Wachsende Wut unter Arbeitern über Verharmlosung von Covid-19 durch türkische Regierung

Das Coronavirus breitet sich in der Türkei rasch weiter aus. Dies ist nicht zuletzt die Folge der Entscheidung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan, der bürgerlichen Oppositionsparteien und der Gewerkschaften, die Wirtschaft zum 1. Juni wieder zu öffnen.

Wie in allen Ländern auf der ganzen Welt, ist auch in der Türkei die Corona-Pandemie durch die wirtschaftsfreundliche „Back-to-work“-Kampagne außer Kontrolle geraten. Die Regierung reagiert nur mit unzuverlässigen Stellungnahmen und Daten. Die offizielle Infektionszahl in der Türkei übersteigt 261.000 Fälle, darunter 6.150 Todesfälle. Die Zahl der registrierten Infektionsfälle betrug am vergangenen Dienstag 1.502, der höchste Wert seit dem 15. Juni.

Während sich die Pandemie an den Arbeitsplätzen weiter ausbreitet, zwingen Unternehmen und Behörden sogar die Infizierten zur Arbeit, was wachsenden Widerstand unter Arbeitern hervorruft.

Nachdem die Zahl der Covid-19-Fälle vor Ort zugenommen hatte, beschloss die Verwaltung der türkischen Provinz Artvin, die fast 4.000 Arbeiter am Yusufeli-Staudamm und auf den Baustellen des Wasserkraftwerks festzuhalten. Die Arbeiter antworteten am 25. August mit der Niederlegung ihrer Arbeit.

Ein Arbeiter berichtete auf sendika.org: „Es gab Arbeiter, die infolge dieses Prozesses kündigen wollten. Sie erhielten jedoch keine Genehmigung, und wir hörten, dass einigen unter ihnen gedroht wurde: ‚Sie bekommen dann weder Abfindung noch Arbeitslosengeld.‘ Sie zwingen uns, auf der Baustelle zu bleiben, und die Verwaltung stimmt zu.“

Im Juli zwang ein Fischkonservenunternehmen, Dardanel, in der westlichen Stadt Çanakkale, alle Arbeiter dazu, 14 Tage lang in der Fabrik zu arbeiten, obwohl mehr als 40 Arbeiter positiv auf das Coronavirus getestet worden waren. Diese Entscheidung wurde nicht nur von der Verwaltungseinheit der Provinz, sondern auch vom Bürgermeister der Stadt gebilligt, der zur Republikanischen Volkspartei (CHP) gehört. Das entlarvt die reaktionäre Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den so genannten Oppositionsparteien auf Kosten der Arbeiter.

Aus zahlreichen türkischen Provinzen gibt es immer neue Berichte über die Verbreitung des Virus in den Betrieben.

- In der Industriezone von Adana sind die Covid-19-Fälle in der letzten Woche sprunghaft angestiegen. Neben der generellen Verbreitung des Virus in der gesamten Industriezone wurden Dutzende positiver Fälle in den Fabriken von Atlas Denim, Erbey İplik Dokuma und Kastamonu Entegre festgestellt. Arbeiter meldeten mehr als 40 Fälle in den Fabriken Erbey İplik Dokuma und circa 10 Fälle in Kastamonu Entegre.

- In einer Textilfabrik in Zonguldak, in der 155 Arbeiter beschäftigt sind, wurden 43 Arbeiter positiv auf das Virus getestet. Die anderen Arbeiter wurden unter Quarantäne gestellt und die Produktion in der Fabrik eingestellt.

- 36 Arbeiter in der Söke-Mehlfabrik in Aydın wurden positiv auf das Virus getestet.

- Berichten zufolge wurden trotz der Zunahme der Covid-19-Fälle in der Industriezone von Manisa keinerlei Maßnahmen ergriffen. Allein in der Vestel-Fabrik gibt es ca. 1.000 Fälle, und mindestens acht Arbeiter sind gestorben.

- Das Virus verbreitet sich schnell unter den Postangestellten, die zu den am stärksten gefährdeten Risikogruppen gehören. Berichten zufolge haben sich 241 Arbeiter des staatlichen Postunternehmens PTT mit dem Virus angesteckt.

Auch unter den Beschäftigten des Gesundheitswesens, die am stärksten von der Pandemie betroffen sind, wächst die Wut über die Regierungspolitik. Letzte Woche veröffentlichte die Gesundheitsplattform Diyarbakır Daten über den aktuellen Zustand des medizinischen Personals. Der Erklärung zufolge haben sich im Gesundheitswesen in Diyarbakır 476 Arbeiter infiziert, darunter 130 allein in den letzten zwei Wochen.

Das Gesundheitspersonal in Diyarbakır organisierte am 20. August eine einstündige Arbeitsniederlegung, um auf die schwierigen Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen. Sie gaben eine Erklärung ab, in der es heißt, dass die Maßnahmen der Regierung unzureichend seien: „Innerhalb der vergangenen Woche haben wir zwei unserer Ärzte, einen Gesundheitstechniker und einen Leiharbeiter in Diyarbakır und Urfa verloren.“

In der Stadt Batman erklärte Deniz Topkan, Ko-Vorsitzender der Gewerkschaft der öffentlichen Angestellten im Gesundheits- und Sozialwesen (SES), vor kurzem, dass von 3.500 Beschäftigten im Gesundheitswesen dieser Stadt 700 positiv getestet worden seien.

Obwohl die Kapazität des Krankenhauses von 350 Betten auf 450 erhöht wurde, sei das Gesundheitssystem angesichts des starken Anstiegs der Fälle unzureichend ausgestattet, erklärte Topkan und fügte hinzu, dass in der vergangenen Woche sieben Menschen gestorben seien, während sie auf einen Behandlungsplatz in der Intensivstation gewartet hätten.

Berichte über die Infektionsfälle am Arbeitsplatz werden einzig durch Arbeiter auf den sozialen Medien verbreitet. Während sich die bürgerlichen Medien darüber ausschweigen und sich hinter die politischen Institutionen stellen, arbeiten die Gewerkschaften mit Behörden und Unternehmen zusammen, um die Zahl der Infektionsfälle in den Betrieben zu vertuschen. Die Arbeiter erkranken und sterben sogar, aber die Konzernleitungen und Gewerkschaften weigern sich, den Belegschaften die Infektionszahlen mitzuteilen.

In der Autofabrik BMC in İzmir, in der ca. 3.000 Arbeiter beschäftigt sind, gaben die Beschäftigten an, dass die Zahl der positiven Fälle von 12 in der vergangenen Woche auf 70 angestiegen sei. Die Produktion wurde eingestellt. Mürsel Öcal, der Zweigstellenleiter der Gewerkschaft Türk-Metal İzmir, bestritt, dass es Infizierte in der BMC gebe. Seine Erklärung über die Situation, „Fabriken sind die sichersten Orte in İzmir“, drückt die offene Verachtung der gesamten herrschenden Klasse und ihrer Lakaien für das Leben der Arbeiter aus.

Wissenschaftlern und medizinischen Experten zufolge liegen die offiziellen Infektionszahlen des Gesundheitsministeriums weit unter der tatsächlichen Zahl der Infektionen und Todesfälle. Sie sind damit in den Augen breiter Teile der Bevölkerung in keiner Weise mehr glaubwürdig. Sogar die Summe der von den Zweigstellen der Türkischen Ärztekammer (TTB) gemeldeten Zahlen für einige wenige Städte übersteigt die von dem Gesundheitsministerium angegebene nationale Gesamtzahl der täglichen Neuinfektionen.

Viele Ärzte, medizinisches Personal und Angehörige von Patienten berichten, dass viele Infizierte während der Behandlung von Covid-19 gestorben sind, jedoch auch andere Todesursachen angegeben wurden. Während die Zahl der Intensivpatienten und der intubierten Patienten in Krankenhäusern steigt, behauptet das Gesundheitsministerium, dass die Zahl der täglichen Todesfälle seit mehr als zwei Monaten nur zwischen 18 und 24 liege. Während in den sozialen Medien das medizinische Personal aus unterschiedlichen Provinzen berichtet, dass die Lage in den Krankenhäusern die schlimmste seit Beginn der Pandemie sei, liegen die offiziellen Zahlen deutlich unter den höchsten Raten, die in der Türkei verzeichnet wurden.

In einem Interview am 25. August sagte das Zentralratsmitglied der Türkischen Ärztekammer (TTB) Dr. Halis Yerlikaya: „Fast die Hälfte der durch das Ministerium angegebenen Zahlen stammen aus Diyarbakır … An dem Tag, an dem das Ministerium die Zahl der Infektionen in Höhe von 1.200–1.300 Fällen veröffentlichte, gab die Ärztekammer von Diyarbakır bekannt, dass alleine in Diyarbakır 601 Personen positiv getestet wurden. Wenn es Transparenz gebe und die tatsächlichen Zahlen bekannt würden, würden sich auch die Reflexe und das Verhalten der Gesellschaft eventuell dementsprechend entwickeln.“

Trotz des Anstiegs der Infektionszahlen, der Warnungen von Experten, dass die Pandemie in den kommenden Monaten zunehmen wird, sowie der verheerenden Beispiele aus Amerika und Europa, bereitet die Regierung die Wiedereröffnung der Schulen am 21. September vor. Im Oktober sollen außerdem Fußballspiele mit Tausenden von Fans ausgetragen werden.

Privatschulen, die die Regierung in den vergangenen Jahrzehnten stark gefördert und verbreitet hat, wurden bereits am 17. August wieder geöffnet. Die Lehrer öffentlicher Schulen kehrten am Montag im Zuge des sogenannten „Seminar“-Prozesses in die Schulen zurück. Diese Schulöffnungen, die von der Regierung durchgesetzt werden, finden im Rahmen der Öffnung der Wirtschaft statt.

Die Wiedereröffnung der staatlichen Schulen, die die Regierung ursprünglich für den 1. September geplant hatte, musste auf den 21. September verschoben werden, da die gesellschaftliche Opposition zunimmt. Anfang August veröffentlichte die Gewerkschaft der Beschäftigten im Bereich Bildung und Wissenschaft (Eğitim-Sen), die Ergebnisse einer Umfrage mit dem Titel „Bildung unter pandemischen Bedingungen“, an der landesweit 2.239 Lehrer teilnahmen. Die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer (96,4 %) gab an, dass ihre Gesundheit und die Gesundheit ihrer Familien in Gefahr seien, wenn während der Pandemie der Unterricht in Präsenz wieder aufgenommen würde. Laut einer Stellungnahme der Gewerkschaft Eğitim-Sen, die am letzten Donnerstag veröffentlicht wurde, wurden bereits in 80 Schulen in denen der Betrieb wieder aufgenommen wurde, Infektionsfälle registriert.

Aufgrund der tödlichen Politik der herrschenden Klasse breitet sich Covid-19 rasch weiter aus und führt zu Hunderttausenden von Todesopfern. Der einzige fortschrittliche Weg für die Arbeiterklasse besteht darin, selbst aktiv zu werden. Um Leben zu retten, müssen Arbeiter, einschließlich der Lehrkräfte und des medizinisches Personals, in der Türkei und auf der ganzen Welt Sicherheitskomitees gründen, die von den prokapitalistischen Gewerkschaften unabhängig sind.

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