Marie Oestreicher, genannt Maria Austria (1915-1975), ist eine Entdeckung für das deutschsprachige Publikum. Zu Unrecht ist diese jüdische Fotografin aus Amsterdam, mit österreichischen Wurzeln, hierzulande vergessen worden.
Gerade in der gegenwärtigen politischen Landschaft ist es bedeutsam, dass eine Ausstellung im Verborgenen Museum in Berlin die Künstlerin der Vergessenheit entreißt. Ist sie doch eine Zeitzeugin, die nicht nur Krieg und Faschismus selbst hautnah miterlebt, sondern auch die gesellschaftlichen Widersprüche in den Nachkriegsjahren mit kritischem und zugleich zutiefst humanem Blick eingefangen hat.
Sie hätte längst eine Sonderschau in einem der großen bekannten Museen Deutschlands und Österreichs verdient, allein schon deshalb, weil sie die Foto-Dokumentarin des Verstecks von Anne Frank und ihrer Familie im berühmten „Achterhuis“, dem Hinterhaus an der Prinsengracht 263 ist. Hier war Anne zusammen mit ihrer Familie und einer weiteren jüdischen Familie untergetaucht, bis sie 1944 denunziert und nach Auschwitz deportiert wurde. Heute beherbergt das Haus das Anne-Frank-Museum. Maria Austrias Fotos waren eine unersetzliche Voraussetzung für die Restaurierung der baufälligen Räume, für die Annes Vater Otto Frank, der einzige Überlebende der Familie, jahrelang gekämpft hatte. Die niederländischen Behörden wollten das Haus abreißen lassen.
Erstmals nun sind ein Teil der rund 200 „Achterhuis“-Fotos in Deutschland zu sehen. Maria Austria hatte sie 1954 gemeinsam mit ihrem Mann Henk Jonker für die Vorbereitung des ersten Theaterstücks und Films zu Anne Franks Tagebuch (The Diary of Anne Frank) aufgenommen. Akribisch hielt sie jedes Detail fest und machte die Spuren des Lebens in der beengten, düsteren Behausung auf fast intime Weise sichtbar: die verdeckte Tür hinter dem Aktenschrank, die dahinterliegende steile Wendeltreppe aus Holz, vor allem die Wand in Annes Kammer, die das heranwachsende Mädchen mit zahlreichen Postkarten und Zeitungsschnipseln beklebt hatte. Daneben zeigt ein Foto die unmittelbare Bedrohung, aufgenommen aus der Dachkammer von Maria Austrias eigenem Versteck nur wenige Häuser weiter: Unten auf der Straße vor den Häusern marschiert die Wehrmacht auf.
„In diesen Aufnahmen sind die Umstände des Untertauchens und Versteckens der jüdischen Familien vor der nationalsozialistischen Verfolgung unmissverständlich und für immer dokumentiert“, schreibt Marion Beckers, die Chefkuratorin des Verborgenen Museums im Museumsjournal.
Neben dem „Achterhuis“ überraschen auch bisher unbekannte sozialkritische Fotoreportagen, u.a. über den Hungerwinter 1944/45, über die Rückkehr jüdischer Insassen aus dem Lager Westerbork, über das Kinderdorf für jüdische rumänische Waisenkinder, sowie bisher unbekannte Porträts von Künstlerpersönlichkeiten – darunter Bertold Brecht, Thomas Mann, Benjamin Britten, Igor Strawinsky, Mstislaw Rostropowitsch, James Baldwin, Josephine Baker. Weitere Fotos vom Wiederaufbau, eine Reportage von der großen Flutkatastrophe 1953 und die ungeheuer lebendigen Theater-, Tanz- und Zirkusfotografien, die zu Maria Austrias besonderen Leidenschaften gehören, lassen das Bild einer vielseitigen Fotografin entstehen.
Zur Ausstellung ist eine deutschsprachige Broschüre von Martien Frijns erschienen, die sich auf seine umfangreiche, leider bisher nur auf Niederländisch erschienene Biographie stützt. Frijns hatte vor fünf Jahren den Nachlass der Fotokünstlerin im MAI (Maria-Austria-Institut Amsterdam) neu gesichtet und dabei zahlreiche unbekannte Fotos, darunter die Dokumentation des „Achterhuis“ entdeckt. Auch in den Niederlanden, wo Maria Austria bekannt und beliebt ist und bereits fünf kleinere Ausstellungen erhielt, wurden diese Bilder in diesem Jahr erstmals gezeigt. Eine große Retrospektive des Joods Historisch Museum (Jüdisches Historische Museum) Amsterdam von Januar bis September lockte eine Rekordzahl von Besuchern an.
Marie Karoline Oestreicher (Maria Austria) wurde als jüngste Tochter einer jüdischen Arztfamilie im damals noch zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörenden böhmischen Karlsbad (heute Karlovy Vary) geboren, absolvierte ihre Ausbildung zur Fotografin an der berühmten Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien mit Bestnote, sammelte erste praktische Erfahrungen im namhaften Fotoatelier Willinger und holte sich Anregungen in den Kreisen linker Künstler und Theaterleute rund um den Wiener Naschmarkt.
1937 flüchtete sie vor dem wachsenden Antisemitismus nach Amsterdam, wo bereits ihre ältere Schwester Lisbeth lebte und als Textilgestalterin arbeitete. Auch die übrige Familie, ihr Bruder Felix Oestreicher mit seiner Frau Gerda Laqueur, ihre drei Töchter und ihre Mutter, flohen 1938 vor den Nazis in die Niederlande. 1943 wurden sie zum Sammellager Westerbork und von dort nach Auschwitz und Bergen-Belsen deportiert. Nur die Töchter des Bruders überlebten, sowie Schwester Lisbeth, die in Westerbork den Krieg überstand. Nach Kriegsende sorgten die beiden Schwestern für die drei Nichten.
Maria Austria hatte sich nach der Nazi-Besatzung 1940 der Meldepflicht für Juden verweigert, war untergetaucht und hatte sich dem Widerstand angeschlossen. Gemeinsam mit ihrem späteren Mann Henk Jonker und anderen jüdischen Fotografen wie Eva Besnyö aus Ungarn half sie bei der Erstellung von falschen Pässen und bei Kurierdiensten. Mit Henk Jonker gründete sie die Agentur Particam (Partizanen Camera), der sich weitere bekannte Fotografen des Widerstands wie Aart Klein anschlossen.
Warum wurden auch in den Niederlanden die Fotos vom „Achterhuis“ und die Nachkriegsreportagen erst in diesem Jahr gezeigt, obwohl der Nachlass im MAI öffentlich zugänglich war, während in bisherigen Ausstellungen nur „optimistische“ Fotos vom Wiederaufbau und Kulturleben zu sehen waren? Wie hängt dies mit der Geschichte nach dem Krieg zusammen? Die WSWS stellte diese Fragen an Martien Frijns.
„Das ist eine gute Frage“, sagt Frijns. Gleich nach ihrem Tod 1975 habe keiner den Nachlass so richtig gekannt. Aber später, 2001, mit Beginn der Digitalisierung der Fotos, „hatte man nur Recherchen nach den, wie Sie es nennen, optimistischen Aufbaufotos gemacht, und die wurden gezeigt. Man kann es als zeitgemäß andeuten, oder als populär.“
Das MAI, das als Archiv für Maria Austrias Fotos eingerichtet worden war und inzwischen auch den Nachlass weiterer Amsterdamer Fotografen aufbewahrt, erhalte wenig finanzielle Unterstützung. Er habe als Biograf viele Stunden seiner Freizeit den Recherchen gewidmet und dabei die nun gezeigten, unbekannten Fotogeschichten gefunden.
„Da wusste ich, dass das Gesamtwerk der Fotografin sehr umfangreich und historisch sehr wichtig ist“, betont Frijns. „Ich wusste, dass an Hand der Austria-Fotos nicht nur die niederländische, sondern auch die europäische Nachkriegsgeschichte gezeigt werden kann.“
Maria Austria hat sich nicht öffentlich zu ihren jüdischen Wurzeln bekannt, ja selbst ihren drei Nichten nichts darüber erzählt. Sie gehörte wie ihr Freundeskreis zu den nicht-religiösen, assimilierten Juden und arbeitete im Widerstand mit Linken und Kommunisten zusammen.
Ähnlich wie in Deutschland wurden in den Niederlanden in den Nachkriegsjahren die Nazi-Verbrechen verschwiegen. Die Besatzer waren auf heftigen Widerstand unter Arbeitern und Studenten gestoßen, aber die Wirtschaftseliten, große Teile des Militärs und die Verwaltungen arbeiteten bereitwillig mit Gestapo, SS und Wehrmachtkommando zusammen. 75 Prozent der niederländischen Juden wurden deportiert, ein höherer Prozentsatz als in anderen westeuropäischen Ländern.
„Es ist sonnenklar, dass in den Nachkriegsjahren wenig über den Krieg gesprochen wurde“, sagt Martien Frijns. „Man sprach nicht über die Schrecken in Bergen-Belsen, wo Austrias Mutter und ihr Bruder mit seiner Frau gestorben waren, oder über das Lager Westerbork, wo Austrias Schwester Lisbeth den Krieg überlebte.“
Ihre Tante sei überhaupt nicht religiös gewesen und hätte nie über ihr Judentum gesprochen, bestätigt auch die einzige heute noch lebende Nichte von Maria Austria, Helly Oestreicher, im Online-Kunstmagazin artsy.net. Aber mit ihrem „leidenschaftlichen Interesse an Kultur und Büchern, und an allem, was in der Welt passiert“, sei sie ihren jüdischen Wurzeln treu geblieben. Bei der Eröffnung der Ausstellung in Berlin äußerte sie sich gegenüber der WSWS besorgt, dass heute rechtsextreme Tendenzen in Deutschland wie in den Niederlanden wieder zunehmen.
Maria Austrias Foto-Stil wird dem Neorealismus zugeordnet. Anders als die ungarisch-jüdische Fotografin Eva Besnyö, die von avantgardistischen Strömungen während ihrer Berliner Zeit in den 30er Jahren beeinflusst war, vermeidet Maria Austria künstlerische Verfremdung oder Gestaltung. Ihre Fotos sind Momentaufnahmen, die die gesellschaftlichen Widersprüche der Nachkriegszeit festhalten. Im Mittelpunkt immer wieder Gesichter, die dem heutigen Betrachter direkt in die Augen blicken, als hätten sie viel zu erzählen.
Wie bei anderen Künstlern des Neorealismus nach dem Krieg spricht aus Maria Austrias Fotos linke Gesellschaftskritik. Sie ergreift Partei: Für die Arbeiter und einfache Bevölkerung, die ausgehungert und ausgebombt sind, aber wenige Jahre nach Kriegsende stolz mit Fahrrädern die Plätze bevölkern (Amsterdam, 1950) – 1944 hatten die Nazis alle Fahrräder beschlagnahmen lassen; für die Kinder in den Armenvierteln wie in Nijmwegen, die Hungerödeme an Füßen und Beinen haben, sich aber nach einem fröhlichen Leben sehnen und deshalb begierig Clowns auf den Straßen umringen.
In der Fotoreihe Jüdische Heimkehrer aus Westerbork (1945) legt Maria Austria den Finger auf die Gleichgültigkeit, die den mit Koffern bepackten Menschen in Amsterdam entgegenschlägt. In ihren Bildern von jüdischen Waisenkindern aus Rumänien (1948), die sie im Kinderlager Ilaniah in Apeldoorn machte, spürt man die große Empathie. Bis 1943 waren hier behinderte Kinder und Jugendliche untergebracht, die nach Auschwitz deportiert wurden. Die rund 500 rumänischen Kinder, die ihre Eltern im Holocaust verloren hatten, wurden 1968 nach Israel weitergeschickt.
Ein Foto zeigt eine Gruppe Kollaborateure, die abgeführt wird und deren feine Kleidung und kalten Gesichter die Herkunft dieser Männer aus der oberen Gesellschaftsschicht verraten. Daneben die Fotos vom „Asozialen-Lager“ Drenthe, in dem die niederländische Regierung sozial schwache Familien unterbrachte und bis 1950 zur Schwerarbeit zwecks „Resozialisierung“ zwang. Hier erahnt man trotz aller Sachlichkeit die Empörung der Fotografin.
Auch ihre anderen Bilder – Porträts, Theater-, Musik-, Tanzfotos, die Maria Austria beim alljährlichen Holland-Festival und als Hausfotografin des experimentellen Mickery Theaters machte – bestechen durch ihre Verbindung von Präzision und Ausdruckskraft.
So beispielsweise der russische Cellist Mstislaw Rostropowitsch bei einer Probe. Austria zeigt ihn aus der Perspektive seines Instruments, das von unten ins Bild hineinragt und bruchlos in Oberkörper und Gesicht des Musikers übergeht. Die Schwingungen der Saiten, die dunklen Klangfarben bestimmen die Gesichtszüge. Beeindruckend auch das nahezu schwarze Foto des amerikanischen Schriftstellers und Symbols der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung James Baldwin.
„Ich versuche jetzt nicht mehr wie in Wien möglichst viel in ein Kopffoto hineinzulegen, sondern, im Gegenteil, möglichst viel aus dem Gesicht herauszuholen“, schrieb Maria Austria Ende 1937 in einem Brief aus Amsterdam über ihre Porträtfotografie.
Dem kleinen Verborgenen Museum, das bereits im Jahr 2003 einen Ausschnitt des Werks von Maria Austria, vor allem Fotografien des Wiederaufbaus nach dem Krieg Ende der 50er und in den 60er Jahren gezeigt hatte, ist diese Sonderschau hoch anzurechnen. Viele der Fotos sind angesichts der Rückkehr von Krieg, Rassismus und faschistischer Gewalt von brennender Aktualität.
„Maria Austria – eine Amsterdamer Fotografin des Neorealismus“
18. Oktober 2018 bis 10. März 2019
Das Verborgene Museum | Schlüterstr. 70, Berlin-Charlottenburg
Copyright: © Maria Austria / Maria Austria Instituut