Der russische Präsident Wladimir Putin und sein türkischer Amtskollege Recep Tayyip Erdogan haben am Donnerstag nach einem sechsstündigen Treffen im Kreml eine neue Waffenruhe für die syrische Provinz Idlib angekündigt. Obwohl beide Seiten versuchen, ihre Streitigkeiten beizulegen, haben sie keine Lösung für die tieferen Konflikte zwischen der Nato und Russland, die den Syrienkrieg anheizen.
Am 6. März traf Erdogan zu Krisengesprächen in Moskau ein. Davor rissen die Kämpfe in Nordsyrien seit Februar nicht mehr ab. Die Türkei steht den von Russland unterstützten syrischen Truppen entgegen. Diese versuchen, die letzte Region im Land zurückzuerobern, die noch unter Kontrolle der islamistischen Oppositionsmilizen steht. Diese Milizen operieren seit 2011 in Syrien, um im Rahmen eines Nato-Stellvertreterkriegs einen Regimewechsel herbeizuführen, und werden dabei von den USA und den europäischen Imperialisten unterstützt.
Seit Anfang Februar wurden in Idlib mindestens 58 türkische Soldaten getötet, 36 davon bei einem syrischen Angriff am 27. Februar, den Russland genehmigt hatte. Die Türkei startete daraufhin am letzten Wochenende eine Vergeltungsoffensive gegen Stellungen der syrischen Regierungstruppen, bei der Dutzende syrische Soldaten durch Drohnenangriffe und Artillerie getötet wurden.
Die Einigung in Moskau beinhaltet einen Waffenstillstand für die nordwestsyrische Provinz ab Freitag früh, 6. März, Null Uhr. Putin und Erdogan einigten sich auch auf einen Sicherheitskorridor für Zivilisten, die vor dem Krieg fliehen. Dieser soll ab Mitte März gemeinsam von türkischen und russischen Truppen gesichert werden. Der Sicherheitskorridor wird sich zu jeder Seite der Autobahn M4 sechs Kilometer breit erstrecken.
Beide Präsidenten betonten ihre gemeinsamen Interessen und bilateralen Beziehungen. Putin äußerte zu Beginn des Treffens sein Bedauern darüber, dass türkische Soldaten getötet worden seien, und er erklärte, die syrischen Truppen seien zu Beginn des Angriffs nicht über die Position der türkischen Soldaten informiert gewesen. Da der Luftraum über Idlib von russischen Flugzeugen kontrolliert wird, räumte er damit stillschweigend Russland eine Mitschuld ein.
Erdogan wiederum erklärte, die türkisch-russischen Beziehungen seien auf dem „Höhepunkt“. Er behauptete, er sei gerne nach Moskau geflogen, damit Putin sich nicht die Mühe machen müsse, inmitten seiner Bemühungen um Verfassungsreformen eine Reise zu unternehmen.
Allerdings kann der Austausch solcher Höflichkeiten die Tatsache nicht verbergen, dass Moskau und Ankara rivalisierende Interessen verfolgen. Die Unterstützung der Nato für verschiedene islamistische Milizen hat in Syrien einen neunjährigen Krieg provoziert. Hunderttausende Menschen wurden getötet, und Dutzende Millionen wurden in Flüchtlinge verwandelt. Mittlerweile ist der von den USA angezettelte Regimewechselkrieg dabei, sich zu einem umfassenden Krieg auszuwachsen, der die Regionalmächte und die Großmächte gleichermaßen hineinziehen wird.
Moskau unterstützt das Assad-Regime. Das verschafft ihm den Zugang zum Mittelmeer sowie zwei Militärbasen an der Küste. Ankara dagegen lehnt die Rückeroberung von Gebieten durch die syrische Regierung ab. Zum einen fürchtet es eine neue Flüchtlingswelle an seiner Südgrenze, da bereits 3,7 Millionen Flüchtlinge in der Türkei leben. Zum anderen befürchtet die türkische Regierung, dass die kurdischen YPG-Milizen einen Protostaat Kurdistan an der Südgrenze konsolidieren könnten, sobald die türkischen Streitkräfte die Kontrolle über Nordsyrien verlieren. In diesem Fall könnte der Krieg auf die Türkei selbst übergreifen.
Diese Konflikte werden noch verschärft durch aggressive Versuche der imperialistischen Mächte, allen voran der USA, ihre geopolitische und wirtschaftliche Kontrolle über Syrien und den ganzen Nahen Osten zu befestigen. Der türkische Einmarsch begann im letzten Oktober, nachdem Präsident Trump der kurdischen Miliz YPG die Unterstützung entzogen und die US-Truppen aus dem Norden Syriens abgezogen hatte. Das war jedoch von Seiten Washingtons keinesfalls ein Rückzug aus der Region. Vielmehr hält das Pentagon weiterhin die syrischen Ölfelder mit 500 Soldaten besetzt und verstärkt seine Bestrebungen, im gesamten Nahen Osten eine anti-iranische Koalition unter seiner Führung aufzubauen. Die US-Regierung verstärkt ihre wirtschaftliche Kampagne des „maximalen Drucks“ auf Teheran und bereitet einen Krieg gegen den Iran vor.
Innerhalb der Trump-Regierung wird über mögliche Militärhilfen an die Türkei diskutiert. US-Verteidigungsminister Mike Pompeo erklärte am Donnerstag im Außenministerium: „Wir glauben fest daran, dass unser Nato-Partner Türkei das uneingeschränkte Recht hat, sich gegen die Gefahren zu verteidigen, die vom Vorgehen Assads, der Russen und der Iraner in Syrien ausgehen … Die türkische Regierung hat uns um einige Dinge gebeten, über die wir alle nachdenken.“
Die europäischen Mächte sind genauso entschlossen, sich ihren Anteil an der Beute aus der Neuaufteilung des Nahen Ostens zu sichern. Vor dem Treffen zwischen Putin und Erdogan am Donnerstag sprach die deutsche Kanzlerin Angela Merkel mit beiden Präsidenten und forderte sie auf, einen Waffenstillstand und die Errichtung einer Schutzzone in Idlib zu beschließen. Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer drohte am Mittwoch mit neuen Sanktionen gegen Russland, falls es die Kämpfe nicht beenden würde. Gleichzeitig appellierte sie an Erdogan, er müsse die Tatsache akzeptieren, dass die westlichen Mächte zuverlässigere Partner seien als Moskau.
Die europäischen Mächte haben bisher keine Absicht für eine sofortige Intervention geäußert. Das liegt aber nur an ihrer derzeit schwachen militärischen Position in Syrien, an deren Stärkung sie mit Hochdruck arbeiten. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach sich für die Errichtung einer Flugverbotszone für syrische Flugzeuge über Idlib aus. Es gebe bisher keine gemeinsame Position der EU für eine Pufferzone in Syrien, sagte Borrell. Er betonte: „Wir würden gerne die Sprache der Macht sprechen, aber im Moment können wir darüber nicht selbst entscheiden.“
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Das Abkommen von Donnerstag kann die diametral entgegengesetzten Interessen der Türkei und Syriens nicht in Einklang bringen. Offenbar kann es nur eine kurze Atempause vor der nächsten Eskalation von Kampfhandlungen sein. Erdogan weiß, dass dies eher früher als später geschehen wird. Bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Putin am Donnerstag erklärte er, die türkischen Streitkräfte behielten sich das Recht vor, syrische Truppen anzugreifen, sobald sie selbst unter Beschuss kämen.
Der letzte Waffenstillstand, das Abkommen von Sotschi von 2018, wurde nie vollständig umgesetzt. In den letzten Monaten ist es vollständig gescheitert. Es sah die Schaffung einer Pufferzone in Idlib vor, sofern türkische Truppen die radikalen, al-Qaida-nahen islamistischen Milizen von den so genannten „gemäßigten“ Rebellen trennen, und Russland Assad an einer Offensive zur Rückeroberung der Provinz hindern werde.
Tatsächlich dominieren die al-Qaida-nahen Milizen auch heute noch die islamistischen Rebellen in Idlib, mit denen die Türkei verbündet ist. Das macht es unmöglich, Streitkräfte ausschließlich aus „Gemäßigten“ zusammenzustellen. Ankara hat sich nicht nur geweigert, die Milizen separieren, sondern hat Kontingente nach Libyen geschickt, damit sie dort für die libysche Regierung von Fayes al-Sarradsch kämpfen sollen. Die Türkei steht in dem Bürgerkrieg in Libyen, den die Nato angezettelt hat, auf Seiten der al-Sarradsch-Regierung. Sie hofft, so die türkischen Investitionen in Libyen sichern und Ankaras Ansprüche auf Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer stützen zu können. Russland hingegen unterstützt den oppositionellen General Chalifa Haftar.
Unter diesen Bedingungen hat Russland die seit Langem geplante Offensive der syrischen Regierung in Idlib genehmigt und unterstützt. Hätte sie Erfolg, dann würde dies die Niederlage der von den USA unterstützten islamistischen Rebellen besiegeln, die seit 2011 gegen das Assad-Regime Krieg führen. Seit Beginn der Offensive im Dezember sind fast eine Million Menschen vertrieben und etwa 300 Zivilisten getötet worden.
Als letzte Woche der Konflikt in einen direkten militärischen Zusammenstoß mit Russland zu eskalieren drohte, rief Erdogan die Nato zur Solidarität auf und appellierte an den sogenannten „Bündnisfall“. Darauf öffnete er die türkischen Grenzen nach Europa für Flüchtlinge, um die europäischen Mächte zur Unterstützung seiner Kriegsziele zu zwingen.
Am Donnerstag ging der türkische Innenminister Suleyman Soylu noch einen Schritt weiter. Er kündigte die Stationierung von 1.000 schwer bewaffneten Polizisten an der griechisch-türkischen Grenze an, um den griechischen Grenzschutz daran zu hindern, Flüchtlinge zurück in die Türkei zu schicken. Das griechische Militär und die Polizei setzen mittlerweile Tränengas und scharfe Munition gegen wehrlose Flüchtlinge ein, und die EU und insbesondere die deutsche Regierung unterstützen das voll und ganz. Mindestens ein Flüchtling ist bereits an einem Kopfschuss gestorben.