Fünftausend Autoarbeiter haben in einer Fabrik des französischen Autoherstellers Renault in Bursat im Westen der Türkei die Arbeit niedergelegt. Der Streik, bei dem es um Löhne und Sozialleistungen geht, brach Dienstagnacht als Rebellion gegen die Gewerkschaft der türkischen Metallarbeiter (Türk-Metal) aus.
Die inoffizielle Aktion erhält Unterstützung von Arbeitern in den nahegelegenen Fabriken unter Bedingungen von verbreiteter sozialer Unzufriedenheit und politischen Spannungen im Vorfeld der Parlamentswahlen am 7. Juni.
Die Beschäftigten bei Renault weigerten sich, die Fabrik nach ihrer Schicht zu verlassen. Zusammen mit den Arbeitern, die zum Schichtwechsel kamen, begannen sie auf dem Gelände der Fabrik zu demonstrieren. Sie skandierten sowohl gegen das Unternehmen als auch gegen die Gewerkschaft, aus der sie austraten. Die Beschäftigten sind wütend darüber, dass die Gewerkschaft eine 60-prozentige Lohnerhöhung für ein Bosch Autowerk in der Nähe ausgehandelt, aber gleichzeitig ihre eigene Lohnforderungen fallen ließ.
Die Gewerkschaftsfunktionäre haben behauptet, dass die Aktion ein Protest und kein offizieller Streik gewesen sei.
Das Renault-Werk ist mit 400 gebauten Autos pro Schicht eines der größten Autowerke in der Türkei. Das französische Unternehmen operiert seit 1969 in der Türkei. Es ist ins türkische Militärestablishment integriert führt seine Geschäfte gemeinsam mit Oyak durch, dem Rentenfond der Armee. Renault kontrolliert mit einer Jahresproduktion von 318.000 Autos 43 Prozent des türkischen Automarktes.
Am Freitag breitete sich der Streik nach Tofaş aus, wo 5.000 Autoarbeiter zur Unterstützung der Forderung der Beschäftigten bei Renault, die Produktion stoppten. Tofaş ist ein Joint Venture des italienischen Fiat-Konzerns und der türkischen Koç Holding. Die Arbeiter bauen dort das Fiat-Modell Linea, den Van Doblo und andere Modelle für Peugeot, Citroen, Opel und Vauxhall.
Tausende Arbeiter in anderen Fabriken der türkischen Provinz Bursa haben mit Solidaritätsaktionen für die Arbeiter bei Renault und Tofaş begonnen, während sich andere vor dem Werk versammelten, um ihre Unterstützung zu bekunden.
Der Streik der Renault-Arbeiter wurde von der Weigerung des Unternehmens, die Löhne zu erhöhen, provoziert. Die Beschäftigten hatten die Neuverhandlung eines Deals aus dem letzten Jahr gefordert, die sich an den Vereinbarungen, die jetzt bei Bosch gelten, orientieren sollte.
Sie hatten außerdem das Recht, ihre eigenen Gewerkschaftsvertreter auf demokratischer Grundlage zu wählen, und eine Garantie gefordert, dass sie bei einem Austritt aus Türk-Metal nicht gefeurt werden dürfen. Arbeiter haben auch gefordert, dass die Gewerkschaft vom Fabrikgelände verschwindet.
Die Metallarbeiter großer Fabriken, einschließlich von Renault und Tofaş, beschwerten sich seit Monaten über die im letzten Jahr unterschriebene Vereinbarung für drei Jahre zwischen Türk-Metal und des Metall-Arbeitgeberverbands der Türkei (MESS) und forderten eine Neuregelung.
Die Vereinbarung war ein Ausverkauf der Forderungen der Beschäftigten auf der ganzen Linie. Türk-Metal-Chef Pevrul Kavlak und der MESS-Vorsitzende Mehmet Betil erklärten, der Tarifvertrag sei ein Ausdruck „gegenseitiger Zuneigung und guter Absichten“.
Als die Gewerkschaft eine dreijährige Vereinbarung mit Bosch unterschrieb, die für die Arbeiter der Fabrik für Bremssysteme eine Verbesserung der Konditionen bedeutete, traten die Autoarbeiter massenhaft aus Türk-Metal aus. Die Gewerkschaftsbürokraten reagierten, indem sie faschistische Banden auf die Arbeiter hetzten.
Die AKP-Regierung (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan reagiert mit wachsender Strenge auf Streiks und Proteste.
Zu Beginn des Jahres hatte bereits die Birleşik Metal-İş (Vereinigte Metallarbeiter), eine kleine Metallarbeiter-Gewerkschaft, zu einem Streik für höhere Lohnzuwächse bei Beschäftigten mit Niedriglöhnen aufgerufen. Unter Anwendung eines Gesetzes, das 2012 verabschiedet wurde, reagierte die Regierung mit der Anordnung einer Verschiebung des Streik um 60 Tage sowie einer Zwangsschlichtung und behauptete, dass der Streik die nationale Sicherheit gefährde. Die Gewerkschaft hat diese Streikbrecher-Aktion dann schlicht und einfach akzeptiert.
Die Regierung hat wiederholt Demonstrationen niedergeschlagen, insbesondere die auf dem Taksim-Platz in Istanbul. Vor zwei Monaten hat sie neue autoritäre Maßnahmen zur Unterdrückung abweichender Meinungen durchgesetzt. Diese sind mit einer gewaltigen Ausweitung der Polizeibefugnisse verbunden und erlauben der Regierung, Gewalt gegen Demonstranten, einschließlich der Verwendung scharfer Munition, einzusetzen und Menschen wahllos einzusperren. Ein weiteres umstrittenes Gesetz erlaubt den Ministern den Zugriff auf Internetseiten zu sperren, die angeblich eine Bedrohung von Leben, der öffentlichen Ordnung oder der Rechte und Freiheiten von Individuen darstellten.
Schon Wochen vor dem Maifeiertag hat die Regierung alle Demonstrationen verboten und mobilisierte bereits einige Tage im Voraus 10.000 Polizisten und Fahrzeuge und sperrte den Großteil des Personennahverkehrs in Istanbul, um größere Menschenmengen von der Teilnahme an den Demonstrationen abzuhalten. Trotz allem versammelten sich Demonstranten auf dem Taksim-Platz. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer ein, um die Demonstranten auseinander zu treiben, und verhaftete 364 Personen. Mindestens 18 Menschen wurden verletzt.
Der Ausbruch des Streiks in Bursa findet inmitten einer sich vertiefenden ökonomischen Krise der türkischen Arbeiter statt. Laut der offiziellen Statistik leben 22,4 Prozent der türkischen Haushalte unterhalb der Armutsgrenze, was bedeutet, dass die Armut während der 13-jährigen Herrschaft der AKP gestiegen ist. Tatsächlich haben sich die hochgelobte Politik der AKP, Nahrungsmittel und Kohle zu verteilen, und verschiedene Regelungen zur Stützung der Sozialleistungen als nicht viel mehr als eine massive Subventionierung der großen Firmenchefs in der Türkei entpuppt.
Der größte Gewerkschaftsdachverband der Türkei, TURK-IS, der andere Kriterien zur Berechnung der Armutsgrenze anwendet, schätzt, dass fast die Hälfte der türkischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt. Die Studie zeigt, dass die Armutsrate in größeren Familien höher liegt. In Haushalten mit zwei Eltern und drei oder mehr Kindern stieg die Armutsrate von 41,9 Prozent im Jahr 2013 auf 49,6 Prozent 2014.
Die Türkei steigt außerdem die Inflationsrate. Die Teuerung wuchs im April trotz fallender Ölpreise auf 7,9 Prozent. Im März lag die Rate noch bei 7,6 Prozent. Die Preise für Nahrungsmittel und Getränke sind seit dem vergangenen Jahr um 14 Prozent gestiegen, was gerade die ärmste Bevölkerung besonders hart trifft.
Die Arbeitslosigkeit stieg in den ersten drei Monaten des Jahres auf 11,2 Prozent. Während der gleichen Periode im letzten Jahr waren es noch 10,2 Prozent. 20 Prozent der jungen Menschen sind arbeitslos; im Vorjahr waren es noch 17 Prozent. Die wachsende Arbeitslosigkeit fällt mit einem verlangsamten Wachstum der türkischen Wirtschaft zusammen. Die Werte fielen von 4,2 Prozent im Jahr 2013 auf 2,9 Prozent 2014.
Gleichzeitig ist die türkische Lira im Vergleich zum US-Dollar gesunken, was den Wert der türkischen Exporte verringert und die Kosten für Importe vergrößert. Da etwa 30 Prozent der Bankkredite in ausländischer Währung angegeben sind, bedeutet dies einen entsprechenden Anstieg der Kosten für deren Bedienung und Rückzahlung.
Vor den kommenden Wahlen versucht Erdoğan, eine größere Mehrheit für seine AKP-Regierung aufzubauen, um Verfassungsänderungen durchzusetzen, die eine noch deutlichere diktatorische Form der Herrschaft etablieren würden. Dies geschieht inmitten einer sich vertiefenden politischen und wirtschaftlichen Krise und der Kriegsgefahr in den Nachbarländern Irak und Syrien.
Umfragen sagen jedoch voraus, dass die AKP 290 bis 300 Sitze gewinnen wird, was nicht einmal annähernd der für Verfassungsänderungen benötigten Mehrheit entsprechen würde.