Die politischen Fragen im landesweiten Streik der türkischen Ärzte und Pfleger

Der eintägige landesweite Warnstreik, den der Türkische Ärztebund (TTB), die wichtigste Ärztevereinigung der Türkei, und mehrere weitere Gewerkschaften des Gesundheitswesens am Mittwoch organisiert haben, wirft entscheidende Fragen für die türkische und internationale Arbeiterklasse auf.

Die Sosyalist Eşitlik Grubu (Sozialistische Gleichheitsgruppe, SEG) unterstützt diese Streikbewegung und ruft alle Arbeiter und Jugendlichen dazu auf, die Lehren zu ziehen, die für die Entwicklung einer unabhängigen politischen und sozialen Bewegung der internationalen Arbeiterklasse notwendig sind.

Der Streik wurde organisiert, nachdem sich die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan geweigert hatte, die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen im Gesundheitswesen durch eine gesetzliche Regelung zu verbessern. Die Teilnehmerzahlen waren hoch und der Streik wurde zusätzlich durch einen Bildungsstreik der Medizinstudenten unterstützt.

Während des Streiks wurden nur Notfall-, Dialyse-, Krebs- und Intensivpflegepatienten, schwangere Frauen, pädiatrische Notfälle und Covid-19-Patienten versorgt. Protestdemonstrationen und Kundgebungen fanden u.a. in Istanbul, Ankara, Izmir, Bursa und Diyarbakir statt. Gegenüber der Presse erklärten Pflegebeschäftigte: „Unsere Geduld mit einer Gesundheitspolitik, die statt Wissenschaft, Leben und Arbeitern nur die Unternehmen begünstigt, ist am Ende.“

Die Pflegerinnen und Pfleger, die an vorderster Front gegen Covid-19 kämpfen, fordern angesichts des beispiellosen Anstiegs der Lebenshaltungskosten und der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen höhere Löhne, die Beseitigung des Personalmangels und Verbesserungen ihrer sozialen Rechte. Sie protestieren gegen die Privatisierung des Gesundheitssystems im Interesse des Profits. Sie erklären außerdem, sie würden ihre Aktionen und Proteste fortsetzen, bis ihre Forderungen erfüllt sind.

Dieser landesweite Streik und die kurzen Arbeitsniederlegungen in Krankenhäusern letzte Woche sind Teil eines internationalen Anwachsens des Klassenkampfes inmitten der eskalierenden globalen Krise des Kapitalismus und der Corona-Pandemie.

Weltweit beginnt die Arbeiterklasse, Widerstand zu leisten gegen die jahrzehntelangen sozialen Angriffe der herrschenden Klasse, die von den Gewerkschaften unterstützt und durch die Pandemie verschlimmert wurden. Eine Gegenoffensive der Arbeiter bahnt sich an. Der Kampf der Beschäftigten im Gesundheitswesen ist Ausdruck des wachsenden Widerstandes aller Teile der Arbeiterklasse und inspiriert dutzende Millionen Arbeiter auf der ganzen Welt, die mit ähnlichen Bedingungen konfrontiert sind.

Die Streikbewegung entwickelt sich vor dem Hintergrund der unkontrollierten Pandemie und der Ausbreitung der Omikron-Variante, gegen welche die Regierung keinerlei gesundheitspolitische Maßnahmen ergreift. Der Blutzoll an Menschenleben, den die Aufrechterhaltung der nicht lebensnotwendigen Wirtschaft und die Durchseuchungspolitik im Interesse der Profite der herrschenden Klasse verlangt hat, beläuft sich in der Türkei offiziell auf 80.000 Todesopfer, darunter mindestens 500 Pfleger. Die tatsächliche Zahl der Toten wird auf über 200.000 geschätzt. Fast zehn Millionen Menschen haben sich mit dem Virus infiziert.

Zudem dauern die Masseninfektionen und das Massensterben weiter an, und die Regierung versucht, dies für normal zu erklären. Jeden Tag werden etwa 20.000 Covid-19-Fälle entdeckt, 180 Menschen sterben. Diese mörderische Politik stößt weder bei der bürgerlichen Opposition noch bei den Gewerkschaften auf Widerstand.

Die zunehmende Ausbeutung der Arbeiterklasse hat die gleiche Ursache wie die Tatsache, dass die notwendigen, wissenschaftlich begründeten Maßnahmen gegen die Pandemie nicht ergriffen worden sind: Es ist das ungehinderte Streben der Kapitalistenklasse nach der Anhäufung von privatem Vermögen. Die Milliardäre konnten ihr Gesamtvermögen um 3,6 Billionen Dollar steigern, während Millionen Menschen in der globalen Pandemie starben. Das verdeutlicht den kriminellen Charakter des kapitalistischen Systems.

Die Wut über dieses kolossale soziale Verbrechen sowie den beispiellosen Anstieg der Lebenshaltungskosten radikalisiert Millionen von Arbeitern und Jugendlichen und treibt sie in den Kampf.

Die Inflationsrate in der Türkei lag im November im Vergleich zum Vorjahr offiziell bei 21,31 Prozent, doch laut der unabhängigen Inflation Research Group (ENAgroup) liegt die reale jährliche Inflation in Wirklichkeit bei 58,65 Prozent. Die türkische Lira verliert weiterhin an Wert gegenüber ausländischen Währungen. Der Preis für einen US-Dollar hat sich von sieben Lira auf fast 15 Lira mehr als verdoppelt. Der monatliche Mindestlohn von 2.825 Lira (etwa 180 Euro) ist derzeit der niedrigste in ganz Europa.

Diese Situation bestärkt Forderungen nach einer beträchtlichen Erhöhung des Mindestlohns, von der Millionen Arbeiter und ihre Familien direkt betroffen wären. Zugleich endeten die Tarifverhandlungen von fast 150.000 Metall- und Autoarbeitern ohne Ergebnis. Die zwölfprozentige Erhöhung, die vom Branchenverband der Metall- und Autoindustrie MESS angeboten wurde, kommt einer Kriegserklärung der Bourgeoisie an die Arbeiterklasse gleich. Unter Metallarbeitern breitet sich die Forderung nach einem Streik aus, sie fordern von den unternehmensfreundlichen Gewerkschaften eine Aufwärtskorrektur ihrer Tarifforderungen.

Arbeiter, die trotz der tödlichen Pandemie gezwungen wurden, in Betrieben Profite für die Wirtschafts- und Finanzelite zu erwirtschaften, protestieren in den sozialen Netzwerken gemeinsam mit Lehrkräften, die in unsicheren Schulen unterrichten müssen, gegen die Regierung. Gegen den sinkenden Lebensstandard fordern sie eine dramatische Erhöhung ihrer Löhne. Hunderttausende junge Menschen fordern angesichts der Ausbreitung der Omikron-Variante im ganzen Land Onlineunterricht.

Die Bedingungen für eine massive soziale Explosion reifen heran. Die herrschende Klasse und all ihre politischen Repräsentanten fürchten, dass die soziale Wut, die unter Millionen Arbeitern und Jugendlichen gärt, sich in Form einer von den Gewerkschaften unabhängigen Massenbewegung der Arbeiterklasse entlädt, und bereiten sich darauf vor.

Präsident Erdoğans Regierung, deren Rückhalt in der Bevölkerung in den letzten Umfragen stetig gesunken ist, hält als einzige Antwort auf diese entstehende Bewegung eine Mischung aus völlig unzureichenden Maßnahmen und Polizeistaatsgewalt bereit.

Inmitten wachsenden sozialen Widerstands in der Bevölkerung wurden in den letzten Tagen mehrere „Street-Interviewer“ unter Hausarrest gestellt. Ein öffentliches Forum zur „Wirtschaftskrise“ an der Universität Ankara wurde am Dienstag von der Polizei aufgelöst, die mindestens 30 Studierende verhaftete.

Ein regierungsnaher Juraprofessor erklärte: „Aufgrund der schweren und scheinbar unausweichlichen wirtschaftlichen Depression müssen wir uns als Gesellschaft auf die Ausrufung des Ausnahmezustands vorbereiten.“ Diese Äußerung macht deutlich, dass die Regierung entschlossen ist, die entstehende soziale Bewegung mit Gewalt niederzuschlagen. Es wächst außerdem die Gefahr, dass Erdoğan angesichts einer drohenden Wahlniederlage etwas Ähnliches unternehmen könnte wie der ehemalige US-Präsident Donald Trump, der am 6. Januar einen Putschversuch organisiert hatte.

Die bürgerliche Opposition unter Führung der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) versucht, den wachsenden sozialen Widerstand für ihre Zwecke auszunutzen und mit der Forderung nach Neuwahlen im Fahrwasser der kapitalistischen Ordnung zu halten.

Die Sosyalist Eşitlik Grubu warnt die Millionen Arbeiter und Jugendlichen, die etwas an ihren unerträglichen Lebensbedingungen ändern wollen, dass eine neue Regierung unter Führung der bürgerlichen Opposition keine Lösung ist.

Die vermeidbare Pandemie, hohe Lebenshaltungskosten und wachsende soziale Ungleichheit, die Abschaffung demokratischer Rechte, der Kurs auf Diktatur und die Gefahr eines Weltkrieges – all dies sind gemeinsame Probleme der Arbeiterklasse in der Türkei und auf Weltebene. Sie resultieren aus dem kapitalistischen System und der bürgerlichen Ordnung. Der einzige Ausweg ist die Errichtung der Arbeitermacht als Etappe im Kampf für den internationalen Sozialismus.

Die von der CHP angeführte oppositionelle „Nationalallianz“ ist mindestens genauso proimperialistisch und der Arbeiterklasse genauso feindselig gesonnen wie Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP). Sie würde eine Regierung bilden, die sich zur EU und zur Nato bekennt und versuchen, die sich mobilisierende Arbeiterklasse gewaltsam zu unterdrücken.

In den Städten, in denen sie die Regierung stellen, verfolgen die Oppositionsparteien die gleiche kriminelle Pandemiepolitik und reagieren auf Streiks genauso wie die Regierung. Sie unterhalten ebenfalls enge Beziehungen zur EU, der Nato und den wichtigsten Organisationen der türkischen Bourgeoisie. Diese Tatsachen bestätigen die Warnung der SEG.

Eine mögliche Regierung der bürgerlichen Opposition wäre keine Alternative zum Erdoğan-Regime, sondern dessen Fortsetzung. An ihr wäre die rechtsextreme Gute Partei beteiligt, die sich von Erdoğans faschistischem Verbündeten, der Partei der Nationalistischen Bewegung, abgespalten hat, ferner die AKP-Abspaltungen DEVA und die Zukunftspartei.

Die Gewerkschaften und pseudolinken Organisationen wie die Türkische Arbeiterpartei (TIP), die Arbeiterpartei (EMEP) und die Linkspartei spielen durch ihre Unterstützung der bürgerlichen Opposition eine besonders reaktionäre Rolle. Die Opposition fürchtet eine soziale Explosion genauso sehr wie die Regierung.

Während der oppositionsnahe Gewerkschaftsbund DISK versucht, den wachsenden Widerstand unter Arbeitern durch die Organisation von Kundgebungen in mehreren Städten zu kontrollieren, rufen die pseudolinken Organisationen die Arbeiter zur Unterstützung der Gewerkschaften und der bürgerlichen Opposition auf.

Statt für ein Ende der Pandemie zu kämpfen, sprechen die pseudolinken Organisationen kaum noch über Covid-19, sondern planen mit der CHP und der kurdischen bürgerlich-nationalistischen HDP (Demokratische Partei der Völker), mit der sie in diversen Gewerkschaften und Gemeinden eng zusammenarbeiten, die Machtübernahme.

Die pseudolinken Organisationen versuchen, eine so genannte „dritte Front“ unter der Führung der HDP zu errichten und durch dieses Bündnis die Masse der Arbeiter und der Jugend, die zunehmend in Bewegung geraten und nach links rücken, vor den Karren der bürgerlichen Opposition unter der Führung der CHP zu spannen.

Ihre offene Orientierung an der Nationalallianz zeigt sich in einer aktuellen Erklärung von TIP-Führer Erkan Baş: „Wir können diese Sache beenden [d.h. Erdoğan besiegen], wenn wir in der ersten Runde für einen Kandidaten stimmen, den wir auch in der zweiten Runde [der Präsidentschaftswahl] wählen können.“

Diese rechte Politik des „kleineren Übels“ droht der Arbeiterklasse nur Enttäuschung und Zerschlagung zu bringen. Eines der jüngsten Beispiele für diesen Betrug war die Unterstützung der pseudolinken Kräfte für den Demokraten Joe Biden gegen den Republikaner Donald Trump in der Wahl von 2020. Biden setzt die mörderische Pandemiepolitik im Inland fort und verschärft den Aggressionskurs gegen China und Russland, der das Risiko eines atomaren Weltkrieges birgt.

Die einzige gesellschaftliche Kraft, die die Pandemie beenden und Abhilfe bei den hohen Lebenshaltungskosten, sozialer Ungleichheit, Diktatur und der Kriegsgefahr schaffen kann, ist die internationale Arbeiterklasse. Es gibt keine Abkürzungen zur Rettung von Menschenleben und der Verbesserung des Lebensstandards. Diese Schritte erfordern einen Frontalangriff auf die Vermögen und die Macht der Bourgeoisie.

Am 1. Mai rief das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) zur Gründung der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees (IWA-RFC) auf. Vor kurzem rief es außerdem den Global Workers’ Inquest zur Covid-19-Pandiemie ins Leben, um eine solche Bewegung im Weltmaßstab zu initiieren. Es ruft alle Wissenschaftler, Pflegekräfte, Arbeiter und Jugendliche auf, die IWA-RFC und den Inquest zu unterstützen.

Die unausweichliche soziale Explosion der Arbeiterklasse muss mit einer revolutionären politischen Perspektive ausgestattet und unabhängig von allen prokapitalistischen Parteien und Gewerkschaften organisiert werden. Dies bedeutet den Aufbau der türkischen Sozialistischen Gleichheitspartei als Sektion des IKVI in der Arbeiterklasse.

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