Am 23. März war die 73-jährige „Gelbweste“ Geneviève Legay Opfer eines brutalen Polizeiangriffs in Nizza geworden. Am 10. Juli wurde nun die Untersuchung an die Lyoner Ermittler abgegeben, nachdem sie drei Monate lang verschleppt worden war. Alle staatlichen Behörden – von der lokalen Polizei über das Innen- und Justizministerium bis hinauf zum Präsidentenpalast – unterdrücken systematisch die Fakten und versuchen, eine glaubwürdige Aufklärung zu verhindern.
Legay wurde schwer verletzt, als die Polizei eine friedliche Kundgebung von mehreren Dutzend Gelbwesten am Garibaldi-Platz in Nizza angriff. Die Demonstration trotzte einem Verbot, das der Bürgermeister von Nizza, Christian Estrosi (LR), und der Präfekt der Region „Alpes Maritimes“ damit rechtfertigten, dass am nächsten Tag der chinesische Präsidenten Xi Jinping erwartet wurde. Der Protest stellte jedoch keinerlei öffentliche Gefahr dar, wie selbst die Polizei einräumen musste.
Während des Polizeiangriffs wurde die Siebzigjährige von einem Polizisten mit Schild und Knüppel angegriffen und heftig zu Boden geworfen. Die Schläge verursachten mehrere Schädelfrakturen, Hirnblutungen und eine Fraktur des Steißbeins. Sie kam ins Krankenhaus, und ihr Überleben war ungewiss, nachdem die Polizei am Tatort einem Gelbwesten-Arzt verboten hatte, ihr zu helfen, ja diesen sogar festnehmen ließ. Ihr Befinden besserte sich lange nicht, und noch zwei Wochen später hatte sie Blutungen und ein Hämatom im Schädel. Ihr Gleichgewicht und ihr Geruchssinn waren beeinträchtigt, sie konnte nur verschwommen sehen und auf einem Ohr nichts mehr hören.
Die Polizeidarstellung der Ereignisse vom 23. März enthüllt eine höchst beunruhigende Sichtweise: „Ich kann Ihnen versichern, dass meine Männer über diejenigen hinweggestiegen sind, die zu Boden gegangen waren“, sagte ein Polizist, der die Szene schilderte. Ein anderer sagte, er habe „die Anwesenheit einer Person auf dem Boden festgestellt, auf die ich treten musste, um nicht zu stolpern … Zusammen mit zwei Kollegen gingen wir weiter, und erst als der Marsch stoppte, wurde uns klar, dass eine Frau auf dem Boden lag.“
Die Lügen und Verdrehungen der Wahrheit setzten praktisch sofort ein. Wie die Presse am 11. Juli bestätigt hat, hatte der Staatsanwalt Jean-Michel Prêtre, der für die Ermittlungen zuständig war und anfangs jede polizeiliche Verantwortung für Legays Verletzungen leugnete, den gesamten Polizeiüberfall von dem städtischen Überwachungszentrum aus verfolgt. Er war also bestens vom Gegenteil informiert. Am Tag des Überfalls suchte die Polizei sogar Legay am Krankenbett auf und hinderte andere Personen daran, ihr Zimmer im Krankenhaus zu betreten. Sie versuchten, Legay zu der Aussage zu nötigen, dass ein Journalist – und kein Polizist – sie zu Boden gestoßen habe.
Staatsanwalt Prêtre betraute mit der Untersuchung der Ereignisse ausgerechnet die Lebensgefährtin des Beschuldigten, des Polizeikommissars Rabah Souchi. Dieser hatte (was der Staatsanwalt wusste) die Polizeioperation an diesem Tag geleitet, in deren Verlauf Legay verletzt wurde. Auf die Frage von Journalisten, ob hier nicht ein „Interessenkonflikt“ vorliege, erklärte der Staatsanwalt: „Ich sehe nicht, wo da ein Problem sein soll.“
Obwohl Legays Anwalt und ein Richter diesen Sachverhalt kritisierten, weigerte sich das Justizministerium, einzuschreiten.
Die von Legays Anwalt eingereichten Klagen wegen „vorsätzlicher, bewaffneter Gewalt durch Träger der staatlichen Autorität gegen eine gebrechliche Person“ und wegen „Zeugenbestechung“ gegen die Polizeipräfektur wurden niedergeschlagen. Mehrere Tage nach dem Ereignis erklärte der Anwalt: „In dieser Untersuchung hat der Staatsanwalt in voller Kenntnis der Tatsachen die Verdächtigen selbst mit den Ermittlungen betraut. Das geht noch über einen Interessenkonflikt hinaus...“
Er fügte hinzu: „Heute hat derselbe Staatsanwalt noch immer die Kontrolle über einen Teil der Ermittlungen, obwohl er selbst ein potenzieller Verdächtiger ist.“ Über die Justizministerin sagte der Anwalt: „Die Frage ist: Warum beschützt Madame Belloubet ihn immer noch?“
Der Staatsanwalt von Nizza war bereits während eines Generalstreiks im Februar 2009 in Guadeloupe ins Rampenlicht gerückt, als es um den Fall eines ermordeten CGT-Gewerkschafters ging. Der erste Angeklagte wurde damals freigelassen, da er ein Alibi vorwies. Darauf verbrachte der zweite, zu Unrecht von Prêtre angeklagte Mann vier Jahre im Gefängnis, bevor er freigelassen wurde. 2017 wurde Prêtre erneut durch seine Gnadenlosigkeit berüchtigt, mit der er Personen, die Einwanderern Hilfe leisteten, gerichtlich verfolgte.
Präsident Emmanuel Macron erteilte dem Angriff auf Legay den Segen des Élysée. Als die Tatsache, dass ein Polizist Legay niedergeschlagen hatte, bereits öffentlich feststand, behauptete Macron immer noch: „Diese Dame ist mit der Polizei nicht in Berührung gekommen.“ Er gab ihr selbst die Schuld an dem Vorfall: „Um in Ruhe gelassen zu werden, muss man sich besonnen aufführen… Wer zerbrechlich ist und stürzen könnte, begibt sich nicht an Orte, die gesperrt sind, und begibt sich nicht in eine solche Situation.“
Ende Juni griff Macron die Frau in einem Interview mit dem New Yorker erneut an: „An einen Ort zu gehen, an dem Proteste verboten sind, ist völlig verrückt. Es braucht etwas gesunden Menschenverstand, gerade in diesen schwierigen Zeiten! Ich wünsche ihr alles Gute. Aber diese alte Dame wollte nicht einkaufen gehen. Sie demonstrierte zur schlimmsten Krisenzeit mit Aktivisten zusammen gegen die Polizei.“
Drei Monate nach den Ereignissen hat die Gendarmerie Ende Juni plötzlich aus eigenen Gründen beschlossen, einen Bericht zu veröffentlichen, aus dem hervorgeht, sie sei dagegen gewesen, Souchis Angriffsbefehl auszuführen. Dieser sei „im Vergleich zur Bedrohungslage (ruhige Menge) unverhältnismäßig“ gewesen.
Macron hat in Frankreich eine pseudolegale Grundlage für die Angriffe auf soziale und demokratische Rechte geschaffen und Anfang Februar sein „Anti-Randale-Gesetz“ eingeführt. Die Regierung nutzt das Gesetz, um die Polizeiprovokationen gegen die Gelbwesten zu rechtfertigen. Kaum zwei Wochen vor dem Polizeiangriff auf Geneviève Legay hatte der Senat das Gesetz endgültig verabschiedet. Damit wurden den Polizisten Vollmachten erteilt, die bisher der Gerichtsbarkeit vorbehalten waren. Seit dem Vichy-Regime hatte die Polizei keine solchen Vollmachten mehr, die praktisch die Gewaltenteilung aufheben.
Der Polizeiangriff auf eine ältere Frau, die nicht die geringste Gefahr für die Staatsmacht darstellte, unterstreicht einmal mehr, dass die Rückkehr zu faschistischen Rechtsnormen mit dem Aufbau eines autoritären Polizeistaats verbunden ist. Jede Regung eines Massenwiderstands gegen Macron soll unterdrückt werden. Obwohl die Verlagerung der Untersuchung nach Lyon den immer lauteren Forderungen nach Aufklärung geschuldet ist, wird sie kein Licht ins Dunkel der Polizeiaggression bringen.