Fretterode-Prozess: Neonazis nach Mordanschlag auf Journalisten auf freiem Fuß

Im April 2018 wurden zwei Fotojournalisten von den Neonazis Gianluca B. und Nordulf H. im thüringischen Fretterode brutal angegriffen. Sie erlitten massive Verletzungen und es war nur dem Glück geschuldet, dass die Attacke nicht tödlich endete. Obwohl es sich um einen der schwersten Angriffe auf Journalisten in Deutschland in den vergangenen Jahren handelt, sind die Täter nach der Urteilsverkündung am 15. September auf freiem Fuß.

Die angegriffenen Journalisten, die investigativ in der rechten Szene tätig sind, beobachteten ein Treffen von Rechtsextremen im Haus des NPD-Mitglieds Thorsten Heise. Als sie entdeckt wurden, jagten Gianluca B. und Nordulf H. die Journalisten Stoßstange an Stoßstange über die Straßen der Region, bis sie in einem Graben landeten. Später schlug Gianluca B. einem der beiden Journalisten mit einem Traktorschraubenschlüssel den Schädel ein. Nordulf H., der Sohn von Heise, stach dem anderen Journalisten mit einem Messer ins Bein.

Der Mordanschlag auf die Journalisten sowie das absurd milde Urteil, das vom Landgericht Mühlhausen verkündet wurde, sind ein schwerer Schlag gegen die Pressefreiheit. Diese ist in Deutschland laut Reporter ohne Grenzen seit Jahren rückläufig, und Angriffe aus dem rechten Milieu nehmen zu.

Gleichzeitig verschärft sich durch den Fretterode-Prozess das von sämtlichen Parteien auf Bundes- und Landesebene in den letzten Jahren geschaffene Klima, in dem Rechtsextreme gegen jeden vorgehen können, der sich ihnen in den Weg stellt – ohne ernsthafte Konsequenzen fürchten zu müssen.

Das Urteil im Prozess gegen die Neonazis lässt tief in die rechten Abgründe der deutschen Justiz blicken: Mehr als vier Jahre nach dem Angriff und nach über 30 Prozesstagen kamen die Täter praktisch ungeschoren davon. Die Strafkammer hielt nur die gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung sowie die Sachbeschädigungen am Auto der Journalisten für bewiesen. Nordulf H. wurde nach dem Jugendstrafrecht zu 200 Arbeitsstunden verurteilt, Gianluca B. erhielt eine zwölfmonatige Bewährungsstrafe. Der Raub an der 1.500 Euro teuren Kameraausrüstung der Journalisten bleibt ungeklärt. Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig, sowohl Staatsanwaltschaft als auch die Nebenklage haben Revision angekündigt.

Der Prozess vor dem Gericht Mühlhausen glich einer perfiden Inszenierung, in der die Opfer zu Täter gemacht wurden. Die Vorsitzende Richterin Andrea Kortus glaubte Gianluca B. und Nordulf H., dass sie ihre Opfer nicht für Journalisten, sondern für Aktivisten der Antifa gehalten hätten. In einem Interview mit dem NDR verteidigte Axel Kulbarsch, Sprecher des Landgerichts Mühlhausen, die Täter im Sinne dieser Aussage: „Allein das Fotografieren und das Bedienen einer Kamera“ reiche noch nicht aus, um wissen zu können, „dass es sich bei dem Bediener der Kamera um einen Journalisten handelt.“

Mit anderen Worten: Laut Auffassung des Gerichts, ist es offenbar legitim, gegen linke Aktivisten vorzugehen und sie brutalst zu attackieren.

Über die rechtsextreme Gesinnung der beiden Angeklagten verlor Richterin Kortus kein Wort, sprach von „sogenannten Neonazis“ und „zwei ideologischen Lagern“, die „weit auseinander liegen.“ Damit rechtfertige sie auch das milde Urteil, da der Angriff von Gianluca B. und Nordulf H. nicht gegen Journalisten gerichtet gewesen sei.

Kortus machte aus ihrer eigenen Gesinnung keinen Hehl und artikulierte sich selbst im Jargon der Neonazi-Szene, wie Kulbarsch bestätigte: Die Angeklagten hätten es sattgehabt „fotografiert oder aufgenommen zu werden, und deswegen zunächst erstmal – und so hat es die Vorsitzende auch formuliert – die Zecken aus ihrem Dorf wegschicken wollen.“

Ihren Angriff spielten die Neonazis als Notwehr herunter, mit dem sie das Recht am Bild friedlich hätten durchsetzen wollen. Auch die Aussage von Nordulf H., die Reporter hätten zweimal versucht ihn zu überfahren, hielt das Gericht nicht für widerlegbar – möglicherweise habe das sogar erst zu dem Gewaltausbruch geführt. Das Vorgehen der Neonazis sei „dem Grunde nach nachvollziehbar und geständig“, so das Gericht.

Es sei außerdem zu einer „rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung“ gekommen, die zu mildernden Umständen für die Angeklagten geführt haben. Kulbarsch bestätigte dies gegenüber dem NDR: „Dass die Angeklagten so in der Öffentlichkeit standen und dass eine umfassende Berichterstattung über einen langen Zeitraum erfolgte, hat die dritte Strafkammer als strafmildernd im Urteil berücksichtigt.“ Die Verzögerung des Verfahrens liegt beim Gericht, da der ehemalige Vorsitzende Richter in den Ruhestand ging und die Neubesetzung lange dauerte – wofür die zwei angeklagten Neonazis nun belohnt wurden.

Die Begründung, mit der das Gericht das niedrige Strafmaß gegen die Rechtsextremisten rechtfertigt, ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer und ein klares Signal an die rechte Szene im gesamten Land: „Wir halten euch den Rücken frei.“

Die nachlässigen Ermittlungen der Polizei leisteten dem skandalösen Urteil umfangreichen Vorschub. Beweismittel konnten unbehelligt beiseitegeschafft werden, ein Messer im Fahrzeug der Täter erregte keine Aufmerksamkeit und die mutmaßlich geraubte Fotoausrüstung der Journalisten wurde nur einmalig im Halbdunkeln durch eine Streife gesucht.

Sven Adam, der einen der beiden Journalisten vor Gericht verteidigte, bezeichnete die Ermittlungen der Polizei als „System- und Strukturversagen“: „Die Anklage konnte hier nicht wegen, sondern trotz der Ermittlungsarbeit der örtlichen Polizei verhandelt werden.“

Auf eine Anzeige gegen die beiden Journalisten, die Thorsten Heise erhoben hatte, reagierten die thüringischen Behörden hingegen kompromisslos. Während das Haus von Gianluca B. nie und das der Heises nur halbherzig durchsucht wurde, bezeichnete die Staatsanwaltschaft Mühlhausen die Hausdurchsuchung bei einem der Journalisten zwei Tage vor der Urteilsverkündung als „verhältnismäßig“. Ein Sprecher erklärte, der besondere Schutz von Journalisten ende, wenn sie Beschuldigte seien und fügte hinzu: „Wir ermitteln ohne Ansehen der Person.“

Nach dem Skandalurteil erklärten Vertreter der rot-rot-grünen Landesregierung ihre Bestürzung. Die Grünen-Abgeordnete Madeleine Henfling sprach von einem „Skandal“ und einem wiederholten Versagen der Justiz, wodurch die rechte Gewalt verharmlost würde. Dorothea Marx von der SPD sagte gegenüber dem mdr: „Dass das Gericht Leben und Gesundheit vermeintlich politischer Gegner für weniger schützenswert hält als bei Journalisten und daraus einen Strafrabatt ableitet, ist menschlich und juristisch daneben.“

Übertroffen wird diese Heuchelei nur von der Linkspartei. Gegenüber dem NRD erklärte die Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss: „Auf so vielen Ebenen ist hier was kaputt, ist hier was schief, und das in einem Bundesland, dass immer wieder erklärt, auch durch entsprechende politische Vertreter*innen, dass hier alles getan wird, um gegen Rechts vorzugehen. Ich merk‘ es nicht.“

Dass König-Preuss „nichts merkt“ vom angeblichen „Vorgehen gegen Rechts“, liegt schlicht und einfach daran, dass dieses nicht stattfindet. Im Gegenteil: Gerade in Thüringen kooperiert die rot-rot-grüne Landesregierung unter Führung der Linkspartei in den Landtagsausschüssen mit den Rechtsextremen und verschafft ihnen zentrale Positionen. Anfang 2020 verhalf Ramelow dem AfD-Abgeordneten Michael Kaufmann sogar mit seiner eigenen Stimme zum Vizepräsidenten des thüringischen Landtags.

Die Hauptverantwortung für das politische und ideologische Klima, in dem Neonazis Journalisten unbehelligt zum Freiwild erklären können, trägt die herrschende Klasse. In den letzten Jahren sind alle etablierten Parteien – allen voran SPD, Linkspartei und Grüne – immer weiter nach rechts gerückt und haben zu großen Teilen das Programm der AfD übernommen: Flüchtlingshetze, die Wiederaufrüstung Deutschlands und die Durchseuchungspolitik in der Pandemie.

Rechtsextremisten fühlen sich vor diesem Hintergrund ermutigt, immer brutaler gegen jeden vorzugehen, der sich ihnen in den Weg stellt, und schrecken auch vor Mordanschlägen wie in Fretterode nicht zurück. Gestoppt werden kann die rechte Gewalt nur durch das unabhängige Eingreifen der Arbeiterklasse, die Rechtsextremismus, Militarismus und Krieg vehement ablehnen und diesen Übeln ein sozialistisches Programm entgegensetzen muss.

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