Museum Tinguely, Basel:

Tatlin – neue Kunst für eine neue Welt

Teil 6: Interview mit der Kunsthistorikerin Anna Szech

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Die Kunsthistorikerin Anna Szech ist in St. Petersburg geboren und aufgewachsen. Sie hat in Hamburg studiert und arbeitet jetzt als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Tinguely-Museum in Basel. Sie hat durch ihre Vermittlung mit den leihgebenden Museen und Institutionen sowie den Experten in Russland wesentlich zum Zustandekommen der Ausstellung beigetragen. Sie berichtete der WSWS von der Begeisterung, mit der ihre Generation das Wiederauftauchen der Kunst der russischen Avantgarde in den Museen begrüßt hat.

Anna Szech

Wie schätzen Sie die Bedeutung Tatlins für die russische und für die europäische Kunst ein?

Die Zeit von 1905 bis etwa 1920 ist eine Zeit, in der die Russen nicht nur einen wichtigen Beitrag zur europäischen Kunst leisten, sondern sie sind prägend, spielen eine führende Rolle für diese Kunst. Schon seit dem Mittelalter ist die westeuropäische Kunst in Russland sehr präsent. Wir habe in Russland eine eigenständige Entwicklung, die aber durchaus mit Europa korrespondiert.

Die Ursprünge liegen in Byzanz; bis ins 18. Jahrhundert bestimmten die Ikonen die Bildmotive, danach will der russische Zar Peter der Große alles kopieren: die Malerei, die Stillleben, die Architektur. In Russland gibt es eigentlich kaum einen schrittweisen Übergang, alles vollzieht sich im Bruch: Erst haben wir Ikonen, Ikonen, Ikonen – und dann plötzlich die Galaporträts.

Der Umbruch zu Tatlins Zeit war äußerst wichtig, auch für die gesamte europäische Kultur. Dies geht so weiter bis zum Tod Lenins, wo wir einen Einschnitt feststellen.

Lenin war ein sehr gebildeter Mann; er sprach, soviel ich weiß, sechs Sprachen und war überhaupt nicht engstirnig. Er war der Meinung: „Wenn jemand dem Volk Kunst beibringen soll, dann müssen es die Künstler selbst sein.“

Nach Lenins Tod 1924 bricht der Aufschwung der Kultur ab. Wie reagierten die Künstler darauf? Es war eine ambivalente Reaktion. Viele Intellektuelle sahen, wohin die Entwicklung in der Sowjetunion ging. Tatlin war ja eng mit Majakowski verbunden, der 1930 Selbstmord verübte. Tatlin richtete seine Beerdigung aus.

Viele Künstler haben den Stalinismus nicht überlebt, was wirklich tragisch ist. Nicolai Punin und auch Woronski überlebten ihn nicht. Andere gingen weg. Manche blieben, weil sie den Glauben hatten, dass sie ihre Ideen doch noch verwirklichen könnten. So war es auch mit Tatlin.

Am Anfang der 1930er Jahre wurde er noch mit einer Ausstellung (1932) gefeiert, er erhielt mehrere Stalinpreise und wurde als „verdienter Künstler des Volkes“ geehrt. Praktisch von einem Tag auf den andern fällt er in Ungnade.

Tatlin Auffassungen von den Aufgaben eines Künstlers waren wohl unvereinbar mit der Rolle, die den Künstlern von der stalinistischen Bürokratie mit der Doktrin vom „Sozialistischen Realismus“ verordnet wurde. Er wollte schon immer ins Leben hineinwirken, aber nicht als Propagandist, sondern als Künstler. Er lehnte ja auch in den Debatten Anfang der 1920er Jahre die neue „Staffeleikunst“, den Konstruktivismus als rein ästhetisches Prinzip ab.

Dazu gibt es ein wundervolles Plakat von Tatlin selbst: „Nieder mit dem Tatlinismus“. Er wollte keine Schule gründen. Er war ein hervorragender Dozent, hatte viele Studenten und Schüler. Aber er lehnte alle „-Ismen“ ab. Diese wollte er schon mit seinen Konterreliefs überwinden.

Seit der „Ausstellung 0.10“ der Künstler-Avantgarde im Winter 1915/16, an der Kasimir Malewitsch und Tatlin beide teilnahmen, kam es zu einer scharfen Rivalität zwischen den beiden. Es bildete sich ein Lager um Tatlin. Das aber wollte er im Grunde gerade nicht.

Es ist faszinierend, Tatlins Oeuvre zu überblicken – die Malerei, die Konterreliefs von 1914-1916, den Turm, den Letatlin, das Theater und wieder die Malerei – nur die Beschäftigung mit dem Theater ist durchgängig. Das beginnt schon mit seiner Arbeit für den „Zar Maxemjan“ und den „Fliegenden Holländer“; und am Schluss arbeitet er wieder überwiegend für das Theater.

Man weiß jedoch nicht, was Tatlin gemacht hätte, hätte es nicht den Stalin’schen Zwang gegeben. Ich streite mich immer mit meinen Schweizer Kollegen darüber, aber ich meine: Er war doch in einer Zwangslage. Ich glaube, er hätte in seinen späten Jahren nicht nur Theater gemacht, wenn er andere Dinge hätte machen dürfen. Hätte es in Russland eine andere politische Situation gegeben, hätte er vielleicht eine weitere, phantastische Entwicklung nehmen können.

Das war ähnlich tragisch wie das Abbrechen der modernen Kunst in Deutschland durch den Nationalsozialismus. Aber die späten Gemälde Tatlins sind doch keineswegs zu unterschätzen?

Ja, wissen Sie was: Wir haben eigentlich drei Spätwerke von Tatlin in der Ausstellung. Ich sage „Eigentlich“: Denn, Sie kennen ja den wundervollen Akt aus dem Russischen Staatsarchiv für Literatur und Kunst (RGALI), dieser weibliche Akt vor dem Blumenvorhang. Auf seiner Rückseite befindet sich ein Stillleben aus Tatlins späten Jahren.

Anna Szech vor Wladimir Tatlin, Liegender weiblicher Akt, 1912, RGALI Russisches Staatsarchiv für Literatur und Kunst, Moskau (auf der Rückseite befindet sich ein Stillleben Tatlins)

befindet sich ein Stillleben Tatlins)

Dazu gibt es eine phantastische Geschichte, die uns die Konservatorin vom (RGALI) erzählt hat. Sie bewahren dort Dokumente, Plakate, Briefe, Fotografien auf und sind im Besitz von diesen drei Gemälden. Man fragt sich, wie sind sie in diesen Besitz gekommen?

Sie haben es in den 1950er Jahren buchstäblich auf dem Müll gefunden.

In Russland wirft man ja den Müll auf eine besondere Art und Weise weg: Er wird in großen Müllbehältern auf den Hinterhöfen gesammelt und einmal die Woche abgeholt. Und 1953 (oder 1954, jedenfalls nach Tatlins Tod) sollen die Mitarbeiter des RGALI einen Anruf von einer älteren Dame erhalten haben, die ihnen sagte: „Ich habe eben meinen Müll weggebracht, und da sind mehrere Gemälde an die Müllbehälter angelehnt. Vielleicht möchte jemand von Ihnen vorbeikommen.“

1953 war das Todesjahr von Stalin, und es war noch immer gefährlich. Sie sind also hingefahren und haben die Bilder ins Archiv gebracht. Dort stellten sie fest, dass sie von Tatlin waren. Er lebte ja zuletzt unter sehr ärmlichen Verhältnissen, und so nutzte er die Bildrückseiten als Leinwand.

Die Mitarbeiter des RGALI erzählen heute noch, dass sie oftmals in die Bredouille kommen, wenn sie von zwei unterschiedlichen Institutionen eine Anfrage für eines der beiden sehr unterschiedlichen Gemälde bekommen, und in Wirklichkeit ist es nur eines, aber beidseitig bemalt.

Unsere Ausstellung hat das Spätwerk Tatlins jedoch nur im Vorbeigehen berücksichtigt. Aber diese Gemälde sind schon ganz anders, die Farbpalette ist sehr gedämpft, in sich versunken, und eher zur privaten Betrachtung. Sie sind auch schon traurig, wenn man das Spätwerk mit seinen frühen Arbeiten vergleicht, wo er noch sehr energisch und mutig ist: Er hat keine Angst, eine Linie zu führen oder ein Stück Eisen an das Brett zu hauen. Im Spätwerk ist er doch sehr zart.

Was war Ihrer Meinung nach ausschlaggebend dafür, dass Tatlin nicht vor Stalin und dem Diktat der Kulturbürokratie, dem „sozialistischen Realismus“ kapitulierte?

Viele Künstler und Schriftsteller mussten ihr früheres Schaffen leugnen und als Irrtum bezeichnen. Doch Tatlin war einer der ganz wenigen, die gesagt haben, sie werden ihr Werk nicht verleugnen. Wir haben seine diesbezügliche Aussage leider nicht wörtlich finden können, doch sie ist überliefert. Sie lautete ungefähr: „Die Erfahrungen eines Menschen und Künstlers sind sein wahrer Reichtum.“

Wie war es möglich, dass Tatlins Werke in der Sowjetunion überlebt haben?

Ein Beispiel ist das Eck-Konterrelief. Es tauchte plötzlich auf, es wurde wieder aufgefunden, obwohl es als „verschollen“ galt. Wir wissen nicht, ob es ausdrückliche Befehle gab, die Werke zu vernichten. Wahrscheinlich ist jedoch, dass künstlerische Mitarbeiter sie versteckt hielten.

So ist Tatlins Turm bis auf den heutigen Tag offiziell nicht verloren. Er wird immer noch in den Büchern geführt. Vielleicht existiert er noch irgendwo in seine Einzelteile zerlegt.

In der Provinz überlebten viele Werke, was nur dem Kunstverständnis und der Selbstaufopferung der Museumsmitarbeiter zu verdanken war.

Herr Wetzel sprach in seiner Eröffnungsrede davon, dass Tatlin in Russland große Wertschätzung genieße. Trifft dies nur auf Museumsleute zu, oder haben Sie den Eindruck, dass breitere Kreise der Bevölkerung sich für ihn interessieren? Gibt es so etwas wie eine Tatlin-Renaissance in Russland?

Ich bin davon fest überzeugt. Menschen, die nicht mehr ganz jung sind, kennen Tatlin natürlich; für die etwas ältere Generation ist er ein Begriff. So haben uns die Galerien, die Tatlin-Werke zu dieser Ausstellung beigesteuert haben, gesagt: „Ihr könnt euch vorstellen, dass wir [ohne diese Tatlin-Bilder] leere Säle haben werden.“ Doch die ganz jungen Russen zwischen zwanzig und dreißig wissen oft nichts von ihm.

Wem Tatlin bekannt ist, der kennt ihn wirklich. Tatlin bietet ja eine große Tiefe: die Gemälde, die Konterreliefs, das Theater; man weiß, dass er der Schöpfer des Letatlins und des Denkmals für die III. Internationale ist.

Im Westen ist Tatlin mittlerweile sehr bekannt. So waren unglaublich viele Menschen gestern bei der Vernissage. Das liegt auch wirklich an Tatlin, der eine Attraktion ist. Wir haben uns sehr darüber gefreut.

In Russland ist man außerhalb der Museumslandschaft wohl eher reserviert Tatlin und der Avantgarde gegenüber. Vor kurzem wurde in Moskau das Rossija-Hotel abgerissen. Da kam der Vorschlag, an diese Stelle Tatlins Turm zu setzen, was jedoch abgelehnt wurde. Und wer im Internet googelt und den Begriff „Tatlin“ eingibt, findet bisher nur einige kleinere Zeitungsartikel. In den letzten fünfzehn Jahren wurde nur eine einzige Doktorarbeit (vor ca. fünf Jahren) verfasst: das ist eine Arbeit über Tatlins Spätwerk.

Wie erklären Sie sich dann das große Interesse für die Ausstellung hier in Basel? Ist Tatlin plötzlich wieder aktuell?

Das ist sicher der Fall. Über Ansätze, wie sie Tatlin vorschlug, wird heute neu nachgedacht. Das ist eben Tatlin: Man fragt sofort nach den historischen und politischen Hintergründen. So hat er sich sehr klar zum Oktober 1917 geäußert und sich auf die Seite der neuen Gesellschaft gestellt. Offensichtlich stößt diese Haltung heute wieder auf Interesse.

Tatlin bedauerte es sehr, dass sein Turm nicht gebaut wurde. Es gab dazu gar keine physischen Möglichkeiten, doch man hat ihn wohl auch nicht ganz verstanden. Die Frage der Glasgebäude wurde nicht akzeptiert. Der Turm sollte ja mehrere rotierende Gebäude enthalten, wobei sich die oberste Halbsphäre einmal am Tag um sich selbst drehen sollte, damit die Presse ihre Wachsamkeit nicht verliert.

Bei Tatlin selbst finden sich widersprüchliche Aussagen zu seinen Werken, so auch zum Letatlin. Einmal erklärt er, der Letatlin sei ganz klar zum Fliegen gedacht und werde auch fliegen können. Dann wieder findet man einen Kommentar, es handle sich um ein rein ästhetisches Werk.

Wladimir Tatlin, Letatlin [1929-1932], Rekonstruktion von Giorgos Athanassopoulos, Foto wsws

Aber Künstler sind ja gar nicht dazu da, ihre Werke zu erklären. Sie sind dazu da, schöne, geniale Dinge zu schaffen.

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