„Big Brother is watching you“ – so heißt es in dem berühmten Zukunftsroman „1984“ von George Orwell. Die Horrorvision der totalen Kontrolle ist 2017 in der Realität angekommen, und zwar – wen wundert‘s – in einem Lagerhaus von Amazon.
Das neue Logistikzentrum Winsen (Luhe) in Niedersachsen gilt als das modernste in Deutschland; es ist das erste, das Transportroboter einsetzt. Das NDR-Politikmagazin „Panorama 3“ hat das Werk unter die Lupe genommen.
In der Vorweihnachtszeit herrscht in dem Logistiklager mit 2000 Mitarbeitern erhöhter Personalbedarf. So ist es dem jungen Journalisten Kaveh Kooroshy nicht schwer gefallen, sich als Aushilfskraft einzuschleusen. Am Abend des 12. Dezember wurde sein Bericht („Amazon: Verstöße gegen Mitarbeiterrechte“) im Fernsehen ausgestrahlt.
Kooroshy wurde für die Spätschicht angeheuert, und er erfuhr, worin die Neuerung mit den Transportrobotern, den so genannten „Drives“ besteht. Die Mitarbeiter müssen nicht mehr selbst durch die Lagerstraßen rennen, sondern die „Drives“ bringen ganze Regalteile zu ihrem „Käfig“, einem von drei Seiten eingezäunten Arbeitsplatz. Darin steht jeweils eine Pickerin oder ein Picker und entnimmt dem Regal nach genauer Computer-Vorgabe die gewünschte Ware, scannt sie ein und legt sie in eine Kiste. Diese Kisten laufen auf dem Fließband weiter zur nächsten Station, wo andere Kollegen die Artikel zum Transport verpacken.
„Greifen, scannen, ablegen“ – das ist nun Kavehs Tätigkeit von kurz nach drei Uhr nachmittags bis um Mitternacht. Die moderne Technik könnte die Arbeit leicht und angenehm gestalten. Doch anstatt dass der Arbeiter bestimmt, was getan werden muss, und in welchem Tempo, ist es hier genau umgekehrt: Computer und Roboter sagen ihm, was er zu tun habe, und registrieren, wie schnell er dies tut. Der Arbeitsrhythmus ist auf die Sekunde durchgetaktet, und der Arbeiter ist der Maschinerie völlig ausgeliefert. Kooroshy kommentiert: „Man wird eigentlich selbst zum Roboter … Wenn man immer sagt, dass Roboter den Menschen immer ähnlicher werden, dann ist es bei Amazon genau umgekehrt: Die Menschen werden dem Roboter ähnlich.“
Dabei bleibt dem System nichts verborgen. Die eingesetzten Computer registrieren jede Bewegung, jeden Vorgang und jeden Arbeitsschritt. („Wie viele Artikel werden pro Minute umgelagert? Wie viele pro Stunde? Ist es effizient genug?“) Die Aufgaben sind minutiös vorgegeben. Der Vorarbeiter kann in jeder Sekunde kontrollieren, woran die Mitarbeiter gerade arbeiten und wie lange sie dafür brauchen. Fällt man zurück, wird man sofort von den Vorgesetzten angesprochen.
Es ist zwar nichts Neues, dass Amazon in seinen Logistikzentren ein enormes Ausmaß an Leistungskontrolle aufbaut. In Winsen jedoch kommt sie offenbar einer Totalüberwachung gleich. Überall entdeckt der Reporter Kameras an der Decke. Sie sind sowohl in den Hallen, über den Fließbändern als auch über den Spinden im Umkleidebereich angebracht.
Der NDR-Journalist hat die Ergebnisse seiner Recherche einem Arbeitsrechtler vorgelegt. Hajo Köhler aus Oldenburg kommentiert in dem Film, laut Gesetz müsse jede Kontrolle am Arbeitsplatz dem „Verhältnismäßigkeitsgrundsatz“ entsprechen. Das bedeutet, dass der Arbeitnehmer wissen muss, wann welche Daten über ihn gesammelt und gespeichert werden. Bei Amazon jedoch sei ein absolutes Kontrollsystem eingerichtet worden, und dies komme einem illegitimen „Eingriff in das Persönlichkeitsrecht“ gleich.
Auf Nachfrage von „Panorama 3“ verweigerte Amazon ein Interview. Schriftlich gab der Konzern an, in seinen Hallen gebe es keine Überwachung. „Die erfassten Daten helfen den Mitarbeitern bei der Ausführung ihrer Aufgaben …“ Auch die Kameras in den Umkleideräumen seien ausschließlich dazu da, Diebstahl vorzubeugen. Im Arbeitsbereich gebe es „keine Kameras“, so Amazon.
Selbst wenn die allgegenwärtigen „Augen“, die man in Kaveh Kooroshys Film sehen kann, Attrappen wären, wäre die Sache nicht weniger schlimm. Allein schon das Bewusstsein der ständigen Kontrolle führt zu psychischem Druck und Stress. Das macht zwangsläufig krank. „Die Teamleiter behandeln uns wie Maschinen, nicht wie Menschen“, wird eine Amazon-Mitarbeiterin im Film zitiert.
Seit langem ist bekannt, dass bei Amazon ein unmenschlicher Druck, sklavenähnliche Bedingungen und eine ständige Überwachung vorherrschen. In den „Fulfillment-Centers“ schuften weltweit über 300.000 Arbeiter zu miesen Löhnen. Gleichzeitig hat Jeff Bezos, Besitzer und Chef von Amazon, seinen obszönen Reichtum erneut massiv gesteigert. Der Multimilliardär hat sein Vermögen zuletzt auf über 100 Milliarden Dollar erhöht. Er nimmt in einer Minute mehr Geld ein, als seine Beschäftigten in einem ganzen Jahr verdienen.
Die Recherche des NDR, sowie auch eine wachsende Unruhe und Streikbereitschaft in den europäischen Logistikzentren haben offenbar die Behörden aufgeschreckt. So hat Barbara Thiel, die Datenschutzbeauftragte der niedersächsischen Landesregierung, ein Kontrollverfahren gegen Amazon eingeleitet. Es bestehe der Verdacht des Verstoßes gegen das Bundesdatenschutzgesetz und gegen das Grundrecht auf informelle Selbstbestimmung.
Für die Arbeiter wird sich dadurch kaum etwas ändern. Politiker und Behörden, die um die neuen Logistik-Standorte buhlen, räumen Amazon bisher jeden Stein aus dem Weg, gewähren dem Konzern günstige Steuersätze und richten die lokale Infrastruktur nach seinen Wünschen aus. Gleichzeitig spalten Gewerkschaften wie Verdi die Amazon-Belegschaften nach Standorten und spielen sie gegeneinander aus, wie es in den deutschen und polnischen Werken bisher der Fall ist.
Um die internationale Kooperation der Amazon-Arbeiter voranzutreiben, haben die Sozialistische Gleichheitspartei und ihre internationalen Schwesterparteien den Newsletter International Amazon Workers Voice ins Leben gerufen. Darüber können sich Amazon-Arbeiter mit ihren Kollegen weltweit vernetzen, über ihre Arbeitsbedingungen berichten und ihre Kämpfe koordinieren. Wir rufen alle Amazon-Arbeiter auf, den Newsletter hier zu abonnieren und unsere Seite auf Facebook kennenzulernen.