Erdoğans Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee und die Kriegsgefahr

Die Umwandlung der Hagia Sophia in Istanbul in eine Moschee, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Freitag per Dekret beschlossen hat, ist eine populistische und islamistische Geste, die die Kriegsgefahr im Mittelmeer und dem Nahen Osten verschärfen wird.

Die Geschichte dieser einzigartigen, fast 1.500 Jahre alten Basilika ist kulturell bedeutend für Milliarden Menschen in vielen Ländern und Kulturen. Sie ist kein türkisches, sondern ein internationales Baudenkmal, dessen Erhalt der türkischen Bevölkerung aus historischen Gründen zugefallen ist. Angesichts des zunehmenden ethnischen und religiösen Blutvergießens, das die jahrzehntelangen imperialistischen Kriege im Nahen Osten ausgelöst haben, wird Erdoğans Versuch, die Hagia Sophia ausschließlich für den Islam zu beanspruchen, unvorhergesehene Konsequenzen haben.

Die Hagia Sophia wurde im Jahr 537 während der Herrschaft des römischen Kaisers Justinian I. als christliche Kirche in Konstantinopel (heute Istanbul) fertiggestellt. Die UNESCO, die die Kirche in das Weltkulturerbe aufgenommen hat, bezeichnet sie als eines der „einzigartigen architektonischen Meisterwerke byzantinischer [Kunst]... erbaut zwischen 532 und 537 von Anthemios von Tralleis und Isidoros von Milet“.

Das atemberaubende Gebäude war bis ins 15. Jahrhundert ein Zentrum der orthodoxen Kirche. Die einzige Unterbrechung war eine kurze Zeit im 13. Jahrhundert, als Kreuzfahrer Konstantinopel plünderten und die Hagia Sophia in eine römisch-katholische Kathedrale umwandelten. Im Jahr 1453 eroberte der osmanische Sultan Mehmet II. die Stadt und machte die Hagia Sophia zu einer Moschee. In der Zeit des Osmanischen Reichs wurde die Hagia Sophia durch Minarette sowie antike hellenistische Kunst aus der ganzen Türkei erweitert.

Der Untergang des Osmanischen Reichs und die Gründung der unabhängigen Republik Türkei im Jahr 1923 änderten den Status der Hagia Sophia. Dies war die Folge eines Kriegs, der mit sowjetischer Unterstützung gegen die eindringenden britischen, französischen, italienischen, griechischen und armenischen Armeen geführt wurde. Im Jahr 1935 wandelte die Regierung von Präsident Mustafa Kemal Atatürk sie in ein Museum um. Die UNESCO erklärte sie 1985 zu einem Teil des Weltkulturerbes. Seit 2007 haben mehr als 30 Millionen Menschen die Hagia Sophia besucht.

Seit der Umwandlung der Hagia Sophia in ein Museum haben Islamisten und Teile der nationalistischen Bewegung in der Türkei gefordert, die Entscheidung rückgängig zu machen und sie wieder in eine Moschee umzuwandeln.

Bezeichnenderweise gab Erdoğan selbst vor kaum einem Jahr zu, dass solche religiösen und nationalistischen Appelle die Gefahr eines internationalen Konflikts bergen. Noch kurz vor der Kommunalwahl im März 2019 wies er die Forderung, die Hagia Sophia in eine Moschee umzuwandeln, als „Provokation“ zurück. Mit Blick auf die Tausenden von Moscheen in Ländern ohne muslimische Bevölkerungsmehrheit auf der ganzen Welt fragte er: „Was glauben die, was mit diesen Moscheen passieren würde? ... Ich werde mich nicht hereinlegen lassen.“

Nur 15 Monate später hat Erdoğan selbst zu dieser Provokation gegriffen, und es dauerte nicht lange, bis es Kritik hagelte. Die Russisch-Orthodoxe Kirche bezeichnete die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee als „inakzeptabel“, der katholische Papst Franziskus erklärte, er sei „sehr erschüttert“. Die indischen Medien, die bereits über Erdoğans Kritik an antimuslimischen religiösen Ausschreitungen in Indien erbost waren, fordern von Neu-Delhi, Erdoğan zu kritiseren.

Die griechische Regierung verurteilte die Entscheidung und warnte, sie werde „nicht nur für die Beziehungen zwischen der Türkei und Griechenland, sondern auch für ihre Beziehung zur Europäischen Union Konsequenzen haben“. Griechenland ist als Nato-Mitglied zwar nominell mit der Türkei „verbündet“, allerdings tragen die beiden Länder einen erbitterten Konflikt um Zypern und Ölbohrrechte im Mittelmeer aus.

Erdoğans Sinneswandel ist das Ergebnis unlösbarer internationaler Krisen und Klassenkonflikte, für die die türkische Bourgeoisie keine Lösungen weiß. Drei Jahrzehnte nachdem die Auflösung der Sowjetunion durch das stalinistische Regime das wichtigste politische und militärische Hindernis für US-Kriege im Nahen Osten beseitigt hat, sieht sich die Türkei umzingelt von Kriegen und erbitterten wirtschaftlichen und geopolitischen Konflikten, die in einen offenen Krieg münden könnten.

Erdoğans Entscheidung von 2011, sich an den US-Kriegen in Libyen und Syrien zu beteiligen, hat zu einem blutigen Debakel geführt. Er führt jetzt in beiden Ländern Stellvertreterkriege gegen seine nominellen Verbündeten. In Libyen unterstützt die Türkei die Regierung der Nationalen Übereinkunft (GNA) gegen die von Frankreich und Russland unterstützen Milizen des Warlords Chalifa Haftar und im Mittelmeer gerät er mit Griechenland aneinander. Im Rahmen des anhaltenden Kriegs gegen die von den USA unterstützten kurdisch-nationalistischen Gruppen ist die Türkei mehrfach im Norden Syriens einmarschiert, dessen Regierung von Russland unterstützt wird.

Gleichzeitig führt die Corona-Pandemie zu einer deutlichen Verschärfung der internationalen Klassenkonflikte und zum Absturz von Erdoğans Umfragewerten auf etwa 30 Prozent – dem niedrigsten Wert seit 2002. Laut Schätzungen der Gewerkschaften hat die Pandemie in der Türkei mindestens elf Millionen Arbeitsplätze vernichtet und die Gesamtzahl auf den historischen Höchstwert von 17 Millionen Arbeitslosen angehoben. Die türkische Bourgeoisie beobachtet die zunehmenden Streiks und Proteste der Arbeiter in Amerika, Europa und dem Rest der Welt für sichere Bedingungen und gegen den Austeritätskurs mit Sorge und Entsetzen.

Vor allem nach den Massenprotesten gegen den Polizeimord an George Floyd in den USA, an dem Menschen aller Hautfarben und Ethnien teilnehmen, fürchtet sie den wachsenden politischen Widerstand.

Erdoğan nutzt jetzt die Hagia Sophia zum Schüren von religiösen und ethnischen Stimmungen, um die Klassengegesätze zu unterdrücken, die Arbeiterklasse nach religiösen und nationalen Kriterien zu spalten und angesichts der gefährlichen Kriegsspirale zwischen den Großmächten Nationalismus zu verbreiten.

Gerade weil es sich dabei um Klassenpolitik handelt, lässt sie sich nicht durch die Unterstützung von Erdoğans Gegnern im bürgerlichen Establishment der Türkei bekämpfen. Die Entscheidung, die Hagia Sophia wieder zu einer Moschee zu machen, wird nicht nur von Erdoğans islamistischer Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und der mit ihr verbündeten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützt, sondern auch von seinen bürgerlichen Gegnern wie der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) und deren Verbündetem, der ultrarechten Guten Partei. Letztgenannte Parteien werden von den imperialistischen Regierungen und Medien als aufgeklärte „Alternativen“ zu Erdoğan dargestellt.

Der Vorsitzende der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, erklärte als Reaktion auf die Entscheidung zur Hagia Sophia: „Öffnen Sie sie, wenn sie offen haben wollen.“ Der ehemalige Präsidentschaftskandidat der CHP-geführten Opposition gegen Erdoğan im Wahlkampf von 2018, Muharrem İnce, unterstützte die Entscheidung und erklärte, er werde am ersten Gebet in der Hagia Sophia am 24. Juli teilnehmen. Es ist kein Zufall, dass diese Parteien auch Erdoğans Kriegspolitik in der Region im Interesse der türkischen herrschenden Klasse unterstützen.

Der Konflikt um die Hagia Sophia bestätigt auf seine Weise Leo Trotzkis Theorie der permanenten Revolution. Letzten Endes können in einem Land mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung unter der Führung der Bourgeoisie weder demokratische Rechte und das kulturelle Erbe verteidigt, noch ethnische und religiöse Streitigkeiten beigelegt werden. Die Verteidigung demokratischer Rechte und die Überwindung ethnischer und religiöser Konflikte erfordern eine Hinwendung zur Arbeiterklasse, die mit einem internationalen und sozialistischen Programm gegen den Kapitalismus und den imperialistischen Krieg mobilisiert werden muss.

Ohne einen direkten Kampf gegen Imperialismus, Nationalismus und Krieg kann keiner dieser Kämpfe vorangebracht werden. Die Bedenken wegen der Hagia Sophia, die von Regierungen und religiösen Vertretern der imperialistischen Länder in Amerika und Europa geäußert werden, sind verlogen bis ins Mark. Ihre offenkundig heuchlerische Kritik spielt angesichts der explosiven Spannungen zwischen der Türkei und Russland, aber auch seinen angeblichen Nato-„Verbündeten“ wie die USA, Frankreich und Griechenland in Syrien, Libyen und dem östlichen Mittelmeer nur der nationalistischen Propaganda der türkischen Bourgeoisie in die Hände.

Der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian erklärte, Frankreich „bedaure“ Ankaras Entscheidung. Der hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, bezeichnete sie als „beklagenswert“. US-Außenminister Mike Pompeo forderte Erdoğan in einer Erklärung vom 1. Juli auf, „die Hagia Sophia weiterhin als Museum zu belassen“, und fügte hinzu, er „betrachte eine Veränderung des Status der Hagia Sophia als Minderung des Vermächtnisses dieses bemerkenswerten Gebäudes“.

Diese hohlen Lippenbekenntnisse aus dem Mund der imperialistischen herrschenden Klassen, die seit Jahrzehnten für die Plünderung wertvoller Kulturstätten im Nahen Osten verantwortlich sind, verdienen nichts als Verachtung. Nach dem völkerrechtswidrigen US-Einmarsch im Irak 2003 wurde das dortige Nationalmuseum geplündert. In Syrien führte der Nato-Stellvertreterkrieg, den Washington und die europäischen Mächte entfesselt haben, zur Zerstörung von jahrtausendealten Kulturstätten wie der Ruinenstadt Palmyra.

Die Trump-Regierung kritisiert zwar Erdoğans Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee, befürwortete aber die Entscheidung, den Tempelberg bzw. die al-Aqsa-Moschee und Jerusalem vollständig unter die Kontrolle des Staates Israel zu stellen.

Die obszöne Plünderung der Welt durch die imperialistischen Regierungen in Form von Kriegen, Bankenrettungen, Steuersenkungen und anderen Geldspritzen an die globale Finanzaristokratie geht Hand in Hand mit ihrer Geringschätzung von Kunst und Kultur in ihren eigenen Ländern. Als Le Drian heuchlerisch seine Bedenken wegen der Hagia Sophia äußerte, verlor er kein Wort über das Schicksal der Kathedrale Notre-Dame in Paris. Seine eigene Regierung hat so wenig für Brandschutz ausgegeben, dass während der Renovierungsarbeiten ein Brand das Dach sowie einen Turm und fast das ganze Gebäude zerstörte. Sie wird jahrelang geschlossen sein.

Erdoğans Entscheidung zur Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee entlarvt nicht nur die türkische Bourgeoisie, sondern ist auch eine Warnung. Angesichts der eskalierenden Kriegsspirale und der tödlichen Corona-Pandemie schüren die Kapitalistenklassen auf der ganzen Welt unablässig Nationalismus und religiöse Konflikte, die zu noch größeren Katastrophen führen werden, wenn dem nicht Einhalt geboten wird.

Die gesellschaftliche Kraft, die gegen diesen Kriegskurs mobilisiert werden kann und muss, ist die internationale Arbeiterklasse. Schon vor der Corona-Pandemie signalisierten Massenstreiks in den USA und die „Gelbwesten“-Proteste in Frankreich – zusammen mit Massenprotesten von Algerien und dem Libanon bis zum Irak und Iran gegen den Mord am iranischen General Soleimani – ein neues Aufleben des Klassenkampfs. Die entscheidende Aufgabe ist es, diese zunehmenden Kämpfe der internationalen Arbeiterklasse zu vereinen, indem sie mit einer sozialistischen und antiimperialistischen Perspektive ausgestattet werden.

Nur so können die Kriegspolitik und das zunehmende Schüren von religiösen und nationalen Differenzen durch die Bourgeoisie bekämpft und das gemeinsame kulturelle und historische Erbe der Menschheit verteidigt werden.

 

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