Wir veröffentlichen hier das Vorwort von David North zur türkischen Übersetzung seines Essays „Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus“, der 1982 anlässlich des fünften Jahrestags der Ermordung von Tom Henehan entstand. David North ist Leiter der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site und nationaler Vorsitzender der Socialist Equality Party in den USA.
In deutscher Sprache ist der Essay in der Zeitschrift gleichheit Nr. 1/2014 erschienen. Wir werden ihn in den nächsten Tagen auch auf der WSWS veröffentlichen. Die Rede von David North anlässlich des 20. Jahrestags von Henehans Ermordung, Tom Henehan (1951-1977): Das Leben eines Revolutionärs, wurde 2017 auf der WSWS erneut veröffentlicht.
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Die Arbeit an einem Text führt den Autor oftmals auf unvorhergesehene Wege. Dies gilt auch für den Essay „Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus“, dessen Übersetzung ins Türkische durch die Genossen von Sosyalist Eşitlik ich von ganzem Herzen begrüße.
Ich schrieb diesen Aufsatz im Herbst 1982. Anlass war der fünfte Jahrestag des politisch motivierten Mordes an Tom Henehan, einem führenden Mitglied der Workers League (Vorläuferorganisation der Socialist Equality Party in den Vereinigten Staaten).
Genosse Henehan wurde 16. Oktober 1977 Opfer eines Anschlags von zwei bewaffneten Männern. Er leitete an diesem Tag eine Freizeitveranstaltung der Young Socialists, der Jugendbewegung der Workers League, in einem Club in New York City. Dem Angriff war keine Auseinandersetzung vorausgegangen. Die beiden Männer waren unvermittelt in den Veranstaltungsort eingedrungen und hatten Unruhe gestiftet. Als Henehan sich dem Eingang des Clubs näherte, um festzustellen, was los war, gab einer der Angreifer fünf Schüsse auf ihn ab. Ein weiteres Mitglied der Workers League, Jacques Vielot, eilte Tom zu Hilfe und wurde von dem anderen Angreifer angeschossen. Anschließend flohen die Täter.
Trotz seiner eigenen schweren Verletzungen gelang es Vielot, Henehan, der noch bei Bewusstsein war, in ein nahegelegenes Krankenhaus zu bringen. Tom wurde in die Notaufnahme eingeliefert, doch die diensthabenden Ärzte versuchten aus bis heute ungeklärten Gründen nicht, seine inneren Blutungen zu stoppen. Tom starb in der Notaufnahme, etwa 90 Minuten nach seiner Ankunft im Krankenhaus. Er war erst 26 Jahre alt.
Der Mord an Tom Henehan war ein politisches Verbrechen, das die amerikanische und internationale Arbeiterklasse eines selbstlosen, engagierten und äußerst fähigen Kämpfers beraubte. Obwohl erst seit viereinhalb Jahren in der Bewegung, genoss Tom bei seinen Genossen in der Workers League und im gesamten Internationalen Komitee der Vierten Internationale hohes Ansehen.
Tom war am 16. März 1951 in Wisconsin geboren und in Michigan aufgewachsen. Im Frühjahr 1973 trat er der Workers League bei. Er war damals Student an der Columbia University in New York. Als Tom sich entschied, Mitglied der Workers League zu werden, war die Welle des studentischen Radikalismus bereits abgeebbt und die wohlhabende Mittelschichtjugend, die sich in der Protestpolitik versucht hatte, wandte sich dem Karrierismus und einer selbstsüchtigen Lifestyle- und Identitätspolitik zu.
Tom Henehan dagegen fühlte sich zur Workers League hingezogen, weil sie sich auf die Arbeiterklasse orientierte und ihre Wurzeln bewusst auf die historischen Kämpfe der weltweiten trotzkistischen Bewegung zurückführte, die bis in die 1920er Jahre zurückreichen. Seine Ausbildung zum Marxisten fiel in eine Zeit, in der die Workers League eine kritische Phase ihrer politischen Entwicklung durchlief. Ihr Gründer Tim Wohlforth verwarf 1974 das Programm, das er in den vorangegangenen 14 Jahren verteidigt hatte. Die Workers League war aus der Opposition gegen den Bruch der Socialist Workers Party mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale hervorgegangen, doch nun kehrte Wohlforth zur SWP zurück. In der Workers League fand er damit keinerlei Unterstützung. Denn die Grundlage, auf der die Kader der jungen Partei gewonnen und ausgebildet worden waren, bestand eben in der Opposition des Internationalen Komitees gegen die Abkehr der Socialist Workers Party der USA vom Trotzkismus, die in der Wiedervereinigung der SWP mit dem Vereinigten Sekretariat der Pablisten im Jahr 1963 am klarsten zum Ausdruck kam.
Die Workers League reagierte auf Wohlforths Verrat, indem sie sich noch intensiver mit der Geschichte der Vierten Internationale befasste und die theoretischen und politischen Fragen studierte, um die es in dem langwierigen Kampf gegen den pablistischen Revisionismus gegangen war.
Als der fünfte Jahrestag der Ermordung von Genossen Henehan herannahte, hatte ich eigentlich die Absicht, mich auf seine politische Arbeit zu konzentrieren und seinen herausragenden Beitrag zum Aufbau der Workers League zu würdigen. Der Rückblick auf Toms Leben warf jedoch wichtige Fragen auf: Wie werden diejenigen, die sich der trotzkistischen Bewegung anschließen, ausgebildet? Auf welchem Wege wird ein marxistisch-trotzkistischer Kader entwickelt? Welche Beziehung besteht zwischen der täglichen Arbeit der revolutionären Partei und der Geschichte der Vierten Internationale?
Diese Fragen stellten sich mit besonderer Dringlichkeit, weil das Internationale Komitee der Vierten Internationale von einer zunehmenden Krise betroffen war. In den Wochen vor der Abfassung des Essays zum Jahrestag von Toms Ermordung hatte ich begonnen, das Abdriften der Workers Revolutionary Party – damals die erfahrenste und führende Sektion des Internationalen Komitees – in Richtung der opportunistischen Politik des Pablismus einer ausführlichen Kritik zu unterziehen. Die Beziehungen, die die WRP ab Mitte der 1970er Jahre zu einer Reihe von bürgerlich-nationalistischen Bewegungen und Regimen im Nahen Osten und in Afrika aufgebaut hatte, bedeuteten einen grundlegenden Bruch mit der strategischen Ausrichtung, die Trotzki in seiner Theorie der permanenten Revolution definiert hatte. Gleichzeitig nahm die Politik der WRP in Großbritannien einen unverhohlen opportunistischen Charakter an, und im Parteiorgan The News Line häuften sich kriecherische Rechtfertigungen für den Verrat der Gewerkschaftsbürokratie.
Das Abrücken der Workers Revolutionary Party von der trotzkistischen Strategie, die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse herzustellen – die ihre wichtigsten Führer Gerry Healy, Michael Banda und Cliff Slaughter in den 1950er und 1960er Jahren gegen den Stalinismus und den pablistischen Opportunismus verteidigt hatten – wurde mit falschen Beschwörungen des dialektischen Materialismus überdeckt. Healy sprach in diesem Zusammenhang von der „Praxis der Erkenntnis“. Dabei handelte es sich um eine eklektische Kombination aus subjektivem Impressionismus und ungezügeltem Pragmatismus, dem er durch einen prätentiösen pseudohegelianischen Jargon den Anschein von Tiefgründigkeit zu verleihen suchte. Darüber hinaus zielten die WRP-Führer mit ihrer Konzentration auf die „philosophische Methode“ – die keinerlei Bezug zur politischen Analyse und absolut nichts mit Marxismus zu tun hatte – darauf ab, das Studium der Schriften Trotzkis und der wesentlichen Dokumente, die das Erbe des Internationalen Komitees der Vierten Internationale ausmachten, zu untergraben.
Die theoretischen und politischen Fragen, mit denen ich mich in der anfänglichen Kritik an der WRP beschäftigte, schlugen sich unweigerlich auch in der Hommage an Tom Henehan nieder. Die Würdigung Henehans, fünf Jahre nach seinem Tod, erforderte die Verteidigung der Prinzipien, des Programms und der wahren marxistischen Methode, auf denen seine Ausbildung als revolutionärer Kader beruht hatte. Und so nahm die Ehrung von Toms Leben die Form einer ersten Kritik am Verrat des Trotzkismus durch die Workers Revolutionary Party an. Dabei wurde die WRP nicht beim Namen genannt. Aber mit Sicherheit entging Healy, Banda und Slaughter nicht, welche politischen Implikationen meine Würdigung von Tom Henehan hatte und dass sie unverkennbar gegen die von ihnen betriebene opportunistische Verfälschung der marxistischen Theorie gerichtet war. Besonders folgende Bemerkung dürfte ihnen übel aufgestoßen sein:
Revisionisten und politische Scharlatane aller Art gehen bei ihrer Politik stets von den unmittelbaren praktischen Erfordernissen des Tages aus. Wer sich hingegen auf Prinzipien stützt, muss die Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung genau studieren und die Gesetze ihrer Entwicklung kennen. Dieses Wissen und die draus folgende ständige kritische Überarbeitung der objektiven Erfahrungen der Arbeiterbewegung sind diesen Pragmatikern völlig fremd. Ihr Motto in der Politik lautet: „Alles ist erlaubt – wenn nur etwas dabei herauskommt.“ Sollten sie Interesse an der Geschichte zeigen, dann nur, um ein Zitat aus seinem Kontext zu reißen und für ihre Zwecke zu benutzen, oder um ihren aktuellen Opportunismus hinter zeremoniellen Verweisen auf frühere Errungenschaften der trotzkistischen Bewegung oder, was häufiger vorkommt, auf Trotzkis Errungenschaften als Individuum zu verstecken.
Auch über die folgende Aussage dürften Healy und Slaughter – die beiden Hauptvertreter der Methodenfälschung – nicht glücklich gewesen sein:
Ohne tatsächliche Kenntnis der historischen Entwicklung der trotzkistischen Bewegung sind Hinweise auf den dialektischen Materialismus mehr als nur hohl; in Wirklichkeit öffnen derartige Anrufungen Tür und Tor für eine Verzerrung der dialektischen Methode. Die Quelle der Theorie liegt nicht im Denken, sondern in der objektiven Welt. Daher gründet sich die Entwicklung des Trotzkismus auf die neuen Erfahrungen im Klassenkampf, die auf das gesamte historisch abgeleitete Wissen unserer Bewegung treffen.
Meine Kritik richtete sich gegen die Verzerrung und Verfälschung der Dialektik durch die WRP, doch ich war mir durchaus der Gefahr bewusst, dass sie von Gegnern des Internationalen Komitees falsch dargestellt und politisch missbraucht werden könnte, um die Dialektik zu diskreditieren und die philosophischen Grundlagen der marxistischen Politik zu untergraben. Deshalb betonte ich den wesentlichen Zusammenhang zwischen der dialektischen Methode, angewandt im Einklang mit der materialistischen Geschichtsauffassung, und dem Werk Leo Trotzkis:
Wer Trotzkis Schriften ernsthaft und systematisch studiert – und das ist ein wesentlicher Bestandteil der theoretischen Ausbildung jedes Kaders in der Workers League und im Internationalen Komitee – wird den enormen Reichtum der dialektischen Methode entdecken. Es wäre natürlich falsch, den Inhalt von Trotzkis Kampf gegen den Stalinismus insgesamt mechanisch auf die Frage von Dialektik versus Metaphysik zu reduzieren und dabei die sozialen Kräfte zu übersehen, deren Interessen sich damals wie heute durch diese historischen Kämpfe ausdrückten. Dennoch steht außer Zweifel, dass jedes neue Stadium der Entwicklung des Kampfes gegen die stalinistische Bürokratie die Notwendigkeit mit sich brachte, die dialektisch-materialistische Methode gegen die subjektiv-idealistische Metaphysik der Bürokratie zu verteidigen. Die Philosophie ist parteilich, d. h. die Theorie ist eine Klassenfrage. Stalins Eklektizismus und Idealismus, die ihn zunächst für den Druck der dem Proletariat feindlichen sozialen Kräfte anfällig gemacht hatten, verankerten sich an einem bestimmten Punkt der Entwicklung der Weltkrise in den materiellen Interessen der Sowjetbürokratie und damit des Weltimperialismus.
Des Weiteren bemühte ich mich zu klären, wie sich die materialistische Dialektik zur Arbeit der Bolschewistischen Partei und zur Kommunistischen Internationale verhielt, die nach der Oktoberrevolution 1917 gegründet wurde:
Unter der Führung von Lenin und Trotzki wurde die dialektische Methode, die für Kautsky und die Mehrheit der sozialdemokratischen Führer ein „toter Hund“ gewesen war, wiederbelebt, bereichert und auf ihren rechtmäßigen Platz in der Kommunistischen Internationale gehoben – als methodische Grundlage der Wissenschaft der marxistischen Strategie, politischen Perspektive und revolutionären Aktion. In der Epoche der Bürgerkriege, abrupten Veränderungen der politischen Situation, die über Nacht eintreten können, täglicher Verschiebungen in den internationalen Klassenbeziehungen, plötzlicher Veränderungen auf dem politischen Schlachtfeld von links nach rechts und von rechts nach links, hat sich allein die dialektische Methode als den historischen Aufgaben des Proletariats angemessen erwiesen. Marx hätte gesagt: Die Dialektik ist keine Lanze für akademische Debatten, sondern eine Waffe im Klassenkampf. Sie ist keine Leidenschaft des Kopfes, sondern der Kopf der revolutionären Leidenschaft. In diesem Geist erzieht das Internationale Komitee der Vierten Internationale heute die Kader der trotzkistischen Weltbewegung.
Die ersten beiden Teile von „Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus“ wurden im Bulletin, dem zweimal wöchentlich erscheinenden Organ der Workers League, am 15. und 19. Oktober 1982 veröffentlicht. Am Freitag, den 22. Oktober 1982 informierte ich Healy persönlich darüber, dass ich seine idealistische Verfälschung der marxistischen Methodik ablehnte. Unmittelbar darauf kam es zu einer Reihe explosiver Treffen mit Healy.
Nach meiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten schrieb ich den dritten und vierten Teil, die im Bulletin vom 23. November und 14. Dezember 1982 veröffentlicht wurden. Zu diesem Zeitpunkt wurde die theoretische und politische Tragweite des Essays, d. h. seine grundlegende Kritik an der opportunistischen Ablehnung des Erbes der Vierten Internationale durch die WRP, von den WRP-Führern klar erkannt. Bei einem Treffen am 18. Dezember 1982 in London änderte Slaughter, der sich im Oktober noch mit meiner Kritik an Healys „Praxis der Erkenntnis“ einverstanden erklärt hatte, abrupt seinen Kurs und bezeichnete mich als amerikanischen Pragmatiker.
Daraufhin zitierte ich mehrere Passagen in „Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus“, die der Frage der Methode gewidmet sind, und forderte Slaughter auf, genau zu erklären, inwiefern diese Passagen eine Neigung zum Pragmatismus erkennen ließen. Slaughter nahm die Herausforderung nicht an.
Der Essay wurde nie in The News Line veröffentlicht. Die opportunistische Degeneration der Workers Revolutionary Party beschleunigte sich und gipfelte im Februar 1986 im politischen Zerfall der Organisation und ihrem Bruch mit dem Internationalen Komitee und dem Trotzkismus. Nach der Spaltung wurde der Essay im Internationalen Komitee weit verbreitet und in der Presse aller seiner Sektionen veröffentlicht.
Die ältere Generation der Genossen in der Socialist Equality Party und im Internationalen Komitee, die mit Tom zusammengearbeitet haben und sein Andenken in Ehren halten, teilen sicherlich meine Genugtuung darüber, dass diese Würdigung nun dank einer neuen Generation von Kämpfern für den Sozialismus ihren Weg in die türkische Sprache gefunden hat. Die neue Generation trotzkistischer Revolutionäre in der ganzen Welt wird sich an Tom Henehan ein Beispiel nehmen. Diese neue Ausgabe zeugt von dem wachsenden weltweiten Einfluss der Prinzipien und des Programms des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, für deren Verteidigung Tom sein Leben geopfert hat.
David North
5. Oktober 2021