Am Sonntag, eine Woche nach Emmanuel Macrons Sieg in der zweiten und letzten Runde der Präsidentschaftswahlen, fanden in ganz Frankreich Veranstaltungen zum 1. Mai statt. Wie schon 2017 hatten Millionen den „Präsidenten der Reichen“ (Macron) nur gewählt, um den Sieg der neofaschistischen Kandidatin Marine Le Pen zu verhindern. Nun setzte er im großen Stil Bereitschaftspolizei ein, die mit Gewalt gegen Demonstrierende vorgingen.
Damit macht Macron unmissverständlich klar, dass seine Versprechen am Wahlabend bloß Betrug waren. Er hatte versprochen, aufgrund einer angeblich „neuen Methode“ den Menschen zuzuhören. Allerdings hat Macron im Rahmen der skrupellosen Nato-Eskalation gegen Russland Milliarden Euro ins Militär gesteckt. Er plant Rentenkürzungen, Arbeitspflicht für Sozialhilfeempfänger, Kürzungen der Arbeitslosenversicherung und eine Erhöhung der Studiengebühren. Gleichzeitig hebt er alle Gesundheitsschutzmaßnahmen gegen Covid-19 auf. Wie immer mehr Arbeiter erkennen, bahnt sich zwischen Macron und der Arbeiterklasse gerade eine erbitterte Auseinandersetzung an.
Im ganzen Land beteiligten sich Tausende an den Maikundgebungen und Demonstrationen, darunter 16.000 in Marseille und Tausende in Lyon, Lille, Straßburg, Toulouse, Bordeaux, Nantes und Rennes. Es kam zu zahlreichen gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Teilnehmern und Sicherheitskräften, vor allem in Nantes und Rennes, wo die Polizei mehrfach mit Blendgranaten auf Demonstranten schoss. Insgesamt gingen Hunderttausende auf die Straße. Laut Innenministerium nahmen an den Kundgebungen 106.000 Menschen teil.
In Paris gingen Zehntausende auf die Straße. Viele trugen Plakate, auf denen Macron kritisiert und vor der Gefahr des Faschismus gewarnt wurde. Die Polizei ging mehrfach gegen Demonstrierende vor und kesselte sie schließlich auf der Place de la Nation ein, von wo aus sie nur mit der U-Bahn wegfahren durften. Laut Innenminister Gérald Darmanin, einem Sympathisanten der rechtsextremen Gruppierung Action Francaise, hat seine Polizei 45 Menschen verhaftet. Er unterstellte den Demonstrierenden „inakzeptable Gewalt.“
In Wirklichkeit war es wie üblich die Polizei, welche die Demonstrationen brutal angriff. Ein weit verbreiteter Tweet zeigt, wie die Bereitschaftspolizei auf eine wehrlose junge Frau losgeht und ihr eine Schädelfraktur zufügt. Eine andere Frau neben ihr schreit mehrfach: „Sie tut nichts!“ um die Polizisten am weiteren Zuschlagen zu hindern.
Bei der Pariser Kundgebung diskutierten Reporter der WSWS mit Arbeitern über den Aufruf der Parti de l’égalité socialiste (PES, französische IKVI-Sektion) zu einem aktiven Boykott der Stichwahl zwischen Macron und Le Pen und zur Mobilisierung der Arbeiterklasse in einer unabhängigen politischen Bewegung gegen Macron und Le Pen.
Viele Teilnehmer der Demonstration in Paris hatten im ersten Wahlgang für Jean-Luc Mélenchon von der Partei La France Insoumise (LFI, Unbeugsames Frankreich) gestimmt, weil sie hofften, dadurch eine linkere Politik durchzusetzen. Mélenchon hatte sich zwar bei den Jungwählern in den Arbeitervierteln der Großstädte durchgesetzt. Aber er rief seine Wähler nicht zu einer Mobilisierung am 1. Mai auf. Obwohl er 22 Prozent bzw. fast acht Millionen Stimmen errungen hatte, strebt er jetzt ein Wahlbündnis mit der diskreditierten, wirtschaftsfreundlichen Sozialistischen Partei (Parti Socialiste, PS) an und betont seine Bereitschaft, unter Macron das Amt des Premierministers zu übernehmen.
Die WSWS-Reporter sprachen mit Georges, der für Mélenchon gestimmt hatte und trotz einiger Zweifel noch darauf hoffte, dieser werde progressive Veränderungen bewirken. Georges erklärte: „Er könnte uns vor eine Mauer laufen lassen, da stimme ich euch zu. Aber der Unterschied zwischen ihm und Macron und den anderen Parteien ist groß.“
Als die WSWS-Reporter darauf hinwiesen, dass Mélenchon ein ehemaliger Senator und PS-Minister ist und enge Beziehungen zur Gewerkschaftsbürokratie unterhält, antwortete Georges, Mélenchon versuche seiner Meinung nach tatsächlich, die soziale Wut gegen Macron zu kanalisieren, doch die Arbeiter könnten dieses Hindernis hoffentlich überwinden: „Selbst er kann besiegt werden, weil die Wut so groß ist. Er versucht, sie in die üblichen Kanäle zu lenken, aber das wird nicht notwendigerweise klappen. Es gibt andere Möglichkeiten, eine andere, tiefere Veränderung ist notwendig. Jedenfalls ist die Befreiung der Arbeiter die Sache der Arbeiter selbst.“
Unsre Reporter sprachen auch mit Romain, der erklärte: „Ich stimme nicht allen Ideen Mélenchons zu, aber ich habe gedacht, das wäre eine Gelegenheit für die Linke, es bis in den zweiten Wahlgang zu schaffen. Im zweiten Wahlgang habe ich Macron gewählt. Ich bin mir nicht sicher, ich könnte es bereuen. Ich war jedenfalls nicht zufrieden … Er [Mélenchon] steht politisch links von der PS und der KPF, die meiner Meinung nach nicht die kommunistischen Ideen repräsentieren, die sie verteidigen sollten.“
Romain erklärte, er stimme der Forderung der PES nach einem Boykott generell zu, und wies auf die Hindernisse für eine revolutionäre Bewegung der französischen Arbeiterklasse hin. Er wies darauf hin, dass die von den Medien als „links“ dargestellten Parteien – LFI, die stalinistische KPF oder die pablistische Neue Antikapitalistische Partei (NPA) – sich geweigert hatten, die „Gelbwesten“ gegen soziale Ungleichheit zu unterstützen. Diese hatten 2018 gegen Macron protestiert und genossen in der Bevölkerung großen Rückhalt.
Romain erklärte: „Die Medien haben von Anfang an versucht, die Gelbwesten zu diskreditieren. Sogar die linken Parteien haben sie aus wahltaktischen Gründen nicht begeistert unterstützt, sie haben nicht geglaubt, dass die Gelbwesten so populär werden würden. Sie hätten sich auf die Seite der sozialen Bewegung, der Arbeiter und derjenigen stellen müssen, die es mit ihrem Geld nur mit Mühe bis zum Ende des Monats schaffen.“
Die WSWS sprach auch mit Christophe, einem Briefträger und Mitglied der „Gelbwesten“, der gerade aus der CGT ausgetreten ist, der Gewerkschaft, die den Stalinisten nahesteht. Er erklärte, er habe Mélenchon gewählt, aber: „Macron und Le Pen können beide zur Hölle fahren“.
Christophe fügte hinzu, der Nato-Kriegskurs gegen Russland beunruhige ihn, er glaube den Behauptungen der französischen Regierung und ihrer Nato-Verbündeten nicht, sie würden die Demokratie und Selbstbestimmung der Ukraine gegen Russland verteidigen. Er erklärte, die Nato-Mächte seien „die größten Piraten der Welt. Wenn sie etwas machen, geht es ihnen nur um Geld und Macht.“
Während der Pariser Kundgebung traf sich Mélenchon zu einem symbolischen Handschlag mit PS-Parteisekretär Olivier Faure, denn LFI und PS verhandeln über eine gemeinsame Position für die Parlamentswahlen im Juni. Mélenchon sagte: „Wir sind nur noch wenige Millimeter von einem Deal zwischen uns allen entfernt“, und betonte, LFI habe allen Verhandlungspartnern, einschließlich der PS, der KPF und den Grünen, eine „Parlamentsfraktion in der Nationalversammlung“ zugesagt.
Mélenchon arbeitet verzweifelt daran, diese diskreditierten kapitalistischen Parteien am Leben zu erhalten. Die Grünen und die KPF erhielten bei den Präsidentschaftswahlen weniger als fünf Prozent, die PS weniger als zwei Prozent, und in den Parlamentswahlen droht ihnen allen die völlige Auslöschung. Als Reaktion darauf versucht Mélenchon nicht etwa, eine Bewegung der Arbeiterklasse gegen Macron aufzubauen, sondern diesen Parteien genug Sitze in der Nationalversammlung zu verschaffen, damit sie weiterhin Subventionen erhalten, die für die Finanzierung ihrer Tätigkeit von entscheidender Bedeutung sind.
Der Aufruf der PES zu einem aktiven Boykott der Wahl, der sowohl Macron als auch Le Pen unversöhnlich ablehnt, zielt darauf ab, die Arbeiter auf die kommenden Kämpfe gegen diese Politiker vorzubereiten. Macron wird ein extrem rechtes Programm durchsetzen, was die Position der PES bestätigt. Der Widerstand der Arbeiterklasse gegen Macrons Kriegs- und Durchseuchungspolitik und die drakonischen Sozialkürzungen darf nicht an die Wahlmanöver Mélenchons gebunden und in das Fahrwasser der PS gelenkt werden. Letztere hatte in ihrer Amtszeit nahezu den gleichen Kurs verfolgt wie später Macron.
Für Arbeiter und Jugendliche ist die entscheidende Aufgabe, unabhängig von den national basierten Gewerkschaftsbürokratien Aktionskomitees aufzubauen, den Widerstand gegen Macrons Politik vorzubereiten und ihn mit der wachsenden Arbeiterbewegung gegen Krieg und Austerität auf der ganzen Welt zu verbinden. Als trotzkistische Alternative zu den pseudolinken Parteien des begüterten Kleinbürgertums, wie sie die LFI darstellt, muss die PES aufgebaut werden.