Corona-Brennpunkt Osteuropa und Balkan

In den vergangenen Monaten waren die Länder Osteuropas und des Balkans besonders schlimm von der Corona Pandemie betroffen.

Europaweit liegt die Zahl der täglichen Neuinfektion seit März über 200.000, so hoch wie auf dem bisherigen Höhepunkt im November 2020. Zwischenzeitlich waren die Zahlen infolge verschiedener, unkoordinierter nationaler Lockdown-Maßnahmen etwas gesunken. Über eine Million Menschen sind in Europa bisher an Covid-19 gestorben.

Nun haben alle Regierungen klargemacht, dass sie keine nennenswerten Eindämmungsmaßnahmen mehr ergreifen werden. Kaschiert durch ein löchriges Schnelltestsystem und katastrophal ablaufende Impfkampagnen setzen sie auf eine offene Durchseuchungsstrategie. Trotz Inzidenzzahlen zwischen 100 und 400 lassen sie Schulen, Kitas, Geschäfte und Betriebe offen.

Auffällig ist dabei, dass in allen osteuropäischen Ländern zwischen Estland und Griechenland die Sieben-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen über 200 liegt. Am schlimmsten betroffen sind Kroatien (379), Serbien (271), Ungarn (262), Polen (253), Slowenien (238) und Estland (237).

Auch bei den Todeszahlen je 100.000 Einwohner sticht die Region besonders hervor. Bis auf Belgien (206) befinden sich unter den Top 10 ausschließlich Länder Osteuropas und des Balkans. Auf Tschechien (269) folgen Ungarn (266), Bosnien (245), Montenegro (232), Bulgarien (223), Mazedonien, Slowakei und Slowenien. Mit Italien (196) und Großbritannien (192) liegen die nächsten großen europäischen Flächenländer erst dahinter.

Trotz großer klimatischer und geografischer Unterschiede haben die osteuropäischen Länder eines gemeinsam: Nach der Einführung des Kapitalismus vor drei Jahrzehnten wurde dort ein relativ gut funktionierendes Gesundheitssystem dem Profit geopfert und ruiniert.

Die stalinistischen Regime, die nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert wurden, unterdrückten zwar die Arbeiterklasse und vertraten die Interessen einer privilegierten Bürokratie. Doch die Vergesellschaftung der Unternehmen ermöglichte trotzdem eine breite Grundversorgung im medizinischen und Bildungsbereich, die weit über das Niveau vergleichbarer kapitalistischer Länder hinausging. So lagen die wirtschaftlich schwächeren Länder Osteuropas bei der Zahl von Ärzten und Betten pro Einwohner auf westeuropäischem Niveau und damit höher als amerikanische und asiatische Länder.

Aufgrund der destruktiven Rolle der stalinistischen Bürokratie wurde das wirtschaftliche Potenzial der Planwirtschaft jedoch nie vollends ausgeschöpft. Misswirtschaft und Korruption nahmen in den letzten Jahren rasch zu. Hinzu kamen die unlösbaren inneren Widersprüche der stalinistischen Regime, die auf weitgehende Autarkie bedacht, aber von der weltweiten Arbeitsteilung abhängig waren. Ende der 1980er Jahre reagierten die stalinistischen Apparatschiks schließlich, wie Leo Trotzki dies 1936 vorausgesagt hatte, mit der Einführung kapitalistischer Verhältnisse und der Verwandlung des einstigen „Volkseigentums“ in ihr Privateigentum.

Die in dieser Selbstbereicherungsorgie entstandene Oligarchie überzieht die Länder seitdem mit einer „Reform“ zum Wohle der Banken und Konzerne nach der anderen. Mit dem Eintritt in die Europäische Union haben sich die Privatisierungen und die Kürzung staatlicher Ausgaben weiter beschleunigt.

In vielen ehemaligen Ostblock-Staaten lag die Abdeckung mit Krankenbetten bis in die 2000er Jahre hinein noch über dem EU-Durchschnitt von 660 Betten je 100.000 Einwohner. In Ungarn, der Slowakei, Polen und Rumänien lag sie um rund ein Drittel höher, in Tschechien und Litauen sogar um zwei Drittel. Personell waren diese Länder jedoch bereits damals schlechter besetzt als der europäische Durchschnitt, der bei 390 Ärzten je 100.000 Einwohner lag. In Polen, Lettland, Ungarn und Slowenien betrug die entsprechende Zahl weniger als 300, in Rumänien sogar nur 189.

Bild aus einem Krankenhaus für Obdachlose in Budapest, das die rechte ungarische Regierung schließen will (AP Photo/Laszlo Balogh)

Im EU-Durchschnitt lag der Gesamtanteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt 2001 bei 8,5 Prozent oder 2230 US-Dollar je Einwohner, in den meisten osteuropäischen Staaten dagegen nur zwischen 4 und 6 Prozent oder 270 USD (Rumänien) und 900 USD (Ungarn). Nur Slowenien und Tschechien gaben 1200 USD je Einwohner aus.

Es überrascht daher nicht, wenn auch die Statistik der Lebenserwartung eine deutliche Sprache spricht. So liegt die Lebenserwartung eines Neugeborenen in Osteuropa bei 69 (Männer) und 79 (Frauen) Jahren, in Westeuropa dagegen bei 79 und 84 Jahren. Bei Männern mit niedrigem Bildungsabschluss (und damit niedrigem Einkommen) liegt die Lebenserwartung vier Jahre niedriger als bei Männern der Oberschicht.

Die jahrzehntelange, chronische Unterfinanzierung der Kliniken macht sich jetzt an chronischem Personalmangel und veralteter Ausstattung bemerkbar. Auch der Vorsprung bei Krankenbetten ist mittlerweile den Kürzungen zum Opfer gefallen. Zehntausende Betten wurden eingespart. Der stetige Bevölkerungsrückgang, ebenfalls ein Ergebnis des anhaltenden Sozialabbaus, beschönigt zwar den tatsächlichen Rückgang in der Statistik ein wenig. Doch wenn viele osteuropäische Länder trotzdem noch über dem EU-Durchschnitt liegen, ist dies vor allem ein Ergebnis gravierenden Kürzungen im gesamten europäischen Gesundheitssystem.

So haben beispielsweise Irland oder Frankreich ihre Betten-Kapazitäten seit 1990 auf 300 bzw. 600 je 100.000 Einwohner halbiert. In skandinavischen Ländern wie Schweden oder Finnland mit ihren einst ausgeprägten Sozialsystemen ist sogar nur ein Fünftel der Bettkapazitäten von 1990 übriggeblieben – 220 bzw. 320 Betten je 100.000 Einwohner.

Die Einsparungen in Ost und West stehen dabei in einem engen Wechselverhältnis. Die Kürzungsprogramme und Einsparungen werden von der EU und den darin tonangebenden Großmächten diktiert, und diese sparen im eigenen Gesundheitswesen auch auf Kosten der ehemaligen Ostblock-Staaten.

So wäre das westeuropäische Gesundheitssystem infolge des permanenten Spardrucks ohne die massenhafte Einwanderung von qualifiziertem Personal aus Osteuropa bereits viel weiter abgesunken. Zehntausende gutausgebildete Ärzte, Krankenschwestern oder -pfleger haben ihre Heimat mit der Aussicht auf ein besseres Einkommen und bessere Arbeitsbedingungen verlassen. Doch auch an ihrem neuen Arbeitsplatz geraten sie in die Abwärtsspirale im Gesundheitssystem. Deren mörderische Folgen sind durch die Corona-Pandemie besonders deutlich geworden.

Zeichnet man auf einer Europakarte die Sterberate ein, erscheint der „Eiserne Vorhang“ wieder, stellte die Süddeutschen Zeitung schon vor Jahren fest und fragte: „Scheitert Europas Einheit also beim Thema Gesundheit?“ Die eindeutige Antwort lautet: Nein, die Gesundheit (und Einheit) Europas scheitern am Kapitalismus!

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