärztebundes TTB und anderer Institutionen die Regierung endlich dazu gezwungen, die täglichen Neuinfektionen und die Gesamtzahlen bekanntzugeben. Am 25. November gab das Gesundheitsministerium 28.351 Neuinfektionen an einem Tag bekannt. Einen Tag zuvor hatte es nur 7.381 „Patienten“ vermeldet.
Am 10. Dezember gab das Gesundheitsministerium außerdem insgesamt 1.748.567 Fälle seit Beginn der Pandemie bekannt. Die Zahl der Infizierten und der Todesopfer sind dennoch nicht zuverlässig, da sie vermutlich zu niedrig eingeschätzt werden.
In der Türkei hat eine der weltweit größten Vertuschungsaktionen im Zusammenhang mit der Pandemie stattgefunden. Sie ist Teil der verbrecherischen Politik der „Herdenimmunität“, die die Regierungen weltweit im Interesse der Finanzaristokratie betreiben.
Der Vorsitzende des Ärztebundes TTB, Prof. Dr. Şebnem Korur Fincancı, erklärte, die jüngsten Zahlen des Gesundheitsministeriums seien nicht völlig transparent: „Die Aufstellung erwähnt 20 Millionen Tests. Wir wissen, dass die Positivraten, die im März und April bei etwa zehn Prozent lagen, seit Mitte November auf 30 Prozent gestiegen sind (...) Wenn die Positivrate der Tests bei durchschnittlich 15 Prozent liegt, sollte die Zahl der Fälle drei Millionen betragen.“ Experten bezeichneten es auch als unrealistisch, dass ein Drittel aller Fälle in den letzten Wochen verzeichnet wurden.
Auf der Website der Akademie der Wissenschaften Sarkac.org hieß es, vom 12. März bis zum 2. Dezember seien in Istanbul 13.857 mehr Menschen als im Durchschnitt von 2015 bis 2019 gestorben. Diese Zahl basiert auf Daten der Metropolregion Istanbul. Sie entsprach annähernd soviel wie die Gesamtzahl der Todesfälle durch Covid-19 (14.129), die das Gesundheitsministerium für die ganze Türkei bekanntgegeben hat. Das Gesundheitsministerium hat die Zahl der Covid-19-Toten in Istanbul seit dem 25. Oktober nicht mehr veröffentlicht.
Der Leiter der Friedhofsbehörde der Metropolregion Istanbul, Dr. Ayhan Koç, stellte wegen der steigenden Todeszahlen die folgende Frage: „Wenn es jedes Jahr pro Tag durchschnittlich etwa 200 Beerdigungen gibt, wie hat die Zahl der Beerdigungen dieses Jahr dann im November 400 erreicht? Wie erklären wir uns das? (...) Jeden Monat sind 11.500 Menschen gestorben; letztes Jahr lag der Durchschnittswert im November bei 6.000. Die Übersterblichkeit von 5.500 im November 2020 im Vergleich zu den letzten Jahren sollte auch die Verdoppelung der Beerdigungen erklären.“
Daten von 20 Städten, deren Bevölkerung 48 Prozent der Gesamtbevölkerung der Türkei ausmachen (fast 41 von 83 Millionen), zeigen zudem, dass bis zum 23. November 21.084 Menschen an Infektionskrankheiten gestorben sind. Das Gesundheitsministerium meldete am selben Tag offiziell jedoch nur eine Gesamtzahl von 12.511 Todesopfern durch Covid-19 im ganzen Land.
Letzten Monat kündigte die Erdoğan-Regierung eine landesweite nächtliche Ausgangssperre nur für die Wochenenden an. Danach wurden die Ausgangssperren auf Wochentage von 21 bis 5 Uhr ausgeweitet. Der Schulunterricht geht bis Ende des Jahres online weiter. Die Arbeitszeiten in Einkaufszentren, Märkten, bei Frisören und Barbieren sind auf die Zeit zwischen 10 und 20 Uhr begrenzt, Restaurants und Cafés dürfen Speisen nur zum Mitnehmen und Liefern anbieten.
Diese Maßnahmen zielen jedoch nicht darauf ab, die Pandemie einzudämmen und Menschenleben zu retten. Vielmehr sollen sie die wachsende Wut der Arbeiterklasse wegen der Art und Weise, wie die Regierung auf die Pandemie reagiert, unter Kontrolle halten. Erdoğan fasste zusammen, was die Priorität der Regierung ist. Er erklärte, die Ausgangssperre müsse umgesetzt werden, „um die Versorgungs- und Produktionsketten im Land nicht zu unterbrechen“.
Das bedeutet, die Regierung stellt die Profite der Kapitalisten über Menschenleben. Aufgrund dieser Einschränkungen, die nicht viel mehr als eine Alibifunktion haben, hat sich die Pandemie in der Türkei nicht ernsthaft abgeschwächt.
Die Impfstoffpolitik der Regierung offenbart das gleiche reaktionäre Kalkül. In der Türkei leben mehr als 83 Millionen Menschen, doch Gesundheitsminister Fahrettin Koca erklärte vor Kurzem, die erste Lieferung von 20 Millionen Dosen des in China entwickelten Impfstoffs CoronaVac werde im Dezember und Januar ankommen. Die zweite Lieferung von zehn Millionen Dosen soll dann im Februar eintreffen. Da pro Person zwei Dosen notwendig sind, bedeutet das, dass die Impfungen in nächster Zeit nicht ausreichen werden.
Millionen Menschen werden monatelang keinen Impfstoff bekommen, doch Koca konnte nicht leugnen, dass Reiche sich den Impfstoff privat aus China gekauft haben.
Experten auf der ganzen Welt warnen, dass Covid-19 die Menschheit noch lange Zeit bedroht, und ein vollständiger Lockdown wird notwendig sein, um Hunderttausende von unnötigen Todesfällen zu verhindern, bis die Impfungen Wirkung zeigen.
Zudem steht das Gesundheitssystem der Türkei am Rande des Zusammenbruchs. Der Zentralrat des TTB erklärte vor Kurzem: „In vielen Metropolen teilen Krankenhausverwaltungen, Stadtverwaltungen, Ärztekammern, Gesundheits- und Berufsverbände ihre Informationen mit der Öffentlichkeit. Sie sagen, die öffentlichen Krankenhäuser seien voll und es gebe wegen der wachsenden Zahl von Patienten keinen Platz mehr in den Intensivstationen.“
Insgesamt wurden mehr als 120.000 Pflegekräfte positiv auf das Virus getestet, und bis zum Montag sind 249 gestorben. Mittlerweile sterben jeden Tag vier bis fünf Pflegekräfte. Die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen sind schlimm, und keine Verbesserungen sind in Sicht. Die Regierung ignoriert ihre Forderung, Covid-19 als Berufskrankheit einzustufen.
Die Gefahr einer sozialen Explosion ist so groß, dass selbst die bürgerliche oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) vor Kurzem einen mindestens 14-tägigen Lockdown gefordert hat. Tatsächlich haben die CHP und ihre Verbündeten bisher nur taktische Kritik an der Regierung geäußert und sich nicht gegen die Politik der „Herdenimmunität“ der Finanzaristokratie gestellt. Angesichts der zunehmenden Wut der Bevölkerung, vor allem der Pflegekräfte, über den Zusammenbruch des Gesundheitssystems waren Gewerkschaftsbünde wie Türk-İş, Hak-İş, DİSK und KESK sowie Facharbeitergewerkschaften gezwungen am 6. Dezember einen „vollständigen Lockdown“ gegen Covid-19 zu fordern.
Sie schlugen folgende Forderungen vor: „Einstellung der Produktion in allen Arbeitsstätten und Unternehmen für 21 Tage, mit Ausnahme der Bereiche Gesundheit, Stadtverwaltung, Reinigung, Strom, Nahrungsproduktion und Verkauf. Außerdem ein uneingeschränkter Lockdown und kostenlose Covid-19-Test. An den Arbeitsstätten sollen Pandemiekomitees gebildet werden, und alle Löhne, wie auch menschenwürdige, existenzsichernde Arbeitslosen-Gelder müssen bezahlt werden.“
Diese „Forderungen“ sind jedoch ohne Bedeutung, denn die Gewerkschaften haben nicht zum Streik aufgerufen, um die Regierung zur Umsetzung der Maßnahmen zu zwingen. Tatsächlich sind alle Gewerkschaftsbürokratien für die Reaktion der Regierung auf die Pandemie mitverantwortlich. Sie teilen die Sorgen der herrschenden Klasse, und die größte Sorge ist die Furcht vor der wachsenden Wut der Arbeiterklasse.
Die oppositionsnahe DİSK erklärte am 30. März, sie könne innerhalb von 48 Stunden das verfassungsgemäße Recht anwenden, Arbeit unter unsicheren Bedingungen zu verweigern. Letztlich rief sie jedoch nicht zu Streiks auf. Die KESK, die ebenfalls von bürgerlichen Parteien und ihren pseudolinken Komplizen kontrolliert wird, unterstützte im September offen die Kampagne zur Rückkehr in die Schulen.
Das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) und seine Sektionen und Sympathisantengruppen auf der ganzen Welt rufen alle Arbeiter auf, Sicherheitskomitees zu organisieren und einen internationalen Generalstreik politisch vorzubereiten. Nur so kann die Schließung von Schulen und allen nicht lebenswichtigen Arbeitsplätzen mit voller Einkommensentschädigung für alle betroffenen Arbeiter und Kleinunternehmer erzwungen werden. Der Weg vorwärts gegen die Pandemie und zur Rettung von Menschenleben ist die unabhängige politische Intervention der internationalen Arbeiterklasse gegen die mörderische Politik der herrschenden Klasse und für den Sozialismus.