Am Samstag drängten sich 250 Arbeiter und Studierende in den Hörsaal 3 der Universität Frankfurt, um einen Vortrag von David North zu verfolgen, zu dem die International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) eingeladen hatten. Unter dem Titel „Philosophie und Politik in Zeiten von Krieg und Revolution“ stellte North sein Buch „Die Frankfurter Schule, die Postmoderne und die Politik der Pseudolinken“ vor.
Die enorme Resonanz und die außerordentlich positiven Reaktionen der meisten Zuhörer unterstreichen die Bedeutung dieses Ereignisses. Massen von Studierenden interessieren sich für eine marxistische Kritik an der Frankfurter Schule, die auf dem Campus der Bankenmetropole nach wie vor allgegenwärtig ist und das ideologische Fundament der rechten Politik von SPD, Grünen, Linkspartei und Gewerkschaften bildet.
Zu Beginn der Versammlung stellte der Sprecher der IYSSE Deutschland, Christoph Vandreier, den Referenten vor. David North spiele seit Jahrzehnten eine führende Rolle in der trotzkistischen Bewegung und habe zahlreiche Bücher zu den zentralen politischen und historischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte veröffentlicht.
„Wenn sich North in seinem neuen Buch mit den Konzeptionen der Frankfurter Schule, der Postmoderne und mit der Politik der Pseudolinken auseinandersetzt, tut er das daher nicht im Sinne einer bloß akademischen Debatte, sondern vom Standpunkt revolutionärer Politik“, erklärte Vandreier. „Das Buch ist eine Verteidigung und Weiterentwicklung des klassischen Marxismus, wie er von Marx, Engels, Lenin, Trotzki und Luxemburg ausgearbeitet wurde.“
North betone immer wieder, dass sich für Marxisten die Mittel, mit denen Revolutionäre die Welt verändern, aus einem Verständnis der objektiven Gesetze ergäben, nach denen sich die Gesellschaft bewege. Diese müssten verstanden und bewusst gemacht werden. Insofern müsse man auch die Konzeptionen der Frankfurter Schule und der Postmoderne in ihrem historischen und sozialen Kontext betrachten. Sie drückten in ihrem Subjektivismus die Ablehnung und Feindschaft gehobener Mittelschichten gegen die Arbeiter aus.
David North führte diesen Punkt gleich am Anfang seines Vortrags genauer aus. Nachdem sich Syriza in Griechenland als reaktionäre Tendenz entpuppt habe, stehe fest, „dass es eine enge Verbindung zwischen Schlüsselelementen des akademischen Postmarxismus und politischen Programmen gibt, die den Interessen der Arbeiterklasse diametral entgegenstehen“, erklärte er. „Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sich viele Varianten der Frankfurter Schule und der Postmoderne einer bewusst obskuren Phraseologie bedienen, um ihre politischen Standpunkte zu verschleiern.“
North ging ausführlich auf die zentralen gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ein, die er in den Büchern „Die Russische Revolution und das unvollendete 20. Jahrhundert“ sowie „Kriegszeiten“ diskutiert hat. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion seien alle Grundprobleme des Kapitalismus zurück an die Oberfläche gekommen. Die soziale Ungleichheit sei so groß wie nie zuvor, die ökonomische Krise werde immer tiefer und es wachse die Gefahr eines Dritten Weltkriegs. Das zeige sich besonders deutlich an den beiden extrem rechten und militaristischen Präsidentschaftskandidaten in den USA. Angesichts dieser extrem bedrohlichen Entwicklung müsse man die Frage stellen: „Weshalb gibt es keine internationale, revolutionäre, antikapitalistische und sozialistische Massenbewegung?“
North erklärte, dass dafür eine komplexe Wechselwirkung objektiver und subjektiver Faktoren verantwortlich sei, wobei der Verrat des Stalinismus, die physische Auslöschung einer ganzen Generation von Marxisten, eine wichtige Rolle gespielt habe. Die Theorien der Frankfurter Schule und der Postmoderne hätten den Arbeitern die Verantwortung für diesen Verrat gegeben und den Marxismus von rechts angegriffen, indem sie den irrationalistischen Idealismus Schopenhauers und Nietzsches adaptierten.
„Der politische Impuls für ihre Theorien lag in der Ablehnung des Marxismus und der auf die Arbeiterklasse gestützten Perspektive der sozialistischen Revolution“, sagte North. Die Postmoderne sei nach den Erfahrungen des Mai/Juni 1968 direkt gegen den Marxismus und insbesondere den Trotzkismus entwickelt worden und drücke eine „konservative, zutiefst pessimistische und demoralisierte Einstellung“ von wohlhabenden Mittelschichten aus.
Keine der Theorien habe ein Programm, „das als Grundlage für den revolutionären Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus dienen könnte“, so North. Dies biete ausschließlich der Marxismus. „Die Arbeiterklasse muss die Logik der gegenwärtigen Krise verstehen und so handeln, wie es objektiv notwendig ist. Für ein solches Verständnis gibt es keine andere Grundlage als den Marxismus“, schloss North.
Der gesamte Vortrag findet sich auf der World Socialist Web Site und kann hier aufgerufen werden.
Der Vortrag traf offensichtlich ins Schwarze, das Publikum folgte den Ausführungen mit gespannter Aufmerksamkeit. Der Redner berührte viele Punkte, die sonst in den akademischen Diskussionen auf dem Campus ausgeblendet werden. Immer wieder führte er die ideologischen Strömungen auf ihre Wurzeln in der realen politischen Entwicklung zurück und verwies auf die Motive und Befindlichkeiten bestimmter Gesellschaftsschichten, die die Theorien der Postmoderne und der Frankfurter Schule hervorgebracht hatten.
In der Diskussion warf zunächst Vandreier die Frage nach den Ursprüngen der Frankfurter Schule auf? „Heute ist ja fast jedem Studierenden klar, was für eine rechte Politik zum Beispiel Professor Axel Honneth vertritt mit seiner ‚Idee des Sozialismus‘ – die auf einen ‚Sozialismus ohne alles‘ hinausläuft, das heißt ohne mobilisierte Arbeiterklasse und ohne Abschaffung des Privateigentums“, sagte Vandreier. „Aber viele fragen sich: war das ursprünglich nicht anders? Hatte das Institut für Sozialforschung bei seiner Gründung im Jahr 1923 nicht auch fortschrittliche Ansätze?“
North antwortete, die Gründer der Frankfurter Schule seien anfangs keine Antisozialisten und Antimarxisten gewesen seien. Er wies darauf hin, was für ein Wendepunkt das Jahr 1923 gewesen sei: In Russland riss ein Schlaganfall Lenin aus dem aktiven politischen Leben. Trotzki wurde zunehmend isoliert und von der Macht verdrängt. In Deutschland endete die Revolution im Oktober 1923 in einer Niederlage. „Dies alles hat maßgeblich zu einer Neuorientierung breiter Schichten der deutschen Intelligenz beigetragen“, so North. „Sie verloren das Vertrauen in die revolutionäre Perspektive, die sich auf die Arbeiterklasse stützt.“
Im selben Jahr habe Georg Lukacs sein Werk „Geschichte und Klassenbewusstsein“ herausgebracht, das einen großen Einfluss auf die Herausbildung der Kritischen Theorie ausübte. „Die so genannte ‚Verdinglichung‘, die er darin entwickelt, läuft letztlich darauf hinaus, dass die Arbeiterklasse nicht in der Lage ist, die objektive Wirklichkeit zu verstehen.“
Eine besondere Rolle habe auch Hendrik de Man gespielt, ein Professor in Frankfurt, der in der zweiten Internationale aktiv war, aber später als faschistischer Intellektueller berüchtigt wurde. North erklärte: „Sein Konzept war, dass psychologische Faktoren für die Entwicklung des Bewusstseins der Arbeiterklasse viel wichtiger sind als die Auswirkungen der objektiven kapitalistischen Entwicklung. Für die intellektuelle Herausbildung der Frankfurter Schule war das ein entscheidender Impuls.“
Generell sei der Versuch charakteristisch, das Unbewusste und Irrationale stärker hervorzuheben und der marxistischen Theorie der sozialen Revolution gegenüberzustellen. Dies gehe mit einem tiefen Pessimismus in die Arbeiterklasse einher. Horkheimer, Adorno und Marcuse seien, wie große Teile des akademische Milieus in Deutschland, vom subjektiven Idealismus Schopenhauers und Nietzsches, Marcuse auch von Heidegger, beeinflusst gewesen. „Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem subjektiven Bewusstsein und auf psychologischen Faktoren, die es demzufolge verhindern, dass die objektiven Faktoren zur Revolution führen.“
Ein typisches Beispiel sei Wilhelm Reich, fügte North hinzu. Dieser habe den Faschismus im Wesentlichen in sexuellen Begriffen erklärt. In seiner Broschüre „Was ist Klassenbewusstsein?“ habe Reich behauptet, es sei völlig hoffnungslos, gegen den Faschismus zu kämpfen, indem man die Arbeiter für ein politisches Programm gewinne, „denn sie verstehen es nicht und werden es nie verstehen“. Stattdessen müsse man über die Sexualpolitik Zugang zur Arbeiterklasse finden. North konstatierte: „Auf einer solchen Grundlage ist der Kampf gegen Faschismus unmöglich.“
Viele junge Teilnehmer waren vom Vortrag beeindruckt. „Ich halte das für eine extrem wichtige Veranstaltung“, sagte Aaron, ein Schüler aus der Nähe von Köln, der extra zum Vortrag nach Frankfurt angereist war. „Für mich ist es eine einmalige Gelegenheit, einen Trotzkisten live zu hören. Man muss diese Fragen der Pseudolinken und des Pessimismus wirklich deutlich machen, denn das hat eine enorm wichtige Rolle gespielt.“
Aaron wies auch auf den Zusammenhang der theoretischen Fragen mit der aktuellen Lage hin und sagte: „Ich mache mir schon Sorgen über die Kriegsgefahr. Man sieht es ja gerade wieder an der Offensive auf Mossul: Millionen Menschen sind betroffen. Das zeigt, wie aktuell die Fragen sind, die hier diskutiert werden.“ Auch die Eskalation zwischen den USA und Russland sei sehr real, fügte er hinzu. „Auch wenn die Medien es unter den Tisch kehren, ist es wichtig, dass man die Leute darüber aufklärt.“
Schon im Vorfeld der Veranstaltung hatten die Plakate überall in Frankfurt Aufsehen erregt und für Gesprächsstoff gesorgt. Die Menschen blieben stehen und lasen das Marx-Zitat auf dem Plakat: „Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen […] Der Kopf dieser Emanzipation [des Menschen] ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat.“
Die starke Resonanz auf den Vortrag brachte auch zwei Anhänger der Frankfurter Schule auf den Plan, die sich offensichtlich herausgefordert fühlten. Sie meldeten sich in der Diskussionsrunde zu Wort, um die Kritische Theorie zu verteidigen. So betonte einer der beiden, auch Trotzki habe gerne Freud gelesen und in seiner „Geschichte der Russischen Revolution“ die Psychologie des Zaren und der Zarin geschildert. „Wäre es nicht dialektischer“, fragte er, „wenn wir sagen würden, wir greifen die revolutionären Impulse auf, die bei Adorno und Horkheimer zu finden sind?“
Der andere versuchte, Wilhelm Reich in Schutz zu nehmen. „Gerade gestern haben wir diesen Text im Lesekreis gelesen … Reich geht darin der Frage nach, warum das kommunistische Programm damals die Massen nicht ergriff. Heute könnte man fragen, warum das Programm der IYSSE und der Vierten Internationale die Massen nicht ergreift.“ Das seien doch relevante Fragen.
Darauf antwortete North: „Man muss die Fragen immer im konkreten historischen Kontext untersuchen. Die Frage, warum es keine sozialistische Massenbewegung gibt, stellt sich heute nicht auf dieselbe Weise wie 1930–1933 in Deutschland.“
Damals habe es eine revolutionäre sozialistische Massenbewegung in der Arbeiterklasse gegeben. Da zwei Parteien existierten, die SPD und die KPD, die beide die aktive Unterstützung der Arbeiterklasse genossen, habe sich der KPD die Aufgabe gestellt, das Vertrauen der sozialdemokratischen Arbeiter zu gewinnen.
„Die Psychologie ist in der Arbeiterbewegung eine komplexe Frage“, sagte North. „Nichts könnte falscher sein als die Aussage, der Marxismus habe kein Interesse an Psychologie. Er befasst sich jedoch mit der Psychologie der Klassen und sozialen Schichten – nicht mit der Psychologie einzelner Individuen.“
Trotzki habe sein Programm auf diese Aufgabe ausgerichtet und den Vorschlag einer Einheitsfront gegen den Faschismus vorgebracht. So sollte die KPD zu den sozialdemokratischen Arbeitern sagen: „Natürlich haben wir viele Differenzen, aber gegen Hitler und die Nazis müssen wir gemeinsam kämpfen. Wir sind bereit, eine Einheitsfront zu bilden, um den Aufstieg der Nazis an die Macht zu verhindern.“ Damit hätte die KPD sowohl das Vertrauen der sozialdemokratischen Arbeiter gewonnen, als auch gleichzeitig entlarven können, dass die sozialdemokratischen Führer nicht bereit waren, gegen die Nazis zu kämpfen.
„Darin drückte sich eine wirkliche Kenntnis der Arbeiterpsychologie aus“, kommentierte North. „Die Broschüre [von Reich], aus der ich zitiert habe, enthält nichts, was mich überzeugen würde, dass das Hauptproblem der deutschen Arbeiterklasse damals eine falsche Haltung zur Sexualität gewesen wäre.“
Die Theoretiker der Frankfurter Schule hätten sich generell kaum für konkrete politische Programme und Strategien interessiert. Mit ihrer Hinwendung zu den Fragen der Psychologie und des Irrationalen hätten sie sich von der Analyse politischer Fragen abgewandt. „Es waren hervorragende Intellektuelle, aber keiner von ihnen war mit der Arbeiterbewegung verbunden. Über große Ereignisse sagten sie wenig“, fuhr North fort. So habe Horkheimer zu Stalins Moskauer Prozessen geschwiegen, die eine ganze Generation sowjetischer Sozialisten vernichteten, und Ernst Bloch habe die Prozesse begeistert begrüßt.
Ein weiterer Kritiker meldete sich zu Wort. Er erklärte, er fühle sich von dem Vortrag nicht angesprochen, denn dieser habe sich nur mit „Kapitalismus und Kommunismus“ befasst, die Dritte Welt jedoch völlig außer Acht gelassen. „Wo bleibt die Mehrheit der Welt?“ Die meisten Bewohner der Erde seien weder kapitalistisch noch kommunistisch, sondern religiös. Auch die Muslimbrüder verkörperten „eine andere Möglichkeit des politischen Denkens“.
North erwiderte: „Damit stimme ich nicht überein.“ Jedes Land, jede Weltregion weise besondere Eigenschaften auf, doch auch die Situation im Nahen Osten sei in extremer Form nur Ausdruck derselben Probleme, die sich auch in den USA, Europa, Lateinamerika oder großer Teile Asiens stellten. „Es ist das Problem der revolutionären Führung.“
Er erklärte, wie die russische Revolution sich auf die Arbeiterklasse der arabischen Welt ausgewirkt hatte, dass überall kommunistische Massenparteien entstanden waren. „Und in jedem Land des Nahen Ostens, ob in Ägypten, Syrien oder Palästina … war die Schlüsselfrage der Konflikt zwischen Trotzki und Stalin.“ In seiner „Permanenten Revolution“ habe Trotzki erklärt, dass die nationale Bourgeoisie keine fortschrittliche revolutionäre Rolle mehr spielen könne, doch Stalin habe die Arbeiterklasse in diesen Ländern gezwungen, die Dominanz der bürgerlich-nationalen Bewegungen anzuerkennen, „mit katastrophalen Auswirkungen“.
North wandte sich direkt an seinen Kritiker mit den Worten: „Alles was du sagst, deine ganze bürgerliche Dritte-Welt-Politik, weicht einer Untersuchung der konkreten Entwicklung völlig aus. Die Tatsache, dass die Religion wieder zum wesentlichen Faktor im Massenbewusstsein werden konnte, ist eine Folge des Verrats der Stalinisten.“ Das habe sich tragisch auch im arabischen Frühling in Ägypten 2011 bestätigt. „Warum ist die ägyptische Revolution fehlgeschlagen? Es fehlte eine marxistische Führung. Das ist der entscheidende Punkt, und das trifft auf jedes Land zu.“
North wandte sich zum Schluss eindringlich an die jungen Studierenden, die die Diskussion aufmerksam verfolgt hatten. „Studiert diese Fragen!“ rief er ihnen zu. „Die Zeiten ändern sich ziemlich rasch. Leute werden sich radikalisieren. Und die Gefahr eines neuen Kriegs ist sehr real.“
Auch nach Ende der offiziellen Versammlung setzten sich die Diskussionen noch am Büchertisch und in der Halle fort. Viele sagten, es sei zwar nicht leicht gewesen, alles zu verstehen, aber „die Analyse ist zweifellos pointiert und treffend“, wie es ein Teilnehmer ausdrückte.
Ein anderer, ein Student der Humangeographie, der aufgrund der Plakate gekommen war, sagte: „Ich finde es gut, dass hier auch kontrovers diskutiert wurde.“ Für ihn stelle sich die Frage: „Wie kann man die Entfremdung von Akademie und Zivilgesellschaft überwinden? Das scheint mir ein wichtiger Punkt zu sein. Die Frage lautet: Was ist engagierte, kritische Wissenschaft? Das ist eine sehr aktuelle Frage.“