Museum Tinguely, Basel:

Tatlin – neue Kunst für eine neue Welt

Teil 5: Interview mit Gian Casper Bott, dem Kurator der Ausstellung

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Wladimir Tatlin (1885-1953) widmet das Museum Tinguely in Basel zurzeit eine umfassende Ausstellung, die noch bis zum 14. Oktober 2012 zu sehen ist. Zwei Journalistinnen der World Socialist Web Site konnten am Tag nach der Eröffnung mit Dr. Gian Casper Bott sprechen, dem Kurator der Basler Tatlin-Ausstellung. Er hat Wesentliches dazu beigetragen, dass die Ausstellung einen wirklich umfassenden Einblick in das Werk dieses führenden Künstlers der russischen Avantgarde verschafft.

Was hat Sie bewogen, diese Ausstellung zu machen? Wie sind Sie drauf gekommen?

Die Idee zu dieser Ausstellung stammt von Roland Wetzel, dem Direktor des Tinguely-Museums. Er hat ein besonderes Faible für die russische Avantgarde, sicher auch, weil es ein Thema war, das Tinguely sehr beschäftigte.

Er kennt mich von unserer gemeinsamen Arbeit am Kunstmuseum Basel, über dessen ganze Sammlung ich ein Buch geschrieben habe.

Die Idee zur Tatlin-Ausstellung kam also von Herrn Wetzel. Aber kaum hatte er’s ausgesprochen, war ich Feuer und Flamme. Sehr schnell habe ich realisiert, dass es wirklich eine große Herausforderung sein würde. Es ist eine wunderbare, weil sehr komplexe Aufgabe.

Dr. Gian Casper Bott vor dem Bild
Wladimir Tatlin, Steuermann. Bühnenbildentwurf
zu Wagners Oper „Der fliegende Holländer“,
1915-1918, Staatliches Zentrales
A.-A.-Bakhruschin-Theatermuseum, Moskau

Zuerst habe ich versucht, herauszufinden, wo sich Tatlins Bilder befinden. In Russland werden die Namen der meisten Einrichtungen abgekürzt, und diese Abkürzungen haben sich im Lauf der Zeit auch noch verändert. Darüber musste man sich erst Kenntnisse verschaffen.

Der wichtigste Schlüssel dazu war sicherlich der Katalog der Tatlin-Ausstellung in Deutschland und Russland von 1993-94, der eigentlich ein Werkkatalog ist. Bei vielen Sachen muss man sich eine Menge Texte durchlesen, oder es heißt, dies und jenes sei „verschollen“. Die Frage stellte sich: Was ist überhaupt erreichbar.

Im Jahr 2010 knüpften wir die ersten Kontakte, und bis Anfang 2011 hatten wir ein Konzept. Wir entschieden uns, Tatlin in seiner revolutionären Tätigkeit zu zeigen, revolutionär zunächst als Künstler, als Avantgardist, und dann als politisch und historisch revolutionäre Figur.

Das hieß zugleich, dass wir gewisse Bereiche ausblendeten oder nur andeuteten. Dazu gehört sicherlich Tatlins späte Malerei, die in den 1930er Jahren beginnt, nachdem er vom stalinistischen Regime zurückgedrängt wurde. In dieser Zeit zieht sich Tatlin auf sich selbst zurück – oder auch nicht: das ist hier noch die Frage. Er beginnt wieder zu malen. Er verteidigt aber als einer von ganz wenigen öffentlich seine Kunst und seine Werke.

Er nimmt seine Arbeit für das Theater wieder auf und intensiviert sie. Er findet da wohl eine Art Nische, in der man ihn machen lässt. Das Thema Theater beschäftigt Tatlin sein ganzes Leben lang. Es ist jedoch festzustellen, dass er nicht zufrieden oder glücklich damit ist. Er sagt: Aufgaben gibt es fast nicht.

Seine späten Bilder könnten auf den ersten Blick „harmlos“ wirken, und auf manche Leute wirken sie merkwürdig sinnentleert. Sie sind in Wirklichkeit sehr poetisch und weisen ein ungeheurer starkes Gefühl für die Materialität der Malerei auf. Er entwickelt eigenwillige Farbnuancen, und auch die Technik ist wirklich sehr besonders. Manchmal hat man das Gefühl, seine Fingerabdrücke oder ein Haar von ihm zu sehen. Manchmal graviert er die Farbe mit dem umgekehrten Pinsel, oder er laviert wie bei Aquarellen. Eigentlich führt er das Repertoire weiter, das er bei früheren Werken hat.

Es ist aber ganz klar eine andere Zeit. Es wäre sicherlich interessant, Tatlins späte Malerei zum Thema einer eigenen Ausstellung zu machen, aber dazu wäre das Tinguely-Museum der falsche Ort.

Auch Tatlins Arbeiten als Designer, seine Werke für die so genannte Alltagskultur, seine Entwürfe für Kleider und Gebrauchsgegenstände sind in dieser Ausstellung nur angedeutet. Wir wollten bewusst diese Fokussierung auf Tatlins revolutionäre Kunst. Zum heutigen historischen Zeitpunkt geht es darum, die revolutionäre Rolle Tatlins und seine ganz großen Stärken zu zeigen.

Die frühe Malerei – im großen ersten Saal hängen ja zehn Bilder von Tatlin, alle aus den Jahren 1911-13 – repräsentieren praktisch Tatlins gesamtes bildnerisches Schaffen vor der Revolution. Es fehlt so gut wie nichts. Da wollten wir wirklich sehr vollständig sein.

Bis hin zu diesem wunderbaren Bildnis eines Malers, Tatlins Selbstbildnis, fast eine Ikone: Er hält den Pinsel fast wie eine Segensgeste. Es kommt aus dem Museum [für Geschichte, Architektur und Bildende Künste] in Kostroma.

Wladimir Tatlin, Bildnis eines Malers (Selbstbildnis), 1912. Copyright: Foto 2012, Museum für Geschichte, Architektur und Bildende Künste, Kostroma

Es ist ein sehr großer Glücksfall, dass wir das hier zeigen können; es ist ein wunderbares Bild: diese stille Zurücknahme der Farbe, und gleichzeitig diese ganz große Kraft und dieser Schwung der Konturen.

Tatlin und Malewitsch

Wladimir Tatlin und Kasimir Malewitsch waren sehr unterschiedliche Künstler und in ihren Auffassungen oft äußerst kontrovers. Aber beide hatten einen ähnlichen Werdegang, beide wurden von Stalin ausgebremst, und beide haben aber nicht kapituliert. Keiner von beiden hat sich dem „sozialistischen Realismus“ angeschlossen. Sehen Sie Anhaltspunkte, was diese Künstler dazu befähigt hat, nicht zu kapitulieren?

In der großen, Geschichte machenden Avantgarde-Ausstellung 1915 in Petrograd treten beide Künstler als Antagonisten auf: Malewitsch hängte an die übliche Stelle der Ikone sein berühmtes Schwarzes Quadrat, Tatlin stellt erstmals seine Konterreliefs aus.

Ihr Antagonismus ist aber ganz sicher auch als eine stilisierte Angelegenheit der Künstler selbst anzusehen. Es ist die Zeit, wo eigentlich zwei, drei Tage darüber entscheiden können, wer was zuerst gemacht hat.

Da gibt es ja die Geschichte, dass Tatlin sein Atelierfenster mit Zeitungspapier zuklebt, weil Malewitsch, der ebenfalls in der Nähe ein Atelier hat, seine Ideen wegstehlen könnte. Oder zu den Konterreliefs gibt es die Anekdote, die aber vielleicht doch stimmt, dass Tatlin seine Konterreliefs erst im allerletzten Moment in die Ausstellung gebracht und montiert hat, aus der Angst heraus, ein Kollege – und vermutlich ist Malewitsch gemeint – könnte ihm eine Idee wegnehmen.

Ich vermute – obwohl ich es nicht beweisen kann – dass sie im Grunde durchaus befreundet waren. Sie waren sich bewusst, dass sie die Träger dieser ganzen Bewegung waren.

Was nun den Stalinismus angeht, so kann ich mir bei Tatlin nicht vorstellen, dass er sich vom Stalinismus hätte vereinnahmen lassen. Er war einfach viel zu sehr von den Idealen der Revolution überzeugt. Ich bin kein Historiker, aber es war mir ein Bedürfnis, dass wir im Katalog auch einen Text haben, der Tatlin als politisches Wesen erklärt. Das ist der Text von David Walsh.

Ich habe lange gesucht, wer dafür in Frage käme. Da fiel mir im Internet seine Rezension der Großen Utopie [1] auf. Offenbar kennt er sich sehr gut aus, und er hat das richtige Vokabularium. Es war klar, dass wir für diese Aufgabe einen Historiker oder Politikwissenschaftler brauchten.

Möglicherweise hat man Tatlin in der Ausstellung von 1993 in Düsseldorf zu stark vom politischen Geschehen isoliert, wobei es damals – kurz nach der Auflösung der Sowjetunion – wohl gar nicht anders sein konnte. Aber Tatlin hat ja von sich selbst gesagt, er sei der erste Künstler, der sich bei den Bolschewiken gleich nach der Revolution zur Stelle gemeldet habe.

Sein „Turm“ ist ganz offensichtlich (unter anderem, nicht nur) eine agitatorische Propagandamaschine. Er ist auch eine große Skulptur und wunderbare Architektur mit großem Zukunftspotential. Aber gewisse Aspekte sind reine Propaganda: Aus den Garagen fahren die Motorräder heraus und fahren mit Agitationsmaterial, Schriften und Lautsprechern durch die Stadt, um zu Taten aufzurufen, und es gibt Lichtstrahlen, die, bei Nacht und wenn der Himmel bewölkt ist, große Losungen an den Himmel projizieren.

Die russische Revolution war am Anfang eine große Utopie, die die Menschen inspirierte, die die Verbesserung der ganzen Menschheit zum Ziel hatte. Es ging darum, eine gerechtere Welt zu schaffen, in der auch die Kunst eine ganz neue Rolle einnehmen würde, und die ohne die Kunst nicht zu denken war. Die Kunst war ein sehr wichtiger Bestandteil der Revolution.

Der Stalinismus – eine reaktionäre Gegenrevolution

Das habe ich aus dem Text von David Walsh ganz deutlich gelernt (es war mir vorher nicht so klar): dass der Stalinismus ja eine reaktionäre Gegenrevolution war, in der die Bürokratie alles zuzementierte.

Das kann man auch am Schicksal Nicolai Punins erkennen. Er war ein Mitstreiter Tatlins und hat 1920 die agitatorische Schrift „Das Denkmal der III. Internationale“ verfasst. 1921 hat er in Petrograd die erste Biographie über Tatlin, „Gegen den Kubismus“, veröffentlicht. Punin ist am Ende in einem Lager in Sibirien umgekommen.

Man kann sich fragen: Warum blieb dieses Schicksal Tatlin erspart? Möglicherweise hat man ihn irgendwann in den 1930er Jahren nicht mehr ganz so ernst genommen. Am Ende seiner revolutionären Karriere steht ja dieser „Letatlin“, und da konnte man relativ einfach sagen: „Der spinnt ja sowieso.“ Das wäre vielleicht eine Erklärung.

Was mir bisher nicht so klar ist: Tatlin steht ja in den Jahren 1919-20 dem Machtzentrum sehr nahe. Wladimir Lenin besichtigt Tatlins Turm. Anatoli Lunatscharski, der Volkskommissar für das Bildungswesen, leitet Tatlins Brief an Lenin weiter, der ihn möglicherweise auch gelesen hat.

Der Turm ist zuerst das Monument der Oktoberrevolution und wird dann sehr schnell zum Monument der III. Internationale. Vielleicht war er Lenin aber doch zu modern oder zu abstrakt.

Könnte Lenins Kritik nicht der von Trotzki ähnlich gewesen sein, die er in „Literatur und Revolution“ äußert?

Trotzki äußert ja eine sehr wohlwollende Kritik. Er schreibt zu den rotierenden Gebäuden im Innern des Turms, man könne sich ja fragen, warum sich der Sitz der Weltregierung wirklich drehen müsse. Er stellt diese Frage so in den Raum und sagt dann: Ich habe ein wenig den Eindruck, es sieht aus wie ein nicht weggeräumtes Baugerüst. Aber das ist sicher keine böse, scharfe Kritik, sondern sie hat selbst eine poetische Komponente.

Lunatscharski sagte dagegen, wenn es wirklich gebaut würde, könnte es auch Erbitterung bei den Stadtbewohnern hervorrufen. Er äußerte, er sei dagegen, dass „unsre Städte mit so amerikanisch aussehenden Tatlin-Türmen vollgestellt“ würden.

Zu der Zeit haben sich in Russland auffallend viele, sehr prominente Persönlichkeiten zu Tatlins Turm geäußert. Ilja Ehrenburg sagte (in seinen Erinnerungen), es sei ihm vorgekommen, als habe er angesichts dieses Turmes durch einen Türspalt ins 21. Jahrhundert spähen können. Man spürt doch diesen großen Optimismus zu einer Zeit, als die Gegenwart absolut nicht rosig war.

Historisches Foto aus Dokumentationsteil der Ausstellung: Tatlin mit Helfern beim Turmbau, Petrograd 1920, unbekannter Fotograf

Ich frage mich, ob tatsächlich die Idee bestand, Tatlins Turm wirklich zu bauen. Es würde zu Tatlin passen, den Turm als eine – im weitesten Sinn – theatralische Behauptung aufzufassen. Wäre der Turm gebaut worden, hätte er möglicherweise etwas von seinem utopischen, visionären Charakter eingebüßt.

Die Frage ist auch: würde er heute überhaupt noch stehen? Eher nicht, man hätte ihn wohl in den 1950ern, wenn nicht schon in den 1930er Jahren abgerissen.

So ging es einem großen Teil der Architektur der Avantgarde, wie die Ausstellung „Baumeister der Revolution“ in Berlin so deutlich zeigt.

Ja, genau.

Auf jeden Fall spielt das theatralische Element eine große Rolle bei Tatlin. Das fällt schon bei den Porträtfotos seiner Person auf. Er hat sie äußerst sorgfältig arrangiert. Er war zwar nicht der Fotograf, sondern der Fotografierte, aber er hat sicherlich Anweisungen gegeben.

Zum Beispiel, das frühe Foto von 1916, das auch bei Punin erscheint, ist sorgfältig in Szene gesetzt. Dann, Jahrzehnte später, haben wir ein weiteres Foto, auf dem er sich in genau der gleichen Weise inszeniert. Dann gibt es eine Postkarte, die nach seinem Selbstbildnis als Matrose von 1911 entsteht. Es kann kein Zufall sein. Er hatte ganz bestimmt einen Hang zur Geste, mit der er sagen wollte: „Seht mal her, das ist so.“

Bei seinem Turm könnte es ähnlich sein. Da wird gesagt: Er wird 400m hoch, soll so und so werden, – im Wissen, dass es zu der Zeit zumindest äußerst schwierig sein würde. Das ist auch beim „Letatlin“ zu spüren, wo er natürlich eigentlich weiß, dass das gar nicht funktioniert. Aber er behauptet (in einem positiven, visionären Sinn): Das geht.

Letatlin: Suche nach der idealen Form für eine Vision oder einen Menschheitstraum

Es gilt, für eine Aufgabe, eine Vision oder einen Menschheitstraum die ideale Form zu finden. Der Rest ergibt sich dann schon. Beim Letatlin stelle ich mir das so vor, als habe er sich gesagt: Es ist wie in der Musik. Für die Violine hat man die ideale Form entdeckt, und nun muss man bloß von Kind auf üben, um darauf wunderbar spielen zu können. Oder wie beim Fahrradfahren: Die Form des Fahrrads kann kaum noch perfektioniert werden, sondern wenn man es als Kind gelernt hat, kann man mit einem Fahrrad fahren.

Tatlin beginnt nicht mit Berechnungen, sondern er entwirft eine Form, die er für so perfekt hält, dass es damit gehen müsste. Er betrachtet sein Ergebnis als ideale Form, voller Eleganz und Schönheit, und er stellt es 1932 im Italienersaal des heutigen Puschkin-Museums aus, wo auch eine große Kopie des „David“ von Michelangelo steht. Man hat den Eindruck, als würde er sagen: Seht her, das ist die alte Kunst (die er sicher auch schätzt!), und mein Letatlin, das ist die neue Kunst. So sieht sie aus.

Darin ist auch die Idee des Rückgriffs auf die Renaissance. David verkörperte den idealen Menschen der Renaissance.

Wladimir Tatlin, Letatlin [1929-32], Rekonstruktion von Jürgen Steger, 1991, Zeppelin-Museum Friedrichshafen

Und – was eher noch für den Turm gilt: Man könnte menschliche Proportionen darin erkennen. Er hat eine antropomorphe Komponente. Der sich drehende Körper könnte als Kopf aufgefasst werden. So sagte auch Punin: „Wir wissen noch nicht, wie der neue Mensch darzustellen ist.“ Es sei ganz klar, dass man ihn nicht mehr hoch zu Ross oder wie den „David“ darstellen könne, sondern ganz sicher mit elementarsten Formen, wie die neue Kunst sie zeige.

Wie verstehen Sie Tatlins Äußerung, dass „das Auge unter die Kontrolle des Tastsinns“ gestellt werden müsse: Geht es ihm dabei um eine Rehabilitierung des Tastsinns in der Kunst, um einen Übergang von der zweidimensional Malerei ins Dreidimensionale oder auch um das Gefühl für die Materialien?

Seit 1912, sagt Tatlin, rufe er seine Kollegen auf, „das Auge unter die Kontrolle des Tastsinns zu stellen“. Auf der einen Seite ist das ein Aufruf, sich zu vergewissern, eine Art neuen oder anderen Realismus. Das Motiv, berühren um zu glauben, findet sich schon in der Bibel bei Thomas, der seine Finger in die Wunde des Christus legen muss, um glauben zu können, was er sieht.

Es gibt ein weiteres Motiv im Wettstreit der Künste seit der Renaissance: Wer hat den Vorzug, die Skulptur oder die Malerei? Die Bildhauer sagen, die Skulptur habe den Vorzug, berührt werden zu können, doch Leonardo da Vinci sagt, das sei natürlich kein Vorzug der Kunst, sondern der Natur. Ein Stück Holz habe das von sich aus, und die Kunst bestehe gerade darin, das vorzutäuschen. Galileo Galilei dagegen bringt es im 17. Jahrhundert sehr schön auf den Punkt und sagt: Auch die Skulptur, nicht nur die Malerei, täuscht vor. Die Skulptur täuscht Eigenheiten wie Weichheit, Härte, Kälte und alle diese sinnlichen Eigenschaften vor.

Man darf Tatlin in keinem Bereich unterschätzen, er könnte das alles gewusst haben. Er sagt ja nicht: „Wir ersetzten das Auge durch den Tastsinn“, so etwas sagt er nirgendwo.

Was den Tastsinn angeht, so ist auch die Episode mit Tatlin als Banduraspieler wichtig. Wir haben ja einen Banduraspieler aus der Ukraine, Sergej Zakharets, hier, der zur Vernissage auftrat. Von ihm erfuhr ich, dass er seine Bandura selbst gebaut hat. Und das hat Tatlin eben auch gemacht.

Sergej Zakharets,
Banduraspieler an der Vernissage
in Basel, Foto wsws

Tatlin tritt ja als blinder Banduraspieler auf. Diese Rolle ist nicht nur ein Sinnbild für die Inspiration (das ist es sicher auch! So ist Homer der blinde Dichter, etc.), sondern Sergej sagte zu mir, diese Banduraspieler seien tatsächlich Blinde gewesen, die sich so ihren Lebensunterhalt verdienten. Und sie hatten meisten einen Knaben bei sich, der sie geführt hat, und diese Jungen haben durch Beobachten selbst das Spiel auch gelernt. Die Bandura wird wirklich durch Ertasten gespielt. So erhält dieser Spruch, das Auge unter die Kontrolle des Tastsinns zu stellen, noch einen anderen Sinn, und eins greift ins andere.

Von Tatlin gibt es ja nur ein paar wenige, kernige Aussagen: zum Beispiel: „Weder neu, noch alt, sondern das, was nötig ist.“ Was sowohl beim Turm, als auch beim Letatlin, aber auch bei seinen Konterreliefs auffällt: Tatlin schafft einerseits etwas völlig Neues, und gleichzeitig wurzelt es ganz tief in der Tradition. Er bezieht sich auf Leonardo da Vinci und entwickelt eine Vision, die vollkommen in die Zukunft gerichtet ist.

„Ich bin Künstler, ich liefere Ideen“

Von Seiten des „Proletkults“ wurde selbständige Kunst ja strikt abgelehnt, sie sollte nur noch Propagandazwecken dienen. Tatlin hat das offensichtlich abgelehnt?

Ja, er hat es abgelehnt, das ist in seinem Werk zu sehen. Er ist nicht jemand, der sich dazu äußert; er ist eigentlich sehr wortkarg. In den 1920er Jahren geht es stark in die Richtung: „Wir tragen die Kunst in die Alltagswelt hinein“, aber er sieht die Kunst nie als Dienerin der Politik, sondern sie spielt eine selbständige Rolle.

Maria Lipatowa hat den wunderbaren Spruch Tatlins über ihren Katalogbeitrag gesetzt: „Ich bin Künstler, ich liefere Ideen.“ Das passt dazu. Er sah seine Aufgabe darin, Ideen zu liefern, und es war Sache anderer Leute, der Ingenieure oder Fachleute, die Ausführung zu berechnen. Nicht umgekehrt, darauf legte er großen Wert.

Deshalb würde ich den Begriff „Design“ nicht besonders gerne auf Tatlin anwenden. Es geht nicht darum, ein Produkt in eine hübsche Form zu kleiden. Sondern Tatlin entwickelt die schönste und sinnvollste Form für einen besonderen Zweck.

Hat er nicht auch stark interdisziplinär mit anderen im Kollektiv, zusammengearbeitet?

Sicher. Das fällt am stärksten auf bei der Entwicklung des Letatlin.

Wichtig ist auch seine Tätigkeit kurz nach der Revolution: Tatlin macht sich Gedanken, wie man das Ausbildungswesen der Künstler, oder auch das Museumswesen, revolutionieren könne. Er macht sich Gedanken zum Museum der Gegenwartskunst, und das immerhin Jahrzehnte, bevor dasselbe auch in New York zum Thema wird. Auch hier ist er revolutionär.

Es fällt auf, dass er nach der Revolution kein einziges Konterrelief mehr baut. Er hat es wohl als in erster Linie künstlerisches Problem gesehen, das zwar brillant gelöst werden kann. Aber durch die Revolution hat der Künstler eine neue Aufgabe erhalten, und die Kunst eine andere Dimension. Konterreliefs nutzt er nur noch als künstlerische Übung für seine Studenten.

Im Bereich der Konterreliefs sind wohl insgesamt nur drei, höchstens vier Originale erhalten. Und die beiden wichtigsten sind hier zu sehen: das Eck-Konterrelief aus dem Russischen Museum von 1914 und die „Materialauswahl“ aus der Tretjakow-Galerie von 1916. Das sind ausgesprochen „heilige Kühe“, vergleichbar mit Malewitschs „Schwarzem Quadrat“.

Wladimir Tatlin,
Konterrelief (Materialauswahl), 1916,
Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, Foto wsws

Dazu haben mir Kollegen vorher gesagt: Das werden Sie sicher nicht bekommen, es wird nie ausgeliehen. Und jetzt hängen sie hier nebeneinander. Es war sehr schön zu sehen, wie die Kuriere, die die zwei Kunstwerke gebracht haben, gerührt waren, beide zusammen zu sehen.

Die Ausstellung zeigt wirklich überraschend viele Originale. Im Bereich der frühen Malerei haben wir praktisch alles da, was noch existiert, und im Bereich der Konterreliefs ebenfalls. Und wir haben die beiden interessantesten Turm-Rekonstruktionen, die des Ateliers Longépé aus dem Centre Pompidou in Paris und die von Dmitrij Dimakow aus der Staatlichen Tretjakow-Galerie.

An diesen beiden fasziniert mich besonders, dass man sie durch den Vergleich viel gründlicher anschaut. Viele Eigenheiten fallen erst dadurch auf, dass man die Qualität des einen mit der des andern vergleicht. An der russischen Rekonstruktion spürt man vielleicht noch deutlicher, dass Tatlin einfach mit dem vorhandenen Material zurechtkommen musste.

An Tatlin fällt außerdem auf, dass er niemals Bilder malte, um sie zu verkaufen. Für Tatlin hat es nie einen Markt gegeben. Ich kenne keinen andern Künstler, der so offensichtlich gar kein Interesse am Kunsthandel hat wie Tatlin. Schon seine frühesten Bilder produziert er ganz klar, um sie auszustellen und seine Kunst voranzubringen, und nicht um sie zu verkaufen. Auf diese Idee kommt er gar nicht.

In der Malerei zum Beispiel, in diesen phantastischen zehn Bildern der frühen Phase, da rast er quasi von einer Entwicklungsstufe in die nächste, und in jeder ist ein so großes künstlerisches Potential enthalten, dass man es, wie es andere Künstler durchaus tun, zwei drei Jahre ausschlachten könnte.

Anmerkung:

1) David Walsh: Der Bolschewismus und die Künstler der Avantgarde, World Socialist Website 5., 6. und 9. März 2010. http://www.wsws.org/de/articles/2010/mar2010/kuns-f05.shtml

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