Polen: Massenproteste gegen unhaltbare Zustände im Gesundheitswesen

Am Samstag protestierten in Warschau zwischen 30.000 und 40.000 Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger, Apotheker, Physiotherapeuten, Krankenhaustechniker, Sanitäter und Mitglieder vieler weiterer Berufsgruppen aus ganz Polen für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Sie versammelten sich vor dem Gesundheitsministerium und dem Parlament, dem Sejm. Auch am Sonntag kam es unter dem Motto „Białe miasteczko 2.0.“ (weiße Stadt 2.0) zu Protesten.

Demonstranten trugen Transparente mit Slogans wie „Nehmt das Geld von den Politikern und gebt es den Gesundheitsarbeitern!“, „Die Pandemie des Mangels an Krankenschwestern und Hebammen besteht schon seit vielen Jahren“, „Willkommen im Krankenhaus, wir schließen bald“, „Die Patienten sind Opfer des Systems“, „Das System ist am Ende“, „Wir wollen pflegen können in Polen“, „Wir sterben 20 Jahre früher als andere Polen“ und „Wir fordern anständige Löhne“.

Die Demonstranten hielten auch eine Schweigeminute für die über 500 Angestellten des Gesundheitswesens, die in der Pandemie am Coronavirus gestorben sind. Völlig zu Recht machten die Demonstranten die miserablen Arbeitsbedingungen und den Mangel an persönlicher Schutzausrüstung für die vielen toten Kolleginnen und Kollegen verantwortlich.

Die Arbeiter des polnischen Gesundheitswesens fordern eine Erhöhung des Gehalts auf den OECD-Standard. Dies kommt in vielen Fällen einer Vervielfachung ihres Gehalts gleich, denn ein Großteil von ihnen verdient oft nur wenige tausend Złoty. So verdienen Krankenpfleger im Durchschnitt 3000 Złoty netto im Monat, das sind etwa 659 Euro; Rettungssanitäter und Labordiagnostiker verdienen noch weniger.

Die Forderungen umfassen auch eine Erhöhung der Gesundheitsausgaben von derzeit 6 auf 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts; eine Angleichung der Anzahl der Beschäftigten im Gesundheitssystem an das OECD-Durchschnittsniveau, insbesondere unter Berücksichtigung der Überalterung im polnischen Gesundheitswesen; mehr und bessere medizinische Dienstleistungen aus staatlichen Mitteln; eine qualitative Steigerung der medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Versorgung sowie Zugang zu modernen Formen der Labor- und bildgebenden Diagnostik.

In den sozialen Medien ist der Protest auf breite Unterstützung gestoßen. Eine Zahnärztin postete auf Twitter: „Zu viele medizinische Berufe werden unterbewertet. Es ist an der Zeit, das zu ändern! Was die Zahnärzte betrifft, so muss Schluss damit sein, dass wir in den privaten Sektor gedrängt werden. Eine angemessene zahnärztliche Versorgung wird von ALLEN benötigt, nicht nur von denen mit einem dicken Geldbeutel.“

Eine Patientin erklärte ebenfalls auf Twitter, sie unterstütze den Protest, denn „jeder im Gesundheitswesen verdient eine angemessene Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen“.

Während die Massenproteste in Polen in der internationalen und insbesondere der deutschen Presse weitgehend totgeschwiegen wurden, streiken nur 500 Kilometer entfernt in Berlin seit Donnerstag über 2000 Beschäftigte der Klinikkonzerne Charité und Vivantes, die mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind wie ihre polnischen Kolleginnen und Kollegen.

Die Proteste finden inmitten der neuen Corona-Welle statt, die von der hochansteckenden Delta-Variante und der uneingeschränkten Öffnung von Schulen und Betrieben in ganz Europa und den USA getrieben wird. Auch in Polen steigen die Fallzahlen wieder dramatisch. Am Samstag gab es 530 und am Sonntag 476 neue Fälle; die Fallzahlen steigen seit langem um jeweils 40 Prozent wöchentlich an. Bisher sind nur etwas mehr als 50 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft.

Polen ist wie ganz Osteuropa vor allem wegen der katastrophalen Folgen der Restauration des Kapitalismus besonders hart von der Pandemie betroffen. Obwohl es mit knapp 40 Millionen nur halb so viele Einwohner hat wie Deutschland, gibt es in Polen fast drei Millionen bestätigte Coronafälle, verglichen mit rund vier Million in Deutschland. Angesichts des massiven Mangels an Tests ist die Dunkelziffer sehr hoch. Die Todesrate ist mit 198,6 pro 100.000 Einwohner fast so hoch wie in Großbritannien und den USA (rund 201 pro 100.000).

Die miserablen Zustände im Gesundheitswesen sind ein wesentlicher Grund für die hohe Todesrate. Das ohnehin massiv unterbesetzte und unterbezahlte medizinische Personal war, insbesondere in Arbeiterregionen wie Schlesien, mit Masseninfektionen konfrontiert. Dabei verfügen ganze Städte über kein einziges Beatmungsgerät.

Während im EU-Durchschnitt auf 100.000 Anwohner zehn Krankenschwestern kommen, sind es in Polen nur fünf. Nur in Rumänien und Bulgarien ist der Schnitt noch schlechter. Laut Gewerkschaftsvertretern, die am Samstag bei der Demonstration sprachen, müssten eigentlich 270 ganze Krankenhäuser wegen akuten Personalmangels geschlossen werden.

Das Ausmaß der Proteste spricht Bände über die explosive Stimmung unter Arbeitern. Bereits seit Juni gab es Proteste der Rettungssanitäter, die u.a. mit SickOuts gegen die miserablen Mindestlöhne von umgerechnet rund 900 Euro protestierten. An den Protesten beteiligten sich rund die Hälfte aller Rettungssanitäter im Land, sodass die verfügbaren Krankenwagen zeitweise um 25 Prozent zurückgingen.

Die am 1. Juli beschlossene Reform der Regierung war der berühmte letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Reform sieht massive Gehaltssenkungen und eine Verschiebung der zuvor angekündigten Anhebung der Aufwendungen für das Gesundheitswesen auf sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts vor. In Polen werden die Gesundheitsausgaben zentral vom Staat durch den nationalen Gesundheitsfonds gesteuert und zugewiesen.

Ursprünglich hatte die Regierung behauptet, diese Marke 2024 erreichen zu wollen, verschob die Frist nun jedoch auf 2027. Polen zählt mit seinen aktuell 5,4 Prozent im Vergleich mit den OECD Industrieländern (9 Prozent) und auch innerhalb der EU (10 Prozent) zu den Schlusslichtern.

Die PiS-Regierung hat sich gegenüber den Forderungen der Arbeiter in hohem Maße provokativ verhalten. Verhandlungen zwischen den Gewerkschaften und Gesundheitsminister Adam Niedzielski scheiterten, nachdem das Ministerium die Forderungen als „theatralisch“ zurückgewiesen und eine Teilnahme von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki abgelehnt hatte.

Laut den Berechnungen der PiS würden die Forderungen Mehrausgaben von mehr als 100 Milliarden Złoty (rund 22 Milliarden Euro) erfordern, also fast doppelt so viel wie der bisherige Etat von etwa 120 Milliarden Złoty. Doch statt die alte Lüge, es sei „nicht genug Geld da“, brüsk zurückzuweisen, forderten die Sprecher des Komitees genauere Angaben über die Grundlagen der Berechnung, denn nur so, erklärten sie, gäbe es eine Basis für Gespräche.

Der Dachverband der Medizingewerkschaften, das Gewerkschaftsforum (FZZ), warnte nach dem Scheitern der Verhandlungen am Freitag vor einer „Eskalation des sozialen Konflikts, einer Vertiefung schwerwiegender Personalprobleme und letztlich einem Totalausfall des gesamten Systems”. Im Einklang mit dem nationalen Protestkomitee fordert das FZZ nun direkte Gespräche mit dem Ministerpräsidenten und die Übergabe der Verhandlungen an den „Rada Dialogu Społecznego“ (Rat für den sozialen Dialog), ein dauerhaftes korporatistisches Gremium aus Vertretern der Regierung, der Unternehmerverbände und Gewerkschaften.

Um die wachsende Wut der Arbeiter unter Kontrolle zu bringen, gründeten Anfang August sechs Gewerkschaften zusammen mit der obersten Ärztekammer, dem Hausärztebund „Porozumienie Zielonogórskie“ und vier weiteren medizinischen Fachverbänden ein nationales Protest- und Streikkomitee.

Angesichts der wachsenden Kampfbereitschaft und Wut unter Arbeitern findet die rechte PiS-Regierung, die in weiten Teilen der Bevölkerung zutiefst verhasst ist und in Umfragen zuletzt auf 26 Prozent abgestürzt ist, ihre wichtigste Stütze in den Gewerkschaften.

Das nationale Protest- und Streikkomitee hat bereits klar gemacht, dass es die Proteste schnellstmöglich beenden und trotz der weiterhin provokativen Haltung von PiS zurück an den Verhandlungstisch will. Am Dienstag wollte sich der extra ernannte stellvertretende Gesundheitsminister mit dem Protestkomitee treffen. Das Treffen kam jedoch letztlich nicht zustande. Der Ministerpräsident lehnt ein Treffen mit dem Komitee explizit ab.

Die meisten Gewerkschaften sind eng mit der liberalen Oppositionspartei (PO) verbandelt, deren Vertreter in den sozialen Medien Unterstützung für die Proteste vortäuschen. In Wirklichkeit sind alle kapitalistischen Parteien in Polen für die gegenwärtige Katastrophe im Gesundheitswesen verantwortlich, die ein direktes Ergebnis der Restauration des Kapitalismus vor 30 Jahren und jahrzehntelanger Kürzungsmaßnahmen ist. Was auch immer die taktischen Differenzen zwischen der PO und der PiS sein mögen, beide sprechen für die Interessen der polnischen Bourgeoisie und gehobener Mittelschichten, die nichts mehr fürchten als eine Bewegung der Arbeiterklasse in Polen und ganz Europa.

Der Kampf für bessere Bedingungen im Gesundheitswesen kann nicht im Rahmen der Gewerkschaften und der etablierten bürgerlichen Parteien geführt werden. Arbeiter brauchen neue unabhängige Organisationen, um ihre Kämpfe international zu verknüpfen und ihre Interessen gegen die Bourgeoisie durchzusetzen. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale unterstützt den Aufbau einer internationalen Allianz von Aktionskomitees, die unabhängig von den Gewerkschaften sind und direkt der Kontrolle von Arbeitern unterstehen. Arbeiter in Polen, die selbst die Initiative für den Aufbau solcher Komitees übernehmen wollen, sollten uns noch heute kontaktieren.

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