Bremen: Schüler wehren sich gegen Präsenzunterricht und fordern „konsequenten Lockdown“

Wie die World Socialist Web Site berichtet hat, entwickelt sich angesichts der mörderischen Öffnungspolitik der europäischen Regierungen insbesondere unter Schülern eine europaweite Massenbewegung für sichere Bildung. Dies zeigt sich derzeit unter anderem in Bremen, wo Schülerinnen und Schüler seit fast zwei Wochen einen weiteren Hybridstreik organisieren.

Die Abiturjahrgänge der Oberschule Kurt-Schumacher-Allee haben ihre Klassen auf eigene Faust und ohne die Zustimmung der Bildungsbehörde halbiert. Wie der Weser-Kurier am Sonntag berichtete, bearbeitet in der Oberstufe jeweils eine Hälfte der 240 Schüler den Unterrichtsstoff zuhause, während die andere Hälfte vor Ort am Unterricht teilnimmt. Der Wechsel findet stets nach zwei Tagen statt. „Wir haben das Gefühl, die Schulen sollen um nahezu jeden Preis offengehalten werden“, erklärte Fabienne Pastoor, Schulsprecherin der KSA-Oberstufe.

Gegenüber der Bremer News-Website Butenunbinnen berichtet die Schülerin Leonie Müller von überwältigender Unterstützung aus der Lehrerschaft: „Die meisten kooperieren und finden das gut. Auch die Schulleitung steht auf unserer Seite.“ Schulleiter Christian Sauter bezeichnete das Eingreifen der Schüler im Kampf für sichere Bildung als „großartig“. Den Schülerinnen und Schülern, so Leonie, gehe es darum, „Leben zu retten“: „Wir wollen ja nicht nur uns selber schützen, sondern auch andere Menschen, zum Beispiel unsere Familien zu Hause oder Personen, an denen wir auf der Straße zufällig vorbeigehen.“

Bei der Durchführung des Präsenzstreiks können Schüler, Lehrer und Schulleitung auf Erfahrungen aus dem Frühsommer zurückgreifen, als der digitale Wechselunterricht flächendeckend verordnet worden war und von der Regierung als erster Schritt zur vollständigen Wiederöffnung der Schulen betrachtet wurde. Heute, mehrere Monate nach dem Ende der Sommerferien, hat die Öffnungspolitik der Bundes- und Landesregierungen jedoch dazu geführt, dass die täglichen Neuinfektionen in Deutschland vierzigmal so hoch sind und die Pandemie jeden Tag sogar rund fünfzigmal so viele Menschenleben fordert. Mittlerweile sterben jeden Tag fast 500 Menschen an oder mit Covid-19.

Der Schulstreik in Bremen ist Bestandteil der wachsenden Welle des Widerstands von Schülerinnen und Schülern gegen die Durchseuchungspolitik der europäischen Regierungen. In den vergangenen Monaten entstanden in Griechenland, Polen und Frankreich große Schülerbewegungen für sichere Bildung, die sich auf viele hundert Schulen ausweiteten und in mehreren Fällen durch den Einsatz von brutaler Polizeigewalt niedergeschlagen wurden. In Deutschland hat es in den letzten Wochen Streiks und Proteste im gesamten Bundesgebiet gegeben, darunter in Bochum, Düsseldorf, Essen, Mönchengladbach, Bremerhaven, Worms und Kassel.

An einem Streik in Frankfurt am Main, zu dem der StadtschülerInnenrat aufgerufen hatte, nahmen vergangene Woche über 300 Schülerinnen und Schüler teil. Sie trugen Schilder mit der Aufschrift „mehr Aufklärung – mehr Mitbestimmung – mehr Gesundheit“. Auch die hessische Schülerinitiative unverantwortlich.org, die unter anderem Fotostatements von Schülern sammelt und veröffentlicht, hat für den kommenden Freitag zu einer digitalen Protestaktion aufgerufen.

Die International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) und die Sozialistische Gleichheitspartei kämpfen dafür, unabhängige Aktionskomitees zu gründen, um die Proteste auszuweiten und zu vernetzen und einen europaweiten Generalstreik zur Schließung der Schulen und nicht lebensnotwendigen Betriebe vorzubereiten. Nur durch eine bewusste internationalistische und sozialistische Perspektive, die das Leben und die Gesundheit von Arbeitern höher stellt als die kapitalistischen Profitinteressen, kann die größte humanitäre Katastrophe auf dem Kontinent seit dem zweiten Weltkrieg beendet und das Massensterben gestoppt werden.

Am Dienstag sprachen Vertreter der IYSSE mit Meret Göhring, die in Bremen die 13. Klasse einer Oberschule besucht und seit drei Jahren Mitglied der Schülervertretung ist, über den dortigen Schulstreik, die „Profite vor Leben“-Politik der Regierung und die Frage der politischen Perspektive.

„Unser Jahrgang ist extrem unzufrieden und frustriert“, sagt sie. „Man bringt uns in eine Zwickmühle und zwingt uns, zwischen unserem Abschluss und dem Leben unserer Angehörigen zu wählen. Doch auf iPads, die uns die Bildungsbehörde versprochen hat, warten wir schon seit September. Je mehr es aufs Abi zugeht, desto mehr wächst bei uns die Panik. Es wird klar, dass Halblösungen nicht mehr funktionieren. Was wir uns wünschen, ist ein konsequenter Lockdown über zwei bis drei Wochen, bis die Infektionsfälle wieder unten sind. Es muss jetzt ein großer Schritt gemacht werden.“

Die Bundes- und Landesregierungen, so Meret, verfolgen in der Pandemie grundlegend andere Interessen als Schüler und ihre Angehörigen: „Es ist ganz klar, wovon die Politik gerade motiviert ist – und das ist nicht das Wohlergehen der Bevölkerung, sondern die Wirtschaft und die Betriebe am Laufen zu lassen. Sie haben die Prioritäten auf den Profit gesetzt. Das ist der Kernpunkt, aber die Politik redet um den heißen Brei herum und rechtfertigt sich mit Verharmlosungen der Pandemie.“

Mit Blick auf die massive Aufrüstung der Bundeswehr inmitten der Pandemie fügt Meret hinzu: „Wenn man sieht, in welche Dinge Gelder gesteckt werden, kann man sich als Schüler ab einem gewissen Punkt nur noch verarscht vorkommen.“ Immer mehr Jugendliche seien gezwungen, daraus weitreichende politische Schlussfolgerungen zu ziehen:

„Ich glaube, dass mein Umfeld und meine Generation sich derzeit stark politisieren – aufgrund der Erfahrungen, durch die wir alle gehen. Wir haben Leute im Kurs, die ihren Job verloren haben. Andere haben ihre ganze Existenz verloren, wieder andere arbeiten in der Pflege. Das macht schon was mit einer jungen Generation, wenn man solche Erfahrungen durchmacht. Der Gedanke, dass privilegierte Leute durch die Pandemie kommen, ohne dass es irgendwelche Auswirkungen auf ihr Leben hat, ist für mich absolut unglaublich.“

Meret selbst arbeitet seit September in einem Altenpflegeheim. „In den letzten paar Wochen haben sich die Bedingungen extrem verschlechtert“, berichtet sie. „Als ich letzte Woche bei der Arbeit war, wurden von den vierzehn Bewohnern auf meinem Flur fünf auf die Coronastation verlegt. Wenn sich Pflegekräfte bei der Arbeit infizieren, können sie nicht in Quarantäne gehen, weil das unmittelbare Folgen auf den Betrieb und damit das Leben von Menschen hätte. Manche meiner Kolleginnen und Kollegen brechen deshalb teilweise auf den Fluren einfach zusammen. Es ist heftig zu sehen, wie die Betroffenen und meine Kollegen darunter leiden und wie der seit Jahrzehnten bekannte Pflegenotstand die Situation noch weiter verschlimmert.“

In der Tat ist die Situation in den Kliniken dramatisch. Wie die Deutsche Welle am Sonntag berichtete, liegen auf den Intensivstationen derzeit 40 Prozent mehr Covid-19-Patienten als im Frühjahr. „In einzelnen Ländern wie Sachsen ist die Zahl der Intensivpatienten fünfmal so hoch wie im April. Dort geraten Kliniken an ihre Kapazitätsgrenzen oder haben diese bereits überschritten“, erklärte Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) gegenüber der Presse. Besonders verheerend seien die „personellen Engpässe“ aufgrund des bekannten eklatanten Mangels an qualifizierten Pflegerinnen und Pflegern, der bereits jetzt erneut dazu führt, dass immer mehr geplante Eingriffe verschoben werden müssen. Fast jedes fünfte Intensivbett in Deutschland wird mittlerweile von einem Covid-19-Patienten belegt.

„Die Krankenhäuser sind nicht für große Naturkatastrophen ausgerüstet“, konstatiert die Berliner Krankenpflegerin Nina Böhmer in einem viralen Social-Media-Beitrag. „Dass die Intensivstationen voll und überlastet sind“, sei „nichts Neues“, so Böhmer: „Für diese Entwicklung könnt ihr euch bei der Kanzlerin und ihrer Koalition aus CDU/CSU und SPD bedanken, aber auch bei allen 16 Landesregierungen, an denen sämtliche demokratische Parteien beteiligt sind.“

Dass der Präsenzbetrieb der Schulen – und die damit verbundene absichtliche Zusammenführung von 30 verschiedenen Haushalten je Klassenraum – in dieser Entwicklung eine maßgebliche Rolle spielt, wird von ernsthaften Epidemiologen und medizinischen Experten immer wieder betont. So sprach etwa Professor Alexander Kekulé, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie des Universitätsklinikums Halle, in der vergangenen Woche gegenüber der Presse von „schwersten Ausbrüchen“ an weiterführenden Schulen. Jugendliche Schüler, so Kekulé weiter, seien „ganz starke Treiber der Pandemie.“

Welche Arroganz die herrschende Klasse sowohl der medizinischen Faktenlage als auch dem Schicksal von Millionen Schülern entgegenbringt, wurde gestern in einem Interview deutlich, das der Berliner Radiosender Radyo Metropol FM mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) führte. Den Schülern, die bei Minusgraden und geöffneten Fenstern stundenlang in überfüllten Klassenzimmern ausharren, riet die Kanzlerin dazu, „etwas Wärmeres zum Anziehen mit[zu]bringen“, in die Hände zu klatschen und regelmäßig „mal ‘ne kleine Kniebeuge“ zu machen. Eine flächendeckende Installation von Luftfiltern in Klassenräumen lehnte Merkel mit der Begründung ab, dies könne dazu führen, „dass man einfach nur die Luft herumwälzt“, anstatt sie auszutauschen.

Tatsächlich ist sich die herrschende Klasse Deutschlands und Europas der Katastrophe, die ihre Politik herbeigeführt hat, vollkommen bewusst. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellte unlängst in einer Rede vor dem Europa-Parlament fest, dass Covid-19 derzeit in den Ländern Europas „die Todesursache Nummer eins“ ist. Laut dem European Center for Disease Prevention and Control (ECDC) hat es bis gestern in Europa insgesamt knapp 14,2 Millionen Fälle gegeben – darunter mehr als 352.000 Tote.

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