Covid-19 breitet sich unter Ford-Arbeitern in der Türkei aus

Bereits kurz nach der Wiedereröffnung des Ford-Otosan-Werks in Gölcük in der türkischen Provinz Kocaeli am 4. Mai wurden mehrere Covid-19-Fälle in der Belegschaft gemeldet. Trotzdem wird die Produktion fortgesetzt. Auch in den USA sind Autoarbeiter trotz der weitverbreiteten Wut über die Autokonzerne gezwungen, wieder in die Betriebe zu gehen. Das zeigt, dass unsichere und sogar tödliche Bedingungen in der Pandemie ein internationales Problem sind, mit dem Arbeiter in allen Ländern konfrontiert sind.

Der erste Fall wurde letzten Montag gemeldet. Arbeiter des Autowerks erklärten gegenüber der Tageszeitung Evrensel, dass ein Arbeiter in der Fertigungsabteilung infiziert ist. Mehmet Şener, ein Funktionär der Gewerkschaft Türk Metal, wies diese Behauptung zurück und erklärte, der Arbeiter befinde sich nur in Quarantäne, weil sich ein Mitglied seiner Familie infiziert habe: „Wir warten momentan auf die Testergebnisse.“

Das Management und die Gewerkschaft versuchten anfangs, die Lage vor den Arbeitern zu verheimlichen. Letzten Donnerstag musste die Ford-Leitung jedoch zugeben, dass es in der Fabrik mindestens zehn Fälle gibt. Das stellt nicht nur eine große Gefahr für die Arbeiter bei Ford dar, sondern auch für ihre Familien und Nachbarn. Die Gewerkschaft nimmt hier eine reaktionäre Haltung gegenüber den Arbeitern ein.

Im Vorfeld hatte sie ein Abkommen mit dem Arbeitgeberverband der Metallindustrie (MESS) abgeschlossen, laut dem die Arbeiter das gesetzliche „Recht auf Rückzug“, d.h. auf einen Streik gegen unsichere Arbeitsbedingungen haben, falls Corona-Infektionen in den Fabriken auftauchen. Das war natürlich nur eine weitere Lüge. Die Arbeiter dürfen ihr Schicksal nicht diesen korrupten unternehmensfreundlichen Gewerkschaften überlassen.

Sichere Arbeitsplätze können nur garantiert werden, wenn die Arbeiter unabhängig von den Gewerkschaften ihre eigenen Aktionskomitees aufbauen, um die Schutzbedingungen zu überwachen und notfalls die Produktion in nicht-systemrelevanten Bereichen einzustellen. Arbeiter, die ihr Recht auf Rückzug von der Arbeit ausüben, müssen während der Pandemie den vollen Lohn erhalten, damit der Kampf für sichere Arbeitsbedingungen nicht auf Kosten ihres Lebensstandards geht.

Die Situation der Autoarbeiter und anderer Teile der Arbeiterklasse verdeutlicht, wie notwendig es ist, dass sich die Arbeiter unabhängig von den Gewerkschaften organisieren und statt der Profite der Konzerne das Leben und die Bedürfnisse der Menschen verteidigen.

In den Autofabriken der Türkei sind etwa 50.000 Arbeiter direkt beschäftigt, dazu kommen jedoch noch Hunderttausende in der gesamten Zulieferkette. Die Wiedereröffnung der Autowerke ging einher mit einer „Normalisierungs“-Kampagne der Regierung und der Medien seit Ende April. Ford, Renault, Tofaş-Fiat, Mercedes Benz, Toyota, Hyundai, Honda und andere Autobauer haben im März oder Anfang April ihre Werke geschlossen, hauptsächlich wegen der Probleme mit den Lieferketten und des Nachfrageeinbruchs. Unabhängige Streiks der Autoarbeiter in Amerika und Europa haben die Versorgungsprobleme noch verstärkt.

Doch vor allem nach dem 20. April, dem Höhepunkt des Ausbruchs in der Türkei mit mehr als 4.500 neuen Fällen und 123 Toten, begannen die Autokonzerne ihre Werke wieder zu öffnen und zwangen die Arbeiter, unter unsicheren Bedingungen zu arbeiten. Nachdem Toyota und Tofaş-Fiat ihre Werke am 11. Mai wieder geöffnet hatten, hat auch der Rest der türkischen Autoindustrie die Produktion wieder aufgenommen, jetzt gefolgt von allen anderen großen Industriebranchen.

Die Erdoğan-Regierung hat nach Beginn der Pandemie nur kleine Betriebe geschlossen und versucht, die Profite der Kapitalistenklasse zu retten. Während des Lockdowns, der auf die Wochenenden begrenzt war, blieben viele Fabriken und Arbeitsstätten in nicht-systemrelevanten Bereichen mit Sondergenehmigungen geöffnet. Diese Politik hat alleine im April mindestens 103 Todesopfer unter Arbeitern gefordert. Die Rate der bestätigten Corona-Fälle unter Arbeitern ist fast dreimal so hoch wie der Landesdurchschnitt in der Türkei.

Gleichzeitig nutzt die herrschende Klasse der Türkei die Pandemie als Gelegenheit, um die Klassenverhältnisse neuzuordnen und einen massiven Angriff auf die Arbeiterklasse durchzusetzen. Die Erdoğan-Regierung bezeichnet das als die „neue Normalität“. Regierungssprecher İbrahim Kalın erklärte am Sonntag: „Wir sollten nicht vergessen, dass der Post-Corona-Prozess die neue Normalität ist. Die Bedingungen, die Dynamik und die Parameter der neuen Normalität entstehen jetzt... Nichts wird mehr so sein wie vorher.“

Auf dieser Grundlage ergreift die türkische Bourgeoisie ähnliche Klassenkriegsmaßnahmen gegen die Arbeiterklasse wie im Rest der Welt. Zum einen hat die Regierung letzten Monat ein neues Gesetz verabschiedet, das es Arbeitgebern ermöglicht, ihre Arbeiter für bis zu sechs Monate mit nur 39 Lira (6 Dollar) pro Tag in unbezahlten Urlaub zu schicken. Gleichzeitig hat die Regierung den herrschenden Eliten Milliarden zur Verfügung gestellt und zwingt die Arbeiter, sich zwischen Arbeit unter unsicheren Bedingungen und Hungertod zu entscheiden.

Zudem müssen Millionen Arbeiter von einem Hungerlohn leben. Laut einem aktuellen Bericht des Arbeitsministeriums haben fast drei Millionen Arbeiter nur durchschnittlich 1.590 Lira Kurzarbeitergeld erhalten, fast 800.000 Arbeiter erhalten durchschnittlich 500 Lira als Unterstützung bei unbezahltem Urlaub.

Am 7. Mai erklärte die Sozialversicherungsbehörde in einer Mitteilung, Todesfälle und Erkrankungen von Arbeitern durch Covid-19 könnten nicht als Berufskrankheit oder Unfall eingestuft werden. Deshalb müssen Arbeitgeber keine Entschädigung an Arbeiter oder ihre Familien zahlen, wenn sie an Covid-19 erkranken.

Zum anderen hat die Bankenregulierungs- und Aufsichtsbehörde (BDDK) Bank- und Callcenter-Beschäftigte, die von zu Hause arbeiten, gezwungen, ihre Webcams eingeschaltet zu lassen. Die BDDK erklärte in ihrem förmlichen Schreiben: „Das Personal der Callcenter wird von den Teams der Bank während der Calls mit Kameras überwacht.“

MESS hat ein weiteres übles System zur Überwachung der Arbeiter entwickelt – unter dem Vorwand, die sozialen Distanzierungsmaßnahmen durchsetzen zu wollen. Bei diesem System mit dem Namen „MESS-SAFE“ handelt es sich um eine elektronische Fessel, die um den Hals gehängt wird und alle Bewegungen eines Arbeiters verfolgt, aufzeichnet und weiterleitet. Sie misst die Distanz zu anderen Geräten in ihrem Umfeld und gibt eine Warnung ab, wenn die Distanzierungsregeln nicht eingehalten werden.

Außerdem kündigte die Unabhängige Vereinigung der Industriellen und Unternehmer (MÜSİAD) am Dienstag ein Projekt zum Bau von „isolierten Produktionsbasen“ an, damit die Produktion inmitten der Pandemie nicht angehalten und die Arbeiterklasse weiterhin ausgebeutet werden kann. Dieses Projekt wurde vor sieben Jahren als „mittelgroße Industrieanlagen“ entwickelt. Nach Beginn der Pandemie wurde es sofort entsprechend angepasst und erhielt die notwendigen gesetzlichen Genehmigungen für die Umsetzung.

Diese Anlagen sind darauf ausgelegt, 1.000 Familien und etwa 4.500 Menschen aufzunehmen. Tatsächlich sind sie moderne Arbeitslager. Sie werden als isolierte Wohneinheiten geplant, einschließlich Bildungseinrichtungen. Laut der offiziellen Erklärung sind diese Basen „in der Lage die Produktion im Inneren fortzusetzen, indem sie im Fall eines Ausbruchs oder einer möglichen Naturkatastrophe ihre Tore schließen. Sie werden alle verbundenen Depots sowie Speicherungs- und Sanitäranlagen steuern.“

Die erste „isolierte Produktionsbasis“ wird am 15. Juni in der nordwesttürkischen Stadt Tekirdağ eröffnet. Drei weitere Basen sollen in verschiedenen Provinzen gebaut werden, u.a. in Istanbul. Laut einem Sprecher von MÜSİAD sollen ähnliche Basen überall in der Türkei entstehen. Ein weiteres Beispiel für die reaktionäre Zusammenarbeit zwischen der Kapitalistenklasse und den Gewerkschaften ist die begeisterte Unterstützung der Gewerkschaft Hak-İş für dieses Arbeitslagerprojekt.

Die Arbeiterklasse kann gegen diese „neue Normalität“ – Arbeit unter Lebensgefahr, Massenarbeitslosigkeit, Lohnsenkungen, Arbeitslager und Abbau sozialer Rechte – und für die Verteidigung von Menschenleben nur kämpfen, wenn sie sich auf ein unabhängiges politisches Programm gegen das kapitalistische System und für den Sozialismus stützt.

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