Sahra Wagenknecht ruft nach De-Globalisierung

„Versuche, die Wirtschaft zu retten, indem man sie mit dem Leichengift des Nationalismus impft, führen zu jener Blutvergiftung, die den Namen Faschismus trägt.“
Leo Trotzki, „Nation und Weltwirtschaft“, November 1933

Die Antwort Sahra Wagenknechts auf die Coronakrise lautet: De-Globalisierung. Am 20. Mai erläuterte das führende Mitglied der Linkspartei ihre Vorstellungen in der Kolumne, die sie regelmäßig für das rechte Wochenmagazin Focus schreibt.

Unter der Überschrift, „Was Deutschland jetzt braucht, um den Wohlstand der Mittelschicht zu retten“, erklärt Wagenknecht: „Arbeitnehmer und heimische Anbieter vor Billigimporten und feindlichen Übernahmen zu schützen, ist nicht nationalistisch, sondern demokratische Pflicht. … Wir müssen industrielle Wertschöpfung zurück nach Europa holen und in Schlüsselbranchen wie der Digitalwirtschaft unsere Abhängigkeit überwinden.“

Deutschland und die USA hätten im späten 19. Jahrhundert ihre industrielle Rückständigkeit „hinter dem Schutz hoher Zollmauern“ überwunden, begründet Wagenknecht ihre Forderung nach „Schutzmaßnahmen für die heimische Wirtschaft“: „Nicht Freihandel, sondern Protektionismus hat beide Länder reich gemacht.“

Auch von der jüngsten Globalisierung hätten „ausschließlich Länder profitiert, die nicht nach den westlichenSpielregeln – Freihandel, freier Kapitalverkehr, Rückzug des Staates aus der Wirtschaft – sondern nach eigenen Regeln gespielt haben“. China, Japan oder Südkorea hätten „nationale Industriebranchen äußerst selektiv und immer erst dann dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt, als sie ihn auf Augenhöhe bestehen konnten“.

Den Aufruf zum Protektionismus verknüpft Wagenknecht mit Angriffen auf „Globalisierungsgewinner“ – „angelsächsische Finanzinvestoren“, den „internationalen Club der Milliardäre“, „eine neue gehobene Akademikerklasse, die in den trendigen Innenstadtvierteln der westlichen Metropolen lebt“. Ihnen stellt sie all „diejenigen gegenüber, deren Leben härter und unsicherer geworden ist“. Auch darunter gebe es viele Akademiker, vor allem aber betreffe das „Menschen, die keinen Hochschulabschluss haben und deren Aussichten auf einen soliden Job und beruflichen Aufstieg heute sehr viel geringer sind als in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts“.

Die Behauptung, Zollmauern und andere protektionistische Maßnahmen dienten dem Schutz der sozial Benachteiligten, ist inhaltlich falsch und politisch reaktionär. Sie steht nicht in der Tradition des Sozialismus, sondern in der Tradition des Faschismus. Sie dient dazu, Nationalismus zu schüren, die internationale Arbeiterklasse zu spalten und Handelskrieg und Krieg vorzubereiten.

Sowohl Mussolini wie Hitler gaben der Weltwirtschaft die Schuld für die tiefe Rezession der 1930er Jahre und verfolgten eine nationalistische Wirtschaftspolitik. Leo Trotzki, der neben Lenin wichtigste Führer der russischen Oktoberrevolution und Gründer der Vierten Internationale, schrieb dazu im November 1933 den Artikel „Nation und Weltwirtschaft“, aus dem das eingangs angeführte Zitat stammt.

Trotzki erklärt darin nicht nur den anachronistischen, zutiefst reaktionären Inhalt des Wirtschaftsnationalismus, er sagt – sechs Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg – auch die kommende Katastrophe voraus. Der faschistische Nationalismus, schreibt er, bereite „nicht die Besänftigung der Wirtschaft im nationalen Rahmen, sondern vulkanische Ausbrüche und grandiose Zusammenstöße vor. Alles, was wir da während der letzten dreißig Jahre erlebten, wird sich als eine idyllische Ouvertüre erweisen im Vergleich mit der höllischen Musik, die uns erwartet.“

Trotzkis Einschätzung stützte sich auf das marxistische Geschichtsverständnis, laut dem die Entwicklung der Produktivkräfte die treibende Kraft des menschlichen Fortschritts ist. Im 18. und 19. Jahrhundert hatten die bürgerlichen Revolutionen den mittelalterlichen Partikularismus überwunden und moderne Nationalstaaten geschaffen, in denen sich die kapitalistische Wirtschaft entwickeln konnte.

Doch die wirtschaftliche Entwicklung machte vor dem nationalen Rahmen nicht Halt. Der Welthandel wuchs, der Schwerpunkt verlagerte sich vom inneren auf den äußeren Markt. „War für das 19. Jahrhundert kennzeichnend die Verknüpfung des Geschicks der Nation mit dem der Wirtschaft, so ist die Grundtendenz unseres Jahrhunderts der wachsende Widerspruch zwischen Wirtschaft und Nation“, erklärt Trotzki. „Die heutige Krise – Synthese aller kapitalistischen Krisen der Vergangenheit – bedeutet vor allem die Krise der Nationalwirtschaft.“

Die imperialistischen Mächte versuchten, diese Krise durch eine gewaltsame Ausdehnung zu Lasten ihrer Rivalen zu „lösen“. Das war der wichtigste Grund für die beiden Weltkriege. „Eine der Hauptursachen des [Ersten] Weltkriegs“, so Trotzki, „war das Bestreben des deutschen Kapitals, in eine breitere Arena vorzustoßen. Der Gefreite Hitler focht 1914-18 nicht im Namen der Einheit der deutschen Nation, sondern im Namen eines übernationalen, imperialistischen Programms.“

Doch der Krieg brachte keine Lösung. Deshalb ernannten die herrschenden Eliten Hitler 1933 zum Kanzler und statteten ihn mit diktatorischen Vollmachten aus. Die Nazis wurden gebraucht, um durch die Zerschlagung der Arbeiterbewegung und die Konzentration der nationalen Wirtschaft einen zweiten imperialistischen Weltkrieg vorzubereiten.

Obwohl fast 90 Jahre alt, ist Trotzkis Artikel heute aktueller denn je. Die Integration der Weltwirtschaft hat ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Nicht nur der Handel, auch die Produktionsketten umspannen heute den ganzen Erdball. Die Weltbevölkerung ist mit fast 8 Milliarden Menschen vier Mal so groß wie 1933, über die Hälfte davon lebt in Städten.

Der Versuch, „die Wirtschaft gewaltsam dem überlebten Nationalstaat zu unterwerfen“, hat heute noch viel verheerendere Konsequenzen als damals. Er stellt das Überleben der Menschheit in Frage. Trotzdem greifen, ausgehend von den USA, Wirtschaftsnationalismus und Handelskrieg wie ein Lauffeuer um sich. Um noch einmal Trotzki zu zitieren: „Anstatt der modernen Technik den ihr angemessenen Raum zu schaffen, hacken und schneiden die Herrschenden den lebendigen Organismus der Wirtschaft in Stücke.“

Alle imperialistischen Mächte, einschließlich Deutschland, rüsten massiv auf. Milliarden werden in die Erneuerung der nuklearen Arsenale gesteckt. Die Kriegsvorbereitungen, insbesondere gegen China, sind weit fortgeschritten. Überall recken rechte und faschistische Kräfte ihr Haupt.

Als promovierte Ökonomin weiß Wagenknecht natürlich, dass es unmöglich ist, die Wirtschaft mit friedlichen Mitteln auf den Stand vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten zurückzuwerfen. In einem wirtschaftlich hochentwickelten Land wie Deutschland, das wie kaum ein anderes auf die internationale Arbeitsteilung angewiesen ist, ist diese Vorstellung absurd.

Ihr Eintreten für Protektionismus verfolgt ein anderes Ziel. Sie wirbt damit dafür, die deutsche Bourgeoisie in zukünftigen Handelskriegen und Kriegen gegen China und insbesondere gegen die USA zu unterstützen. Und sie versucht Kräfte zu mobilisieren, die der Vereinigung der internationalen Arbeiterklasse – der einzigen gesellschaftlichen Kraft, die den Kapitalismus stürzen und die Weltwirtschaft zum Wohle der gesamten Menschheit organisieren kann – entgegentreten.

Wagenknechts Hetze gegen Flüchtlinge, die ihr wiederholt das Lob der AfD eingebracht hat, war kein Ausrutscher. Sie hat in ihrer politischen Karriere viele Schwenks vollzogen, doch eines blieb immer konstant – ihr Nationalismus.

Nach der deutschen Wiedervereinigung diente die Zwanzigjährige als jugendliches Aushängeschild für die Kommunistische Plattform in der PDS, eine Sammlung bejahrter DDR-Funktionäre, die dem Stalinismus und seiner nationalistischen Doktrin vom „Sozialismus in einem Land“ nachhingen. Zwanzig Jahre später begann sie dann ein Loblied auf die reaktionäre Adenauer-Ära und deren ordoliberalen Ökonomen zu singen. Marx erwähnte sie nicht mehr. Stattdessen vertrat sie die Auffassung, Sozialismus sei konsequent befolgter Liberalismus mit Wettbewerb, Leistungsgesellschaft und Eigenverantwortung.

Inzwischen ruft sie nach dem starken Staat, um die deutsche Wirtschaft gegen „chinesische Dumpingexporte“ und „ausländische Übernahmen“ zu schützen und für „einen echten Leistungswettbewerb“ zu sorgen, wie sie am 21. Mai in einem Interview mit der Wirtschaftszeitschrift Capital erklärte. Eine „Staatswirtschaft“ lehnt sie dagegen explizit ab. Es sei „nicht Aufgabe des Staates, dauerhaft Unternehmen zu führen“.

Auch wenn sich Wagenknecht im November letzten Jahres vom Vorsitz der Bundestagsfraktion zurückgezogen hat, zählt sie weiterhin zu den führenden Vertretern der Linkspartei, die sie häufig in Talkshows und Medien vertritt. Sie ist symptomatisch für eine Partei, die uneingeschränkt hinter dem deutschen Imperialismus steht und bereit ist, seine Interessen mit allen Mitteln gegen soziale Aufstände im Innern und gegen äußere Rivalen zu verteidigen.

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