Die Linkspartei, die bisher nur über „Programmatische Eckpunkte“ verfügte, wird im Oktober in Erfurt ein Grundsatzprogramm verabschieden. Bereits im Vorfeld vollzieht sie einen deutlichen ideologischen und politischen Rechtsschwenk. Symptomatisch dafür ist das jüngste Buch der stellvertretenden Parteivorsitzenden Sahra Wagenknecht „Freiheit statt Kapitalismus“.
Sahra Wagenknecht war im Alter von zwanzig Jahren, kurz vor dem Mauerfall der DDR-Staatspartei SED beigetreten und hatte in deren Nachfolgeorganisation PDS lange Zeit als Aushängeschild der Kommunistischen Plattform gedient. Diese Plattform stützte sich vorwiegend auf alte SED-Mitglieder, die mit dem Zusammenbruch der DDR ihren Status und ihre Stellung verloren hatten und nun das DDR-Regime verklärten. Wagenknecht führte Marx und Luxemburg im Munde und kleidete sich sogar wie Rosa Luxemburg. Mit Marxismus hatten ihre damaligen Auffassungen allerdings wenig zu tun, eher schon mit Stalinismus.
Mittlerweile ist Wagenknecht stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei und vertritt diese im Bundestag als wirtschaftspolitische Sprecherin. Ihre Mitgliedschaft in der Kommunistischen Plattform „ruht“ seit einem Jahr. Aus ihrem jüngsten Buch sind Marx und Luxemburg verschwunden; der einzige Marx, den sie zitiert, ist nicht Karl der Sozialist, sondern Reinhard, der Erzbischof von München und Freising. Statt der ökonomischen Lehren von Karl Marx lobt sie nun die Lehren von Walter Eucken und Alfred Müller-Armack, der Theoretiker des sogenannten Ordoliberalismus. Ludwig Erhard, der CDU-Wirtschaftsminister und Bundeskanzler der Nachkriegszeit, hat Walter Ulbricht und Erich Honecker als politisches Vorbild abgelöst.
Das gesamte erste Kapitel des Buches ist dem Lob Ludwig Erhards und der ordoliberalen Schule gewidmet. Diese entwickelten ihre ökonomischen Theorien in den 1930er Jahren. Während Eucken dem Nazi-Regime kritisch gegenüberstand und mehrmals mit ihm in Konflikt geriet, war Müller-Armack seit 1933 NSDAP-Mitglied (worüber Wagenknecht kein Wort verliert) und diente dem Nazi-Regime als Berater.
Der Ordoliberalismus ist eine spezifisch deutsche Form des Neoliberalismus. Er befürwortet Privateigentum und freien Markt, will sie aber durch staatliche Regeln kontrolliert sehen. Seine zentrale These lautet, „dass Märkte ihre segensreiche Wirkung nur in einem starken Ordnungsrahmen entfalten können, der vom Staat definiert wird“, wie ein anderer Anhänger des Ordoliberalismus, der konservative Chef des Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn schreibt.
Eucken, der sein Hauptwerk 1939 veröffentlichte, lehnte eine staatliche Lenkung der Wirtschaft strikt ab. Für ihn war die Marktwirtschaft der Gegenpol zur Zentralverwaltungswirtschaft, die er sowohl in Nazi-Deutschland wie in der Sowjetunion verwirklicht sah, und unabdingbare Voraussetzung politischer Freiheit. Unter Marktwirtschaft verstand er allerdings nicht eine Politik des „Laissez faire“. Vielmehr sollte der Staat die Rahmenbedingungen so festlegen, dass keine Monopole oder andere Konzentrationen wirtschaftlicher Macht entstehen konnten und der „vollständige Wettbewerb“ gewährleistet war.
Auch wenn Eucken seine Theorien als Antwort auf Nationalsozialismus und Stalinismus entwickelte, lassen sich darin unschwer historische Traditionen entdecken. Der deutsche Kapitalismus konnte sich einen Manchesterliberalismus nach britischem oder amerikanischem Vorbild nie leisten, weil er sich mit historischer Verspätung entwickelte. Er war sowohl im Kampf gegen seine Rivalen nach außen wie gegen die Arbeiterbewegung im Innern auf einen starken Staat angewiesen. Aus diesem Grund verzichtete das deutsche Bürgertum im 19. Jahrhundert auf den Kampf für demokratische Rechte und arrangierte sich mit dem autoritären Regime Bismarcks und der Hohenzollern.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Vertreter der deutschen Wirtschaft dann gezwungen, Kreide zu fressen. Ihre enge Verbindung zum Nazi-Regime und ihre Mitverantwortung für dessen Verbrechen waren zu offensichtlich, als dass sie einfach hätten zur Tagesordnung übergehen können. Sozialistische Stimmungen waren in der Bevölkerung weit verbreitet.
Unter diesen Umständen begründeten die Ordoliberalen die „sozialen Marktwirtschaft“. Ihre zentrale These lautete, die sozialen Forderungen der Arbeiterklasse könnten auch ohne sozialistische Umwälzung befriedigt werden, wenn der Staat für die entsprechenden Spielregeln sorge. „Die Ordoliberalen gingen davon aus, dass eine durch strikte Regeln und ordentliche Sozialgesetzgebung eingebundene Marktwirtschaft dem Allgemeinwohl nicht länger feindlich gegenübersteht, sondern ihm dienstbar gemacht werden kann“, beschreibt dies Sahra Wagenknecht.
Mit sechs Jahrzehnten Verspätung begeistert sich nun auch Wagenknecht für diese Idee. Die These, Sozialismus sei konsequent befolgter Liberalismus, durchzieht ihr Buch wie ein roter Faden. Es ist eine Lobeshymne auf Wettbewerb, Leistungsgesellschaft und Eigenverantwortung im Sinne der Ordoliberalen, deren Lehren, konsequent angewandt, angeblich direkt zum Sozialismus führen. „Es wird Zeit zu zeigen, wie man, wenn man die originären marktwirtschaftlichen Ideen zu Ende denkt, direkt in den Sozialismus gelangt, einen Sozialismus, der nicht Zentralismus, sondern Leistung und Wettbewerb hochhält“, heißt es im Vorwort.
Die Widersprüche, Verwerfungen und Krisen des heutigen Kapitalismus, die sie im Laufe des Buches ausführlich schildert, erklärt Wagenknecht damit, dass die Lehren der Ordoliberalen nicht konsequent befolgt worden seien, als Folge des „gebrochenen Versprechens Ludwig Erhards“, wie eine Kapitelüberschrift in ihrem Buch lautet. „Leute wie Eucken, Müller-Armack und andere haben eingängig und wortreich vor genau jener fatalen Fehlentwicklung gewarnt, deren Konsequenzen wir heute erleben“, schreibt sie. An anderer Stelle heißt es: „Der Fehler des heutigen Kapitalismus ist nicht, dass er eine Leistungsgesellschaft wäre, sondern dass er keine Leistungsgesellschaft ist.“
Auch das Scheitern der Sowjetunion und der DDR interpretiert Wagenknecht ganz im Sinne der Ordoliberalen. Die Unterdrückung der Arbeiterdemokratie, die Übernahme der Macht durch die stalinistische Bürokratie und deren Missbrauch der Planwirtschaft zur Befriedigung ihrer Privilegien spielen dabei keine Rolle. Stattdessen macht Wagenknecht die staatliche Planwirtschaft für das Scheitern verantwortlich, den Versuch, „Marktbeziehungen zwischen Unternehmen durch eine detaillierte Planung der gesamten Volkswirtschaft zu ersetzen“. Es spreche „viel dafür, dass die Ineffizienz der östlichen Wirtschaften auf diesen Ansatz und, eng damit verbunden, auf fehlende bzw. falsche Anreizsysteme zurückging“.
Schließlich fasst sie ihre eigene Vorstellung eines „kreativen Sozialismus“ mit den Worten zusammen: „Kreativer Sozialismus hat sich von der Idee des planwirtschaftlichen Zentralismus verabschiedet. Er will mehr Wettbewerb, nicht weniger, Aber dort, wo lediglich Pseudowettbewerb stattfindet, weil natürlich Monopole und Oligopole ihre Marktmacht zur Wettbewerbsverhinderung einsetzen, ist die öffentliche Hand gefordert. Es gibt Marktwirtschaft ohne Kapitalismus und Sozialismus ohne Planwirtschaft.“
Wagenknechts Versuch, Eucken, Müller-Armack und Ludwig Erhard zu Vordenkern des Sozialismus zu erklären, ist historisch absurd. Die „soziale Marktwirtschaft“, zu der sich bis heute sämtliche bürgerlichen Parteien in Deutschland bekennen, war keine Vorstufe zum Sozialismus. Im Gegenteil, sie diente dazu, eine sozialistische Umwälzung zu verhindern und die Vermögen der Krupps, Flicks und anderer Kriegsverbrecher zu retten.
Im Rahmen der „sozialen Marktwirtschaft“ wurde auch jene enge korporatistische Verflechtung von Gewerkschaften, Unternehmen und Staat gesetzlich verankert, die heute eine Schlüsselrolle dabei spielt, Arbeitsplätze zu vernichten und Sozialleistungen abzubauen.
Die sozialen Reformen der Nachkriegszeit waren zudem kein Geschenk wohlmeinender Politiker und Ökonomen, die vom Ideal der sozialen Marktwirtschaft überzeugt waren, sondern erzwungene Zugeständnisse, denen oft erbitterte Klassenkämpfe vorausgingen. So erkämpften die Metallarbeiter in Schleswig-Holstein 1956/57 in einem 16-wöchigen Streik die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.
Ludwig Erhard, dessen Versprechen „Wohlstand für alle“ Wagenknechts Buch als Leitmotiv dient, war unter Arbeitern verhasst. Er musste das Kanzleramt 1966 nicht zuletzt wegen des Widerstands der Bergarbeiter gegen das Zechensterben räumen. Doch die Arbeiterklasse und der Klassenkampf spielen in Wagenknechts Vorstellungswelt keine Rolle. Hier bleibt sie ihrer stalinistischen Tradition treu.
Selbst wenn man außer Acht lässt, dass Wagenknecht die Ära Adenauers und Erhards idealisiert, eine Rückkehr in diese Zeit ist ebenso wenig möglich, wie ein Achtzigjähriger in die Haut eines Zwanzigjährigen schlüpfen kann. Der Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit, der den Konzeptionen der „sozialen Marktwirtschaft“ eine gewisse Glaubwürdigkeit verlieh, hat auch die Voraussetzungen für deren Scheitern geschaffen. Die inneren Gesetze der Kapitalakkumulation, ohne die der Kapitalismus nicht existieren kann, führen unweigerlich in wirtschaftliche und gesellschaftliche Krisen. Dies nachzuweisen war eine der großen Errungenschaften von Karl Marx.
Für Wagenknecht hat die Krise dagegen, wie wir gesehen haben, rein subjektive Ursachen, sie ist die Folge der „gebrochenen Versprechen Ludwig Erhards“. Man könnte ihr Buch daher als belanglos abtun, als Hirngespinst weitab von jeder Realität. Doch dem ist nicht so. Auch falsche Ideen haben praktische Konsequenzen.
Wagenknechts Loblied auf Wettbewerb, Leistungsgesellschaft und Ludwig Erhard ist ein unmissverständliches Signal an die herrschende Klasse, dass die Linkspartei bereit ist, die kapitalistische Herrschaft mit allen Mitteln zu verteidigen, während immer breitere Schichten von Arbeitern mit ihr in Konflikt geraten.
Wagenknechts Bekenntnis zu einem starken Staat nimmt dabei eine Entwicklung vorweg, die auch in der herrschenden Klasse immer mehr Unterstützung gewinnt. Wagenknecht betont zwar die ordnende Rolle des Staats gegenüber Banken und großen Konzernen. Aber eine staatliche Regulierung der kapitalistischen Wirtschaft ist nicht möglich, ohne auch die Arbeiterklasse und ihre Organisationen in die Schranken zu weisen. Nicht zufällig wurde der Korporatismus, der Arbeiter und Unternehmer zur engen Zusammenarbeit und zum Verzicht auf Arbeitskämpfe zwang, als erstes vom italienischen Faschismus entwickelt.
Auch in der Außenpolitik gewinnt ein starker, militärisch gerüsteter Staat angesichts wachsender nationaler Gegensätze zunehmend an Bedeutung. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass Wagenknecht Einfuhrzölle gegen Niedriglohnländer verlangt. Es wäre „durchaus überlegenswert, Produkte aus Ländern, die nur aufgrund von Hungerlöhnen und unerträglichen Arbeitsbedingungen – von Kinderarbeit nicht zu reden – konkurrenzlos billig sein können, bei der Einfuhr in die EU durch Aufschläge zu verteuern“, schreibt sie.
Handelsschranken, Leistung, Wettbewerb – das sind angesichts von wachsenden nationalen Konflikten, von Massenarbeitslosigkeit, Niedriglohnarbeit und einer tiefen Krise der gesamten kapitalistischen Gesellschaft die Parolen der Reaktion. Bemerkenswert ist, dass sie von einer Frau kommen, die bisher immer als Vertreterin des angeblich „linken“ Flügels der Linkspartei galt.
Wagenknecht spricht dabei nicht für sich allein. Sie hat die volle Unterstützung Oskar Lafontaines, der auch nach seinem Rückzug vom Parteivorsitz zu den einflussreichsten Köpfen der Linkspartei zählt. Kurz nach der Veröffentlichung ihres Buchs erklärte Lafontaine in einem Beitrag für den Tagesspiegel: „Für mich war und ist der Sozialismus nichts anderes als ein zu Ende gedachter Liberalismus.“