Am Sonntag überstieg die Zahl der Covid-19-Fälle in den USA laut Johns-Hopkins-Universität, dem weltweit meistgenutzten Tracker, die Marke von elf Millionen. Zusätzlich zu diesem düsteren Meilenstein warnten die öffentlichen Gesundheitsbehörden, dass die Zahl der Toten, die sich mittlerweile der Marke von 250.000 nähert, bis zum Frühjahr auf eine halbe Million steigen könnte.
In einem Bundesstaat nach dem anderen mussten die Gouverneure per Notverordnung die teilweise oder völlige Schließung von Bars, Restaurants, Fitnessstudios und anderen Einrichtungen verfügen, in denen sich Menschen treffen. Michigan hat für drei Wochen den Sport an allen High Schools verboten und warnt eindringlich vor großen Zusammenkünften während des bevorstehenden Thanksgiving-Fests.
Ein Bereich wurde jedoch von allen Einschränkungen ausgeschlossen: die Arbeitsplätze in großen Konzernen, darunter Fabriken, Lagerhäuser und Bürogebäude, in denen Hunderte oder Tausende von Arbeitern ohne Rücksicht auf soziale Distanzierung oder die öffentliche Gesundheit zusammengepfercht sind.
Die Pandemie hat mittlerweile ein viel größeres Ausmaß angenommen als im Frühjahr. Laut Johns Hopkins verzeichnen 45 Bundesstaaten einen wöchentlichen Anstieg der Infektionen. Im Unterschied dazu waren im März und April nur eine Handvoll Staaten stark betroffen, während im Sommer die Bundesstaaten im Süden und Südwesten das Epizentrum der Pandemie bildeten. Alle Regionen des Landes sind jetzt betroffen, aber die am stärksten betroffen Bundesstaaten liegen mittlerweile im Norden und im oberen Mittleren Westen (North und South Dakota, Minnesota, Wisconsin, Illinois und Michigan).
Der gefährlichste Aspekt des neuen Anstiegs ist die Belastung der Krankenhäuser. Laut dem Covid Tracking Project wurden am Samstag 69.455 Patienten mit Covid-19 stationär aufgenommen. Es wird erwartet, dass dieser Rekordwert innerhalb weniger Tage die Marke von 70.000 überschreiten wird.
In vielen Städten und ländlichen Gebieten sind alle verfügbaren Krankenbetten mit Covid-Patienten belegt. Wenn die Zahlen weiter ansteigen, werden die notwendigen Einrichtungen nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Patienten würden dann in Fluren, Notaufnahmen, Krankenwagen und zu Hause sterben.
Der Beginn der jährlichen Grippesaison wird diese Belastungen noch weiter verschärfen. Letztes Jahr hat die Grippe 22.000 Todesopfer gefordert, 400.000 Menschen mussten ins Krankenhaus.
Die Trump-Regierung hat auf die Pandemie mit bewusster Vernachlässigung reagiert, die jetzt offen als Programm der „Herdenimmunität“ proklamiert wird. Im Rahmen dieser Politik wurde die ungebremste Ausbreitung der Infektion in der Bevölkerung ermöglicht und alle Gesundheitsmaßnahmen abgelehnt, die die Profite der Konzerne verringern würden.
Wie Admiral Brett Giroir von der Coronavirus-Taskforce des Weißen Hauses am Sonntag in einem Fernsehinterview bestätigte, hat Trump seit fünf Monaten an keinem Treffen der Taskforce mehr teilgenommen. Diese Gleichgültigkeit und Kaltschnäuzigkeit ist der wichtigste Einzelgrund für Trumps Niederlage gegen den Demokraten Joe Biden in der Präsidentschaftswahl am 3. November.
Doch Biden ist genauso wenig bereit wie Trump, die amerikanische Wirtschaft zu belasten. Die Mitglieder der Coronavirus-Taskforce, die er letzte Woche gegründet hat, haben deutlich gemacht, dass Biden einen Lockdown der Wirtschaft ablehnt. Dabei wäre dies die einzige Maßnahme, um die verheerende Zahl an Toten und Infektionen im Winter zu verhindern, solange die Entwicklung, Produktion und Verteilung eines Impfstoffs noch andauert.
Angesichts der enormen Fortschritte bei der Entwicklung eines Impfstoffs ist dieses Verhalten besonders kriminell. Pfizer hat erst vor Kurzem angekündigt, dass sein Impfstoff eine Effektivität von 90 Prozent hat und sich in der dritten Testphase mit 40.000 Freiwilligen befindet. Für alle Todesfälle durch Covid-19, die sich in den Monaten zwischen der Entwicklung des Impfstoffs und seiner breiten Verteilung ereignen, sind ausschließlich die Regierungsvertreter und Konzernchefs verantwortlich, die Millionen zur Arbeit zwingen, obwohl bekannt ist, dass Arbeitsplätze zentrale Infektionsherde für die Pandemie sind.
Bidens Berater gaben am Sonntag bei Auftritten in Fernseh-Talkshows gleichlautende, einheitliche Antworten auf Fragen zur Corona-Politik, die eindeutig mit dem Kandidaten koordiniert waren: Es wird keinen neuen Lockdown geben; wer sich infiziert, ist selbst schuld, weil er keine Maske getragen, keine soziale Distanzierung eingehalten oder sich nicht die Hände gewaschen hat. Es wird keine neuen Mittel für Entschädigungen der durch Covid-19 verursachten wirtschaftlichen Verwerfungen geben, solange nicht beide Parteien im Kongress dafür stimmen; Biden kann nichts gegen die Pandemie unternehmen, bis er am 21. Januar 2021 Präsident wird.
Und selbst das ist zweifelhaft, da Trump sich weigert, seine Niederlage einzugestehen und plant, das Wahlergebnis für rechtsungültig zu erklären.
Der ehemalige Leiter des öffentlichen Gesundheitsdienstes und Co-Vorsitzende von Bidens Coronavirus-Taskforce, Vivek Murthy, machte in Auftritten in „Fox News Sunday“ und einem Interview mit dem National Public Radio statt der Konzerne und der Regierung die Bevölkerung für das Wiederaufleben von Covid-19 verantwortlich. Er verwies dabei auf die „Pandemie-Müdigkeit“.
Er nannte Dinner-Partys und andere kleinere Veranstaltungen als Beispiele dafür, dass die Menschen es „bei geselligen Zusammenkünften an Wachsamkeit fehlen lassen“. Er erwähnte jedoch nicht, dass in Fabriken und Lagerhäusern Hunderte oder Tausende Seite an Seite arbeiten, ohne dass soziale Distanzierung auch nur versucht wird.
Er rief dazu auf, sich auf „die Ausweitung der Testkapazitäten und unsere Kontaktverfolgungs-Kapazitäten“ zu konzentrieren. Das alles ist zwar gut, aber diese Maßnahmen verhindern die Ausbreitung des Virus nicht, sondern spüren es nur auf.
Er forderte „evidenzbasierte Richtlinien für Schulen, Unternehmen und religiöse Organisationen“. Diese Aussage deutet darauf hin, dass trotz der tödlichen Pandemie Schulen und Arbeitsplätze geöffnet bleiben und Kirchen Gottesdienste abhalten werden.
Als der Fox-Interviewer ihn zu einem Kommentar über Bidens Haltung zu einem Lockdown drängte, antwortete Murthy: „Diese Maßnahme treffen wir als letzte Option. [...] Ein Lockdown wird die Pandemie-Müdigkeit nur verschärfen. Wir müssen mit dem Skalpell vorgehen, nicht mit der rohen Gewalt einer Axt.“
Dr. Atul Gawande, ein weiteres Mitglied von Bidens Taskforce, wurde bei einem Auftritt in der ABC-Sendung „This Week“ direkt nach einem möglichen Lockdown gefragt und antwortete offen: „Wir befürworten einen landesweiten Lockdown nicht, und wir glauben nicht, dass es ein Szenario gibt, solange … – es gibt einfach kein Szenario, weil wir das unter Kontrolle bekommen können.“
Er forderte: „Gezielte Maßnahmen auf der Basis der Maskenpflicht, darunter Massentests sowie das Hoch- und Runterfahren von Einschränkungen, und diese Maßnahmen müssen eher auf örtlich begrenzter Basis getroffen werden.“
Ein weiteres Mitglied der Taskforce, Dr. Michael Osterholm, trat in der NBC-Sendung „Meet the Press“ auf. Er warnte ganz offen, dass die Zeit zwischen der Entwicklung eines Impfstoffs und seiner allgemeinen Verfügbarkeit in mehreren Monaten „eine sehr gefährliche Zeit ist, die gefährlichste Zeit für die öffentliche Gesundheit seit 1918“ – als eine weltweite Grippepandemie 50 Millionen Menschen tötete.
Er erklärte, Impfstoffe würden die Lage grundlegend ändern, doch bis sie überall verfügbar seien, müsse alles getan werden, um ohne Rücksicht auf die Kosten Menschenleben zu retten. Osterholm hatte einige Tage zuvor einen landesweiten Lockdown und die Entschädigung von Arbeitern und Kleinunternehmern für verlorene Löhne und Einnahmen gefordert.
Am Sonntag erklärte er zum Ende des Interviews: „Wissen Sie, meine schlimmste Befürchtung ist, dass die Leute auf der Straße sterben, wie wir es in anderen Ländern erlebt haben. Dort sind die Leute buchstäblich in den Wartezimmern der Notaufnahmen gestorben, nachdem sie dort zehn Stunden gesessen haben. Das wird noch passieren.“
„Die Medien werden anfangen darüber zu berichten, und wir werden das Ausmaß und die Größe dieser Tragödie sehen. Ich hoffe, dass wir letzten Endes unser Risiko nicht auf diese Weise reduzieren, diese Idee des Luftaustauschs. Wir müssen damit aufhören. Und deshalb glaube ich, dass der buchstäbliche Zusammenbruch des Gesundheitssystem uns bedauerlicherweise zeigen wird, was wir kurzfristig tun müssen.“
Bidens Wahlkampfteam hatte sich zuvor gegen Dr. Osterholms frühere Forderung gewandt, durch einen vier- bis sechswöchigen Lockdown Menschenleben zu retten. Er musste sich in Bezug auf die Arbeit für Bidens Übergangsteam öffentlich von seinem Aufruf distanzieren. Doch dem Team war klar, dass Osterholm in „Meet the Press“ auftreten und vermutlich von Bidens strenger, wirtschaftsfreundlicher Anti-Lockdown-Haltung abweichen würde.
Deshalb trat Bidens designierter Stabschef des Weißen Hauses, Ron Klain, direkt nach Osterholm in der Sendung auf – beinahe wie ein Zeuge der Gegenseite.
Klain machte deutlich, dass Biden nur eine nationale Maskenpflicht fordern wird, aber keinen Lockdown. Als der Interviewer Chuck Todd ihn zu Osterholms Aussage befragte, die wirtschaftlich von einem Lockdown Betroffenen sollten für verlorene Löhne und Einkommen entschädigt werden, sprach Klain nur vage von einer parteiübergreifenden Maßnahme des Kongresses in der aktuellen sogenannten „Lame Duck Session“ vor Bidens Amtseinführung.