Türkei: Spontane Streiks gegen Ausverkauf der Metallgewerkschaften

In der Türkei kommt es zu spontanen Proteststreiks von Metallarbeitern, nachdem die Tarifverhandlungen zwischen dem türkischen Metall-Arbeitgeberverband (MESS) und drei Gewerkschaften am Mittwoch um Mitternacht mit einem Ausverkauf endeten. Die Gewerkschaften, die rund 150.000 Beschäftigte vertreten, haben mit mehreren großen türkischen und transnationalen Konzernen verhandelt: Fiat (Tofaş), Renault, Ford, Mercedes und MAN in der Automobilbranche sowie Arçelik, Bosch und Siemens in der Elektronik- und Zuliefererbranche.

Angesichts der großen öffentlichen Wut über die steigende Inflation und die tödliche Pandemiepolitik befürchten Unternehmen und Gewerkschaften eine mögliche Explosion von Streiks, die sich auch über ein wahrscheinliches Verbot der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan hinwegsetzen würden. Birleşik Metal-İş, eine dem Revolutionären Gewerkschaftsbund (DİSK) angeschlossene Gewerkschaft, hatte zuvor für den 14. Januar zu einem Streik aufgerufen. Türk Metal, eine dem Verband Türk-İş angeschlossene Gewerkschaft, hatte ebenfalls Streiks angekündigt, jedoch kein Datum bekanntgegeben.

Türk Metal hatte für die ersten sechs Monate des Jahres eine Erhöhung von 29,6 Prozent gefordert, Birleşik Metal-İş von 30,9 Prozent und Özçelik-İş von 31 Prozent. Für die übrigen sechs Monate forderten sie eine Erhöhung in Höhe der Inflationsrate plus 3 oder 4 Prozent. Laut ihrer gemeinsamen Erklärung haben die Gewerkschaften jetzt eine Erhöhung von 27,4 Prozent für das erste Halbjahr und eine Erhöhung in Höhe der Inflationsrate für das zweite, dritte und vierte Halbjahr akzeptiert.

Dies liegt deutlich unter der jährlichen Inflationsrate in der Türkei, die im Dezember 36 Prozent erreicht hat. Die unabhängige Inflationsforschungsgruppe (ENAgroup) gab bekannt, dass die reale jährliche Inflation mittlerweile sogar 82 Prozent erreicht habe. Deshalb hat der Tarifabschluss bei den Metall- und Automobilarbeitern Wut und spontane Kampfaufrufe ausgelöst.

Am Mittwoch traten hunderte Metallarbeiter in den Çimsataş-Werken in Mersin, einer Stadt an der türkischen Mittelmeerküste, in einen spontanen Streik, der sich gegen den Ausverkauf richtet. Die Beschäftigten fordern von Birleşik Metal-İş Änderungen am Vertrag, darunter eine zusätzliche Lohnerhöhung von 35 Prozent in den ersten sechs Monaten.

Der Vertrag bedeutet nicht nur eine weitere Verschlechterung des Lebensstandards, da die Lebenshaltungskosten in die Höhe schnellen, sondern er enthält auch keinerlei Maßregeln zum Schutz von Gesundheit und Leben der Arbeiter inmitten der Pandemie. Die Türkei erlebt die bisher größte Pandemiewelle, verursacht durch die ansteckende Omikron-Variante. In den letzten zwei Tagen wurden je etwa 75.000 Neuinfektionen registriert, womit sich die Zahl der aktiven Fälle auf 675.000 erhöht hat. Als wichtigste Covid-19-Hotspots gelten Fabriken und Schulen.

Dennoch bedankte sich Pervil Kavlak, Vorsitzender der größten Metaller-Gewerkschaft Türk Metal und Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbands Türk-İş, ausdrücklich bei dem Unternehmerverband MESS. Er sagte: „In Anbetracht der Gegebenheiten in unserem Land stellt dieser Vertrag einen echten Erfolg dar. Einmal mehr haben wir gemeinsam Geschichte geschrieben.“ Dabei blieb der Vertrag sogar noch hinter den Forderungen von Türk Metal zurück. Auch in einer Erklärung von Birleşik Metal-İş wird behauptet, man habe „neue Errungenschaften und wichtige Vorteile“ erzielt.

Die World Socialist Web Site fordert Arbeiter auf, gegen diese Ausverkaufsverträge den Kampf aufzunehmen, wie es die mutige Initiative der Çimsataş-Arbeiter gezeigt hat. In den Fabriken müssen Aktionskomitees gebildet werden, die von den korporatistischen Gewerkschaften unabhängig sind. Diese Komitees müssen die Forderungen aufstellen, die von den Arbeitern selbst erhoben werden. Dazu gehört die sofortige Schließung aller nicht lebensnotwendigen Arbeitsplätze bei vollem Lohnausgleich für die betroffenen Arbeiter, und eine ernsthafte und systematische Bekämpfung der Pandemie.

Auf Twitter verurteilten hunderte Arbeiter Kavlaks Erklärung und seine Behauptung: „Wir haben wieder Geschichte geschrieben.“ Ein Arbeiter schrieb: „Du hast der Geschichte ein weiteres SCHWARZES Kapitel hinzugefügt, herzlichen Glückwunsch!“ Ein anderer schrieb: „Ihr spielt einmal mehr das Hütchenspiel. Und dann sagt ihr, ihr hättet Geschichte geschrieben. Schon der [von der Gewerkschaft vorgeschlagene] Vertragsentwurf war von Anfang an eine Schweinerei. Schämt euch.“

Die Kommentare spiegeln das wachsende Bewusstsein und die Wut der Arbeiter über die Rolle der Gewerkschaften als Betriebspolizei wider: „Geschichte? Soll das ein Witz sein?“ „Arbeiterfeindliche Gewerkschaft, aus meinem Beitrag sollt ihr nicht länger Nutzen ziehen.“ „Die reale Inflation beträgt schon 100 Prozent. Der Mindestlohn wurde um 50 Prozent erhöht. Die Regierung spricht von einer Inflation von 36 Prozent. Im Tarifvertrag haben wir 27,44 Prozent erhalten. Wenn das kein Ausverkauf ist, was ist es dann? Umsonst gibt es nichts, Leute.“ „Ja, ihr habt Geschichte geschrieben, und die Geschichte wird euern Hohn und Spott nicht vergessen. Jeder Cent an monatlichen Beiträgen sollte haram [verboten] sein.“

Ähnlich fielen die Reaktionen auf die Gewerkschaft Birleşik Metal-İş aus, die von pseudolinken Organisationen verteidigt wird: „[Der Gewerkschaftsvorsitzende] Adnan Serdaroğlu selbst hat gesagt, er werde ohne Zustimmung der Arbeiter nicht unterschreiben, und dann verrät er die Arbeiter, deren Beiträge er kassiert. Schande über euch, wie wollt ihr diesen Arbeitern gegenübertreten?“ „Das heißt, drei Gewerkschaften haben fusioniert und die Arbeiter ausverkauft.“ „Ihr habt die Arbeiter sehr gut verkauft, herzlichen Glückwunsch. Außerdem schließt ihr euch zu einer einzigen Gewerkschaft zusammen; ihr braucht euch nicht mehr auseinanderzuhalten, denn ihr seid alle gleich.“

Ein Arbeiter reagierte mit den Worten: „So eine Geschichte kann‘s gar nicht geben! ARBEITGEBER-GEWERKSCHAFT! [PATRON SENDİKASI]“ Er kündigte den Kampf an: „Ein Metall-Sturm zieht auf.“

„Metall-Sturm“ bezieht sich auf die spontane Streikwelle im Jahr 2015, als sich die Wut der Metallarbeiter gegen die Gewerkschaften entlud. Mehr als 20.000 Beschäftigte vor allem in den Werken von Renault, Tofaş (Fiat) und Ford rebellierten damals gegen Türk Metal und bildeten ihre eigenen Arbeiterkomitees. Birleşik Metal-İş verhinderte jedoch einen Solidaritätsstreik breiterer Arbeiterschichten.

Mittlerweile rühmen sich die Gewerkschaften offen, die Unternehmensgewinne auf Kosten der Arbeiter verteidigt zu haben. Hierzu sagte der Türk Metal-Vorsitzende Kavlak: „Wir haben auf Kosten unseres Lebens gearbeitet. Wir haben uns zu Tode gearbeitet“, und er brüstete sich, dass die Metallindustrie während der Pandemie zum Exportführer geworden sei. Auch Birleşik Metal-İş prahlte: „Selbst auf dem Höhepunkt der Pandemie hielten die Arbeiter die Räder am Laufen und arbeiteten auf Kosten ihrer Gesundheit. Die daraus resultierenden hohen Gewinne sind auf diese aufopferungsvolle Arbeit der Arbeiter zurückzuführen.“

Diese Sätze sind das offene Eingeständnis, dass die Arbeiter während der Pandemie für den kapitalistischen Profit in den Tod geschickt wurden. Der Gewerkschaftsverband DİSK hatte selbst versprochen, sich gestützt auf die Verfassung zu weigern, unter gefährlichen Bedingungen weiterzuarbeiten, sollte die Regierung nicht innerhalb von 48 Stunden handeln. Obwohl tausende Arbeiter und ihre Familienangehörigen an Covid-19 gestorben sind, hat DİSK jedoch keinen Streik organisiert. Stattdessen hat der Verband zur Aufrechterhaltung der tödlichen Arbeitsbedingungen beigetragen.

Dank dieser Gewerkschaftsführer konnten die an der Istanbuler Börse gehandelten Eisen- und Stahlkonzerne ihre Gewinne im ersten Quartal 2021 um 1.158 Prozent steigern. Bei den Autoherstellern waren es im gleichen Zeitraum 173 Prozent. Ford Otosan erzielte im dritten Quartal 2021 einen Gewinn von 1,89 Milliarden Türkische Lira.

Damit dieser Profitfluss in einer Zeit, in der Tausende sterben und Millionen sich infizieren, nicht abreißt, versuchen die Gewerkschaften verzweifelt, in der strategischen Metallindustrie alle Streiks zu unterbinden. Dennoch ist es bereits in mehreren Betrieben zu spontanen Streiks gekommen. Sie sind Teil des internationalen Aufschwungs des Klassenkampfs. Auch unter Lehrkräften, Studenten und Schülern wächst die Kampfbereitschaft gegen den kriminellen Umgang der Regierungen mit der Pandemie. Im vergangenen Dezember haben die Beschäftigten des Gesundheitswesens in der ganzen Türkei gestreikt.

Allerdings erhalten die Gewerkschaften bei ihrer Kollaboration mit den Unternehmern entscheidende Unterstützung von pseudolinken Organisationen. Eine solche Organisation ist die pablitische Revolutionäre Arbeiterpartei (DİP), die vor allem versucht, Arbeiter unter der Kontrolle der Gewerkschaften, insbesondere von DİSK und Birleşik Metal-İş, zu halten.

Die Zeitung der DİP, Gerçek, versuchte von Beginn der Tarifverhandlungen an, die Arbeiter der Führung und den Forderungen der Gewerkschaften unterzuordnen. Als die Gewerkschaften im August ihre Tarifforderungen bekannt gegeben hatten, verteidigte Gerçek die unzureichenden Lohnforderungen der Gewerkschaften, obwohl die Beschäftigten sie von Anfang an abgelehnt hatten: „Tarifforderungen können und werden immer kritisiert, aber jetzt sind sie verkündet worden. Jetzt ist es notwendig, die Forderungen zu übernehmen und den Kampf vorzubereiten, um den MESS in die Knie zu zwingen.“

Als immer mehr Arbeiter forderten, dass die Tarifforderungen erweitert werden sollten, änderte die DİP ihre Position und riet Arbeitern Anfang Dezember, Birleşik Metal-İş zu unterstützen: „Es ist offensichtlich, dass die gelbe Gewerkschaft Türk Metal ihren Entwurf nicht aktualisieren wird, wenn der Druck nicht noch viel größer wird. Hier liegt die Verantwortung auf den Schultern der Gewerkschaft Birleşik Metal-İş, die der DİSK angeschlossen ist.“

Nach dem Ausverkauf, den der Abschluss vom 12. Januar brachte, kritisierte die DİP Türk Metal und stellte sich erneut hinter Birlesik Metal-İş, obwohl diese denselben Vertrag unterzeichnet hatte: „Wir müssen darauf hinweisen, dass die Birleşik Metal recht hatte, einen Streik für den 14. Januar zu fordern, und dass sie vor allem in den Fabriken in Gebze Protestaktionen, insbesondere durch Arbeitsniederlegungen, durchgeführt hat.“

Arbeiter müssen die korporatistischen Gewerkschaften und ihre erzwungenen Verträge ablehnen, ebenso wie die pseudolinken Organisationen, die versuchen, sie an die Gewerkschaften zu ketten. Die schwelende Wut in den Fabriken und an den Arbeitsplätzen muss in eine bewusste Massenbewegung umgewandelt werden. Nur so können die Lebensbedingungen insgesamt verbessert werden und vor allem die notwendigen wissenschaftlichen Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit ergriffen werden. Dazu muss die nicht lebensnotwendige Produktion gestoppt werden, bis die Pandemie beendet ist.

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