Berlin: Tausende demonstrieren für Enteignung der Immobilienkonzerne

Die Aufhebung des Berliner „Mietendeckels“ durch das Bundesverfassungsgericht bedeutet für hunderttausende Menschen massive Mieterhöhungen, Nachzahlungen und Armut. Das Urteil, das inmitten der Corona-Krise die Obdachlosigkeit verschärft, hat Signalwirkung für ganz Deutschland und steht sinnbildlich für die menschenverachtende Bereicherungspolitik der herrschenden Eliten in Deutschland und Europa.

Balakrishnan Rajagopal, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Wohnen, sprach am Donnerstag auf Twitter von einem „zutiefst beunruhigenden Urteil“ und mahnte mit Blick auf die Pandemie: „Die deutsche Regierung hat nach wie vor eine internationale rechtliche Verpflichtung, das Recht auf Wohnen gegenüber Mietern zu achten.“

Trotz der Gefahr durch Covid-19 nahmen noch am selben Tag mehr als 10.000 Menschen an spontan organisierten Protesten teil. Im Gegensatz zu der staatlichen Unterstützung, die Märschen von Rechtsextremisten und Corona-Leugnern regelmäßig zuteil wird, löste die Berliner Polizei die friedliche Hauptkundgebung vor dem Kottbusser Tor um 21 Uhr nach nur zwei Redebeiträgen gewaltsam auf.

Die Bereitschaftspolizei, die anschließend zu Dutzenden in Kampfmontur aufmarschierte, ging mit Reizgas gegen Demonstranten vor und verletzte mindestens einen ausgewiesenen Journalisten tätlich. Weiteres Videomaterial dokumentiert, wie ein Polizeibeamter auf einen am Boden liegenden Demonstrationsteilnehmer eintritt, der von weiteren Polizisten fixiert wird.

In den sozialen Medien verbinden breite Schichten von Arbeitern und Jugendlichen ihre Wut über die sozialen Verhältnisse in Berlin mit einer Abrechnung mit dem rot-rot-grünen Senat und der Entschlossenheit, der kapitalistischen Ausbeutung und Bereicherung entgegenzutreten.

Typisch für die Stimmung ist ein viraler Facebook-Eintrag von Ganden O.: „Die Deutsche Wohnen hat allein heute an der Börse nach dem Urteil mehr verdient, als wir armen Mieter aus der ehemaligen GSW-Sozialsiedlung zurückzahlen müssen und kaum können, nachdem die Miete zuvor schon dreimal in drei Jahren erhöht wurde.“ Die Verantwortung dafür trage das gesamte politische Establishment von der Union bis zur Linkspartei:

„Welche Partei vertritt Leute wie mich bei der Wahl im Herbst? Alle Parteien haben uns an die Deutsche Wohnen verkauft und verraten.“ Während sich die Regierungsparteien „in der Not noch die Taschen voll“ machen, „verlieren wir unser Zuhause“, so der User. „Wir Bürger haben ein Problem und nur die Wahl zwischen Pest, Cholera und Syphilis.“

Reporter der World Socialist Web Site und Mitglieder der International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) sprachen mit betroffenen Mietern über die Forderung nach einer entschädigungslosen Enteignung aller Wohnkonzerne und verbreiteten einen Aufruf der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) zu den Bundestagswahlen, der dem Programm der sozialen Ungleichheit der etablierten Parteien eine sozialistische Perspektive entgegen stellt.

„Ich teile mir zwischen Kreuzberg und Neukölln eine Einraumwohnung von 30 Quadratmetern mit meinem Partner“, berichtet Demonstrationsteilnehmerin Tamara (37), die vor zehn Jahren aus Italien nach Berlin gezogen ist. „Eigentlich bräuchten wir mehr Platz, aber erst hatte er nicht genug Geld und nun betrifft es mich. Viele unserer Freunde sind auf der Suche nach einer Wohnung, zum Beispiel weil sie Eltern geworden sind oder unter unsicheren Bedingungen leben. Eine Freundin von mir hat zweieinhalb Jahre nach einer bezahlbaren Wohnung gesucht. Überall wo man hinsieht, gibt es nur teure Wohnungen. Unterdessen leben immer mehr Menschen in Zelten am Kanal. Ein Anblick, der mich in einem der reichsten Länder der Welt fassungslos macht.“

Tamara, deren Partner erst im Januar eine neue Stelle gefunden hat, arbeitet als freiberufliche Übersetzerin und ist zusätzlich seit Februar auf Arbeitssuche. „Das Gerichtsurteil bedeutet für jeden von uns 100 Euro mehr Miete pro Monat, die wir für das letzte Jahr außerdem nachzahlen müssen. Für viele andere geht es um 400 bis 600 Euro pro Monat und damit insgesamt um einen Betrag von mehreren tausend Euro. Dabei hatten wir gehofft, uns endlich eine bessere Unterkunft leisten zu können.“ Dies betreffe besonders junge Menschen aus der Arbeiterklasse:

„Viele, die zum Beispiel eine Familie gründen wollten, haben schon weitere Zimmer angemietet, die sie nun zusätzlich nachbezahlen müssen. Wir Bewohner wurden von den Politikern nicht davor gewarnt, Geld zur Seite zu legen. Für das, was sie verbockt haben, müssen wir nun geradestehen. Viele junge Familien werden wie Studenten ihre Wohnungen miteinander teilen müssen – und Studenten selbst werden es sich erst gar nicht leisten können, hier zu wohnen. Es ist zum Verzweifeln und steht für mich sinnbildlich für unsere schlechte Regierung hier in Berlin.“

Dass sich diese Entwicklung zudem inmitten der Verheerungen der Coronavirus-Pandemie vollzieht, „ist ein Desaster“, sagt Tamara. „Viele Menschen haben im letzten Jahr ihren Job verloren. Die Eigentümer zeigen dafür keinerlei Empathie. Ein Freund erhielt gestern eine Mail mit der Aufforderung, innerhalb von sieben Tagen zu zahlen – obwohl eine so kurze Frist eigentlich illegal ist. Im letzten Jahr haben sich viele Eigentümer für Verkäufe entschieden – wodurch weitere Apartments an die reichsten Menschen gegangen sind. Diese Krise hat mich ohne Zweifel noch weiter für Fragen wie das Recht auf Wohnen, Gesundheit und Arbeiterrechte sensibilisiert.“

Die entschädigungslose Enteignung der Miethaie „wäre ein Traum“, sagt Tamara: „Man könnte den ‚Corona-Effekt‘ nutzen und gleichzeitig leerstehende Büros, Parkplätze und Shopping-Zentren in der Innenstadt für sozialen Wohnraum und andere dringend benötigte Einrichtungen umfunktionieren. Wohnen ist ein Grundrecht und mit grundlegendem Wohnraum sollte kein Profit gemacht werden.“

Tamara findet außerdem, dass die Bewegung zur Enteignung der Immobilienkonzerne in eine breitere Bewegung der Arbeiterklasse in ganz Europa münden sollte, die sich auch gegen Austerität, Klimawandel, Flüchtlingshetze und Faschismus richten müsse. „So lange, bis die letzte wohnungslose Person in Europa ein Dach über dem Kopf hat! Niemand sollte auf der Straße oder in einem Lager leben müssen.“

„Bis vor Kurzem dachte ich noch, dass mein Herkunftsland viel korrupter sei als andere europäische Länder. Vielleicht stimmt das auch – aber jeden Tag lese ich überall von Skandalen, gerade auch in Deutschland.“ Eine „Revolution“ sei schließlich „die logische Konsequenz dessen, was auf uns zukommt“.

Die Kampagne der Sozialistischen Gleichheitspartei zu den Bundestagswahlen komme daher zur rechten Zeit: „Das ganze System ist korrupt. Diejenigen, die Profite nicht vor Leben stellen wollen, gelangen darin nicht an die Spitze – ich hoffe, dass eure Kandidaten diese Regel widerlegen werden!“

„Ich stimme hundertprozentig zu, dass die Wohnkonzerne enteignet werden müssen“, sagt auch die Demonstrationsteilnehmerin Constance. Sie ist vor zwei Jahren als Geflüchtete aus Chicago nach Berlin gekommen, nachdem sie in den USA Opfer gezielter Polizeigewalt und faschistischen Terrors geworden war. „Ich habe selbst in meinem Leben immer wieder gegen die Gefahr von Obdachlosigkeit kämpfen müssen“, berichtet sie uns:

„Nachdem ich herkam, habe ich zwei Jahre in einem Flüchtlingswohnheim gelebt, wo ich mehrfach misshandelt wurde. Die Miete der öffentlichen Wohnung, in der ich jetzt lebe, wird zwar derzeit übernommen, kostet die steuerzahlenden Menschen von Berlin von nun an aber 250 Euro mehr. Am liebsten würde ich mein eigenes Geld verdienen, aber mit meinem Handicap habe ich keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Der Mietendeckel hätte mir gestattet, eigene Entscheidungen zu treffen und meine Miete durch eine Ausbildung selbst zu finanzieren. In Berlin gibt es Tausende, denen es ähnlich geht wie mir.“

„Wie viele Menschen in Berlin wurden schon geschädigt oder sind zu Tode gekommen, weil sie kein sicheres Obdach haben? Und warum? Nur, damit die Besitzer der Immobilienfirmen sich einen neuen Tesla kaufen können? Es muss Schluss sein damit, Profite über Leben zu stellen. Das ist es, worum es hier wirklich geht.“

„Die Sache des Sozialismus und der bezahlbaren Mieten liegt mir sehr am Herzen“, sagt Constance. „Das Motto sollte sein: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen! Wenn eine sozialistische Politik verfolgt worden wäre, hätten wir diese Krise jetzt nicht. Wenn unsere Menschenrechte als Ware gehandelt werden, werden Entscheidungen nicht zum Wohle aller getroffen.“ Stattdessen werde – wie im Falle von „Deutsche Wohnen und Konsorten“ – auf künftige Profite spekuliert, indem man Wohnungen leerstehen lasse. „Das macht ihnen nichts aus, weil sie so einen großen finanziellen Rückhalt haben. Durch eine Enteignung würde die Verantwortlichkeit wieder in unsere eigenen Hände übergehen.“

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Die Sozialistische Gleichheitspartei tritt zu den Bundestagswahlen an, um der Opposition gegen kapitalistische Ausbeutung und soziale Ungleichheit eine Stimme und Perspektive zu geben. Wir fordern die entschädigungslose Enteignung aller Wohnkonzerne und kämpfen für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa. Unterstützt unsere Wahlteilnahme noch heute mit eurer Unterschrift.

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