„Die Selbstgerechten“ [1], das jüngste Buch von Sahra Wagenknecht, ist eine völkisch-nationalistische Hetzschrift. Das führende Mitglied der Linkspartei wettert gegen Kosmopolitismus und Weltoffenheit, wirbt für Protektionismus und einen starken Staat, denunziert Migranten und Flüchtlinge als Lohndrücker, Streikbrecher und kulturfremde Elemente und treibt einen Keil zwischen Arbeitende mit und ohne Hochschulabschluss. Es gibt Absätze in dem Buch, die sich fast wörtlich auch in Texten der AfD und der Nazis wiederfinden.
Das Buch stellt ein vernichtendes Urteil über den politischen Charakter der Linken dar. Aus den Reihen der Partei gab es zwar vereinzelte Proteste und Ausschlussforderungen gegen Wagenknecht. Doch das hat nichts zu bedeuten. Wagenknecht, die der Partei seit ihrer Gründung angehört, bleibt weiterhin ihr prominentestes Mitglied. Die Medien reißen sich um Interviews und Auftritte mit ihr. Nordrhein-Westfalen, der größte Landesverband, wählte sie kurz nach Erscheinen des Buches zur Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl. Janine Wissler, die Parteivorsitzende mit pseudotrotzkistischer Vergangenheit, tritt gemeinsam mit ihr im Wahlkampf auf.
Die anhaltende Unterstützung der Linken für Wagenknecht sagt mehr über diese Partei aus als tausend leere Wahlversprechen. Es ist nicht möglich, linke und rechte Politik zu versöhnen, das beweisen zahlreiche historische Erfahrungen. Wo immer die Linkspartei Regierungsverantwortung übernahm, hat sie sich als bürgerliche Partei entpuppt, deren Politik sich nicht von jener der anderen bürgerlichen Parteien unterscheidet. Wagenknechts Buch beweist nun, dass es rechts keine Grenze gibt, die zu überschreiten Die Linke nicht bereit wäre.
Volksgemeinschaft
Wie viele rechte Demagogen behauptet Wagenknecht, für die „sogenannten einfachen Leute“ zu sprechen, die „der Kapitalismus zu Verlierern gemacht hat“. Doch die „Arbeiterschaft“ und „klassische Mittelschicht“, die sie in ihrem Buch beschwört, haben nichts mit der Arbeiterklasse zu tun – einer internationalen Klasse, die Milliarden Menschen umfasst, durch den Produktionsprozess eng miteinander verbunden ist und sich aus Menschen unterschiedlichster Herkunft zusammensetzt.
Stattdessen entwirft Wagenknecht das Bild einer „Gemeinschaft“, die stark an die „Volksgemeinschaft“ der Nazis erinnert. Ihre Mitglieder sind „überwiegend sesshaft und heimatverbunden“, haben „es zutiefst verinnerlicht, im Rahmen von Gemeinschaften zu denken“, halten Werte wie „Leistung, Fleiß, Disziplin, Ordnung, Sicherheit, Stabilität und Normalität“ hoch und grenzen sich gegen Außenstehende und Migranten ab. (63/205)
„Gemeinschaften“ können nur existieren, behauptet Wagenknecht, wenn sie sich nach außen abgrenzen. „Menschen leben in Gemeinschaften und sie brauchen das Miteinander. Das gilt für alle Zeiten und letztlich für alle sozialen Schichten.“ Jede Gemeinschaft beruhe auf der Unterscheidung „zwischen denen, die dazugehören, und jenen, für die das nicht gilt“. (205/218)
Die wichtigste Gemeinschaft ist für Wagenknecht die Nation. Ein Kapitel ihres Buches trägt die Überschrift: „Nationalstaat und Wir-Gefühl: Weshalb eine totgesagte Idee Zukunft hat.“ Darin heißt es: „Nationen entstehen durch eine gemeinsame Kultur und Sprache, durch geteilte Werte, gemeinsame Traditionen, Mythen und Erzählungen.“ (235)
An anderer Stelle schreibt sie: „Gemeinsame Identitäten beruhen auf gemeinsamen Erzählungen, die Werte, Normen und Verhaltungsregeln festlegen. Viele Bräuche und Traditionen haben gerade darin ihren Wert, Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit zu vermitteln und so gegenseitige Loyalitätsgefühle zu schaffen.“ (206)
Nationen, die auf Mythen beruhen – das hätte auch Hitlers Propagandachef Josef Goebbels unterschrieben. Die ersten modernen Nationen, die aus demokratischen Revolutionen hervorgingen – die amerikanische und die französische – brauchten keine Mythen. Sie brachen mit den Mythen und Traditionen des Mittelalters und stützten sich auf die Ideale der Aufklärung, auf Vernunft und universelle Menschenrechte. Erst das deutsche Bürgertum, das aus Angst vor der Arbeiterklasse keine demokratische Revolution wagte und sich hinter Kaiser und Bismarck verschanzte, benötigte Mythen, um die Nation zu einen. Die Nazis trieben diese Mythen auf die Spitze, indem sie die Nation von der Rasse und die Rasse vom Blut ableiteten.
Nach den Idealen der Aufklärung sucht man bei Wagenknecht vergebens. Ihr geht selbst der berühmte Satz „Alle Menschen werden Brüder“ aus Schillers „Ode an die Freude“ zu weit, die Beethoven in seiner neunten Sinfonie verewigt hat. Aus „der Idee der menschlichen Gleichheit“ folge keineswegs, geifert sie, „dass wir die gleichen Verpflichtungen gegenüber allen Menschen haben“. Wer angebe, „in jedem Menschen einen Bruder zu sehen“, kümmere sich in Wirklichkeit um „niemandes Schicksal“ und vertrete einen „als Internationalismus verkleideten Egoismus“. (130)
Wagenknechts Feindbild sind die „Selbstgerechten“, die ihrem Buch den Titel gegeben haben und die sie auch als „Linksliberale“ und „Lifestyle-Linke“ bezeichnet. Sie leben in den Innenstädten, sind „weltoffen“ und „kosmopolitisch“, sorgen sich „ums Klima“, setzen sich „für Emanzipation, Zuwanderung und sexuelle Minderheiten“ ein, halten „den Nationalstaat für ein Auslaufmodell und sich selbst für einen Weltbürger“ und schätzen „Autonomie und Selbstverwirklichung“ mehr „als Tradition und Gemeinschaft“. (25-26)
Zu den „Selbstgerechten“ zählt Wagenknecht neben wohlhabenden Angehörigen der Mittelschichten ausdrücklich auch „zwischen 25 und 30 Prozent der Erwerbstätigen“, darunter die Mitglieder der „neuen akademischen Unterschicht“, die sich mit Gelegenheitsjobs, mit Zeitarbeit oder als Click Worker über Wasser halten. Denn auch diese Schicht orientiere sich „an den Erzählungen und Werten der sozialen Gruppe, zu der sie eigentlich gehört und in die sie aufsteigen will. Deshalb ist der Linksliberalismus auch in diesem Milieu ausgesprochen populär.“ (79/86)
In einigen Passagen des Buches begründet Wagenknecht ihren Angriff auf den „Linksliberalismus“ mit Kritik an der Identitätspolitik. Die Identitätspolitik „steht im Zentrum des Linksliberalismus und liefert praktisch das Grundgerüst, auf dem das linksliberale Weltbild beruht“, schreibt sie. (102)
Die Identitätspolitik beurteilt alle gesellschaftlichen Fragen nach den Kriterien von Rasse, Gender und sexueller Identität. Sie lehnt den marxistischen Standpunkt ab, dass die grundlegende Spaltung der Gesellschaft zwischen den Klassen verläuft. Sie dient wohlhabenden Mitgliedern der Mittelschichten dazu, ihre Karrieren zu fördern und die Arbeiterklasse zu spalten.
Wagenknecht greift die Identitätspolitik nicht von links, vom Klassenstandpunkt der Arbeiter an, sondern von rechts, wie dies auch die Anhänger der AfD und Donald Trumps tun. Auch für sie ist die Identität, und nicht die Klassenzugehörigkeit, das entscheidende politische Kriterium. Nur bestimmt sie die Identität nicht anhand von Hautfarbe und Gender, sondern anhand von nationaler Herkunft und Tradition.
Den „Linksliberalen“ wirft sie vor, dass sie „Nationalismus, Rückwärtsgewandtheit, Provinzialität, Rassismus, Sexismus, Homophobie, Islamophobie“ den Kampf ansagen, „Glaube, Nation und Heimat“ als „Chiffren für Rückständigkeit“ betrachten und beanspruchen, für „Vielfalt, Weltoffenheit, Modernität, Klimaschutz, Liberalität und Toleranz“ zu stehen. (99)
So geht es seitenlang weiter: „Der Linksliberalismus stellt den Gemeinschaftswerten, die er wahlweise als überholt abqualifiziert oder als nationalistisch und wohlstandschauvinistisch verdammt, seine Idee einer offenen Gesellschaft entgegen: eine Gesellschaft, zu der jeder, der möchte, hinzukommen kann, die ohne gemeinsame Werte und Bindungen auskommt und nur von Recht und Gesetz zusammengehalten wird und die jedem, der sich einfindet, die gleichen Rechte einräumt.“ (129)
Offenbar betrachtet Wagenknecht Nationalismus, Rassismus und Islamophobie als begrüßenswerte – oder zumindest legitime – Standpunkte und hält „Glaube, Nation und Heimat“ für fortschrittlich. Eine demokratische Gesellschaft, in der jeder unabhängig von Herkunft und Abstammung gleich vor dem Gesetz ist (die „nur von Recht und Gesetz zusammengehalten wird“), ist ihr dagegen ein Gräuel.
In ihrem Buch finden sich Dutzende solche Zitate, die wir dem Leser ersparen wollen. Vor allem der Vorwurf des „Kosmopolitismus“ – unter Stalin ein antisemitischer Kampfbegriff – hat es ihr angetan.
„Die Idee der ‚offenen Gesellschaft‘ und der linksliberale Kosmopolitismus, für den es nur noch eine Welt und eine Menschheit gibt, gehören daher zusammen“, schimpft sie. „Auf den ersten Blick klingt das ungemein progressiv. Alle Menschen werden Brüder, es gibt keine Grenzen mehr, jeder hat die gleichen Rechte.“ Doch „eine Gesellschaft ohne Mitgliedschaft“ könne „kein Schutzraum sein. Wo jeder hinzukommen kann, gibt es kein Miteinander und auch keine besondere Hilfe füreinander“. (129)
Selbst die Forderung nach einer verpflichtenden „Leitkultur“ – eine Kampfparole der Rechten – unterstützt Wagenknecht: „Wenn man den Begriff Leitkultur sinnvoll definieren will, sollte man darunter die durch kulturelle Überlieferung, Geschichte und nationale Erzählungen begründeten spezifischen Werte und typischen Verhaltensmuster innerhalb einer Nation verstehen, die Teil ihrer gemeinsamen Identität sind und auf denen ihr Zusammengehörigkeitsgefühl beruht.“ (240)
Fremdenfeindlichkeit
Zuwanderer und Flüchtlinge schließt Wagenknecht aus ihrer „Gemeinschaft“ aus. Es ist seit langem bekannt, dass sie fremdenfeindliche Standpunkte vertritt. Doch nun hat sie ihre Ansichten in einem 340-seitigen Buch zusammenhängend dargestellt. Das Ergebnis ist ein Weltbild, das sich nicht von jenem der AfD unterscheidet.
Im Kapitel „Zuwanderung – Wer gewinnt, wer verliert?“ listet sie über 30 Seiten hinweg Gründe auf, weshalb Migranten nicht oder nur unter strengen Voraussetzungen ins Land gelassen werden sollten. Sie geifert: „Die Forderung nach einer lockeren Einwanderungspolitik und eine generell positive Sicht auf Migration gehören zum Denkkanon der Lifestyle-Linken wie der Glaube an die Auferstehung zum Christentum. Wer hier abweicht, wird exkommuniziert.“ (140)
Sie macht Flüchtling zum Sündenbock für soziale Kürzungen: „Jeder Euro, der für eine Sache ausgegeben wird, fehlt für alle anderen. Sozialwohnungen, Lehrer, Kita-Plätze und Pflegepersonal sind schließlich ebenfalls Mangelware und müssen finanziert werden.“ Sie denunziert Einwanderer „als Lohndrücker oder auch als Streikbrecher“ und behauptet, die „wichtigste Interessengruppe, die seit jeher ein ausgeprägtes Interesse an Migration“ habe, sei „das Unternehmerlager“. (152-154)
An anderer Stelle schreibt sie: „Jedes echte Solidarsystem muss die Zahl der Einzahler und Empfänger in einer gewissen Balance halten, um nicht zusammenzubrechen. … Soziale Absicherungen auf dem Niveau der westlichen Länder wären auf globaler Ebene selbstverständlich unfinanzierbar.“ (130, Hervorhebung im Original)
Von Migranten, die es trotz aller Hindernisse ins Land schaffen, verlangt Wagenknecht „die Bereitschaft, sich auf die Mehrheitskultur und deren Werte einzulassen, ihren Fundus an Gemeinsamkeiten zu respektieren und zu beginnen, sich selbst als Bürger des Staates, in dem sie ihr Leben verbringen wollen, zu verstehen“. Islamophobie schürt sie mit den Worten: „Eine Religion wie der politische Islam, der Abgrenzung und Feindseligkeit predigt“, könne dagegen „schon deshalb nicht zu einem Land wie Deutschland gehören, weil er gar nicht zur hiesigen Kultur und Gesellschaft gehören will.“ (239)
Die Gewerkschaften lobt Wagenknecht für ihren Chauvinismus. Sie hätten schon in der Weimarer Republik „die Migration aus Osteuropa weitgehend gestoppt“ und in der Nachkriegszeit dafür gesorgt, dass Zuwanderer „kaum Zugang zum normalen Arbeitsmarkt der Industrieländer“ hatten. Letztere hätten zwar vielfach im gleichen Betrieb wie einheimische Arbeiter gearbeitet, „aber unter rechtlich klar abgegrenzten Bedingungen. Sie standen damit nicht in direkter Konkurrenz zu den Einheimischen.“ (154/157)
„Je organisierter die Gewerkschaften in bestimmten Branchen waren,“ folgert sie, „desto strikter fielen die Einschränkungen aus. In manchen Betrieben gelang es ihnen sogar, die Beschäftigung von Zuwanderern komplett zu verhindern.“ Sie hätten dies nicht aus rassistischen Gründen getan, „sondern weil sie nur dann eine Chance hatten, höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder durchzusetzen“. (157)
Flüchtlingsorganisationen wie „Seebrücke“, die sich unter großen Opfern gegen das massenhafte Ertrinken im Mittelmeer engagieren, und Bewegungen wie „Fridays for Future“, die gegen den Klimawandel kämpfen, denunziert Wagenknecht als Vorreiter des globalen Profitstrebens.
Hitler, Gauland und Wagenknecht
Wie eng sich Wagenknechts nationalistische Tiraden an faschistische Vorbilder anlehnen, zeigt ein Vergleich mit Texten von AfD-Führer Alexander Gauland und Adolf Hitler.
Gauland veröffentlichte am 6. Oktober 2018 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Gastbeitrag, in dem er – wie Wagenknecht – behauptete, seine Partei verteidige die Interessen der „bürgerlichen Mittelschicht“ und „sogenannter einfacher Menschen“ gegen „eine neue urbane Elite“.
Die Mitglieder dieser „globalisierten Klasse“, schrieb er, „leben fast ausschließlich in Großstädten, sprechen fließend Englisch, und wenn sie zum Jobwechsel von Berlin nach London oder Singapur ziehen, finden sie überall ähnliche Appartements, Häuser, Restaurants, Geschäfte und Privatschulen. … Das hat zur Folge, dass die Bindung dieser neuen Elite an ihr jeweiliges Heimatland schwach ist. In einer abgehobenen Parallelgesellschaft fühlen sie sich als Weltbürger.“
Der Historiker Wolfgang Benz wies nach, dass sich Gaulands Artikel auf eine Rede stützte, die Hitler am 10. November 1933 in Berlin vor Siemens-Arbeitern gehalten hatte. Er denunzierte darin eine „kleine wurzellose internationale Clique“, die die Völker gegeneinander hetze: „Es sind das die Menschen, die überall und nirgends zuhause sind, sondern die heute in Berlin leben, morgen genauso in Brüssel sein können, übermorgen in Paris und dann wieder in Prag oder Wien oder in London, und die sich überall zu Hause fühlen.“ (Zuruf aus dem Publikum: „Juden!“) „Es sind die einzigen, die wirklich als internationale Elemente anzusprechen sind, weil sie überall ihre Geschäfte betätigen können.“
Bei Wagenknecht liest sich das so: „Der typische Lifestyle-Linke wohnt in einer Großstadt oder zumindest einer schicken Unistadt und selten in Orten wie Bitterfeld oder Gelsenkirchen. Er studiert oder hat ein abgeschlossenes Universitätsstudium und gute Fremdsprachenkenntnisse… Er reist – mit Ausnahme von Coronazeiten – außerordentlich gern und fliegt in der Regel besonders weit, denn Mobilität und Weitläufigkeit gehören ja zu seiner DNA.“ (27)
Hitler stellte der „internationalen Clique“ das „Volk“ als nationales Element entgegen: „…das Volk ist ja gekettet an seinen Boden, ist gekettet an seine Heimat, ist gebunden an die Lebensmöglichkeiten seines Staates, der Nation. Das Volk kann ihnen nicht nachgehen.“
Gauland schrieb: „…das sind zugleich diejenigen, für die Heimat noch immer ein Wert an sich ist und die als Erste ihre Heimat verlieren, weil es ihr Milieu ist, in das die Einwanderer strömen. Sie können nicht einfach wegziehen und woanders Golf spielen.“
Wagenknecht erklärt: „Für Menschen, die sich an Gemeinschaften orientieren, ist ihre Familie nicht irgendeine Familie, ihre Heimatregion nicht irgendein Landstrich und ihr Land etwas anderes als andere Länder. Deshalb fühlen sie sich Staatsbürgern des eigenen Landes enger verbunden als Menschen, die woanders leben.“ (220)
Wird fortgesetzt
Teil 2: Wirtschaftsnationalismus
[1] Sahra Wagenknecht, „Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt“, Campus Verlag Frankfurt am Main, 2021. Zahlen in Klammern geben die Seitenzahl in der Printausgabe an.