Fünf Jahre und drei Monate für Lina E. – ein politisches Urteil

Das Oberlandesgericht Dresden hat die 28-jährige Lina E. zu fünf Jahren und drei Monaten und drei weitere Angeklagte zu jeweils rund drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht erachtete es als erwiesen, dass die vier eine kriminelle Vereinigung gebildet haben, die gezielt Neonazis angriff und verletzte. Gegen weitere 15 Verdächtige wird weiter ermittelt.

Das Gericht hob den Haftbefehl gegen Lina E. zwar unter strengen Meldeauflagen auf, weil sie bereits zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft saß. Sie muss aber für mindestens ein weiteres Jahr ins Gefängnis, falls das Urteil rechtskräftig wird.

„Free Lina" Graffiti in Leipzig [Photo by Frupa / CC BY-SA 4.0]

Der Prozess gegen Lina E. und die drakonischen Strafen, die das Oberlandesgericht verhängte, sind politisch motiviert und dienen politischen Zwecken – und das in mehrfacher Hinsicht.

Das Urteil selbst stützt sich auf fragwürdigen Indizien, Mutmaßungen und die Aussagen eines dubiosen Kronzeugen. Trotz 98 Verhandlungstagen gelang es dem Gericht nicht, eindeutige Beweise für die Taten zu erbringen, die zur Verurteilung der Angeklagten führten. Nur in einem Fall – dem Anschlag auf den Neonazi Leon R. in Eisenach im Dezember 2019 – konnte es einen indirekten Bezug zwischen Lina E., die kurz danach verhaftet wurde, und einer konkreten Tat nachweisen.

Die Bundesanwaltschaft, die für Staatsschutzdelikte zuständig ist (sonst obliegt die Strafverfolgung den Ländern), zog das Verfahren sofort an sich und bauschte es gezielt auf. Sie ließ Lina E. wie eine Terroristin im Hubschrauber zum Haftrichter fliegen, sorgte dafür, dass sie zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft blieb, stilisierte sie zur Rädelsführerin und forderte eine Freiheitsstrafe von acht Jahren.

Die Bundesanwaltschaft „kannte nur eine Richtung“, wie es in einem Kommentar der taz heißt: „Wann immer eine Frau am Tatort war, soll es Lina E. gewesen sein. Wann immer ein Indiz vorlag, wurde es gegen die Angeklagten ausgelegt. Selbst ein Alibi eines Angeklagten, das in den Akten der Bundesanwaltschaft schlummerte, behielt die Behörde für sich, versehentlich oder gezielt. Es war jedenfalls die Verteidigung, die es ausbuddeln musste.“

Die Soko Linx, die im November 2019 vom Landeskriminalamt Sachsen gegründet wurde, um gegen „Linksextremismus“ vorzugehen, war, wie wir in einem früheren Artikel berichtet haben, „eine Art Joint Venture aus sächsischer Polizei und der rechtsextremistischen Szene“. Details aus den Ermittlungsakten, einschließlich der Klarnamen verdächtigter Antifaschisten, gelangten über das rechtsextreme Compact-Magazin und Focus Online immer wieder an die Öffentlichkeit.

„Die Ermittlungen und Recherchen,“ schrieben wir, „zeichnen zunehmend das Bild einer Polizei, die rechtsextremen Elementen nicht nur nahesteht, sondern vielmehr selbst als Teil eines rechtsextremen Netzwerks operiert. Offenbar sticht sie systematisch Informationen an Rechtsextreme durch und arbeitet mit ihnen auf das Engste zusammen.“

Die hohen Haftstrafen für Lina E. und ihre Mitangeklagten stehen in krassem Gegensatz zur Nachsicht der Justiz gegenüber rechtsextremen Gewalttätern.

So wurde André Eminger im Münchner NSU-Prozess lediglich zu zweieinhalb Jahren verurteilt, obwohl er Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe, die mindestens zehn rassistische Morde begingen, 14 Jahre lang unterstützt und begleitet hatte. Er verließ den Gerichtssaal als freier Mann.

Zwei Neonazis, die 2018 im thüringischen Fretterode zwei Fotojournalisten angriffen und schwer verletzten, kamen mit einer Bewährungsstrafe und einigen Sozialstunden davon. Richterin Andrea Kortus vom Landgericht Mühlhausen begründete das milde Urteil damit, dass die Angeklagten die Fotojournalisten irrtümlich für Aktivisten der Antifa gehalten hätten. „Laut Auffassung des Gerichts, ist es offenbar legitim, gegen linke Aktivisten vorzugehen und sie brutalst zu attackieren,“ kommentierten wir das Urteil. Umgekehrt ist dies, wie das Urteil von Dresden zeigt, nicht der Fall.

Der Prozess gegen Lina E. und ihre Mitangeklagten verfolgte von Anfang an das Ziel, jede Opposition gegen Rechtsextreme als „Linksextremismus“ zu denunzieren und zu kriminalisieren.

Dass Rechtsextreme vom Staat gefördert, gedeckt und, wenn sie auffliegen, mit Samthandschuhen angefasst werden, ist spätestens seit der Enttarnung des NSU und des Hannibal-Netzwerks in den Sicherheitskräften bekannt. Das Ausmaß rechtsextremer Gewalt in Deutschland ist enorm. So hat die Antonio Amadeu Stiftung seit 1990 219 Todesopfer durch rechtsextreme Täter gezählt. Das Bundeskriminalamt meldete im vergangenen Jahr 1170 rechte Gewaltdelikte, 12 Prozent mehr als im Vorjahr. Knapp 600 Rechtsextreme, die derzeit mit Haftbefehl gesucht werden, sind angeblich unauffindbar.

Sachsen ist seit langem eine Hochburg von Rechtsextremen, mit engen Verbindungen in die höchsten Ebenen von Staat und Regierung. Es gibt ganze Regionen, die von Rechtsextremen terrorisiert werden. Im sächsischen Chemnitz konnte der NSU jahrelang ungestört seine Mordanschläge vorbereiten, umgeben von einer Unterstützerszene, in der es von staatlichen Informanten wimmelte. Die NPD saß zehn Jahre lang im sächsischen Landtag, und die AfD ist dort heute zweitstärkste Partei. Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) verteidigte 2018 – wie Bundesverfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maßen – einen rechtsradikalen Aufmarsch in Chemnitz; doch während Maaßen gehen musste, blieb Kretschmer im Amt.

Der Prozess gegen Lina E. sollte von dieser rechtsextremen Verschwörung ablenken und den Widerstand dagegen kriminalisieren. Die Behauptung, er würdige antifaschistisches Engagement, es gehe lediglich um die Verfolgung schwerer Straftaten, mit der Richter Hans Schlüter-Staats seine fast neunstündige Urteilsbegründung eröffnete, ist schlicht falsch.

Denn als „linksextrem“ verfolgt der Staat nicht nur Organisationen, die Gewalt anwenden, sondern auch solche, die mit politischen Mitteln kämpfen, wie die Sozialistische Gleichheitspartei. Die SGP sei „linksextrem“, weil sie „für eine demokratische, egalitäre, sozialistische Gesellschaft“ streite, „gegen angeblichen ‚Imperialismus’ und ‚Militarismus’“ agitiere und „in Klassenkategorien“ denke, heißt es in einem Schriftsatz des Innenministeriums, der die Verfolgung der SGP durch den Verfassungsschutz rechtfertigt.

Kaum war das Urteil gegen Lina E. gesprochen, forderte ein vielstimmiger Chor ein schärferes Vorgehen gegen „Linksextremisten“.

„Wir erleben bei Linksextremisten eine wachsende Radikalisierung und Akzeptanz von brutalster Gewalt“, erklärte Thüringens Verfassungsschutzpräsident Stephan Kramer. Die Gewalt gelte „politischen Gegnern ebenso wie Vertretern des Staates“. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) behauptete, die Behörden gingen hart gegen die Gefahren von Rechtsextremismus vor, in den nächsten Tagen würden sie auch die linksextreme Szene genau im Blick behalten.

Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang warnte, der Moment rücke näher, „in dem man auch von Linksterrorismus sprechen muss“. Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) kündigte Ermittlungen in der linksextremen Szene an: „Wir werden weiter ermitteln, das Netzwerk weiter aufdecken und sind zuversichtlich, weitere Straftäter vor Gericht bringen zu können.“ Der sicherheitspolitische Sprecher der AfD im sächsischen Landtag, Carsten Hütter, erklärte, das Urteil sei zu milde. Die Justiz habe in diesem Fall versagt.

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