13 Jahre lang hat der Westen einen Krieg mit dem Ziel des Regimewechsels gegen den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad geführt, der wiederum von Russland und dem Iran unterstützt wurde. Nun ist Assads Regime innerhalb weniger Tage zusammengebrochen. Jetzt überlegen die imperialistischen Staaten und Regionalmächte, angeführt von den USA und ihren Stellvertretertruppen im Lande, wie sie Syrien aufteilen können.
Die Türkei, die mehrere Provinzen im Nordwesten Syriens kontrolliert, interveniert in den Konflikt sowohl durch direkte Unterstützung der Syrischen Nationalen Armee (SNA), der Nachfolgeorganisation der ehemaligen Freien Syrischen Armee (FSA), als auch durch Unterstützung der mit Al-Qaida verbundenen Hayat Tahrir al-Sham (HTS), auch wenn diese international als terroristische Organisation gilt.
Am Samstag machte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan keinen Hehl aus seiner Freude über den Vormarsch der HTS auf Damaskus und sagte: „Idlib, Hama, Homs, das Ziel ist natürlich Damaskus. Dieser Marsch der Opposition geht weiter. Wir verfolgen das Geschehen sowohl über die Nachrichtendienste als auch über die Medien. Natürlich hoffen wir, dass dieser Marsch in Syrien ohne Unfälle weitergeht.“
In der gleichen Rede sagte Erdoğan: „Wir hatten an Assad appelliert: ‚Lasst uns zusammenkommen und die Zukunft Syriens gemeinsam bestimmen.‘ Leider konnten wir von Assad keine positive Antwort erhalten.“ Und weiter: „Diese unruhigen Märsche, die in der gesamten Region stattfinden, sind nicht das, was wir uns wünschen, wir lehnen das von Herzen ab. Leider befindet sich die Region in Schwierigkeiten.“
Diese Worte stammen von dem wichtigsten regionalen Akteur im Krieg der Nato für einen Regimewechsel in Syrien. Erdoğan ist besorgt, dass die von den USA unterstützten kurdischen nationalistischen Kräfte zu einem der wichtigsten Akteure in Syrien werden und dass der Konflikt gegen die Interessen der türkischen herrschenden Klasse wiederbelebt werden könnte. Die Wahrscheinlichkeit für ein solches Szenario ist noch gestiegen, seitdem die Dschihadisten die syrische Hauptstadt Damaskus eingenommen haben und die israelische Offensive in Syrien stattfindet, während gleichzeitig der Völkermord an den Palästinensern und die Aggression des zionistischen Regimes gegen den Iran weitergehen.
Der türkische Außenminister Hakan Fidan sagte am Montag: „In Syrien hat eine neue Ära begonnen. Wir müssen uns jetzt auf die Zukunft konzentrieren. Wir wünschen uns ein Syrien, in dem verschiedene ethnische und religiöse Gruppen in Frieden leben und ein integratives Verständnis von Staatsführung haben. Wir wollen ein neues Syrien, das gute Beziehungen zu seinen Nachbarn unterhält und Frieden und Stabilität in die Region bringt.“
Özgür Özel, Vorsitzender der Republikanischen Volkspartei (CHP), der noch am Samstag zum Dialog mit Assad aufgerufen hatte, stimmte in den Chor ein: „Wir rufen alle Freunde Syriens auf, eine Übergangsregierung zu unterstützen, die alle Syrer repräsentiert, gefolgt von einem demokratischen Regime, das auf Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit basiert, um zu vermeiden, dass die Fehler aus Irak und Libyen wiederholt werden“, schrieb Özel auf X.
Diese Aussagen sind vollkommen heuchlerisch. Die türkische Regierung und die herrschende Klasse gehören zusammen mit ihren imperialistischen Verbündeten in der Nato zu den Hauptverursachern des Krieges für einen Regimewechsel in Syrien, der zum Tod von Hunderttausenden, zur Vertreibung von Millionen und zur Zerstörung der Infrastruktur des Landes geführt hat.
Die Türkei will mit ihrer jetzigen Syrienpolitik vor allem die Gründung eines kurdischen Staates an ihrer Südgrenze verhindern. Zudem sollen ähnliche Bestrebungen unter der großen kurdischen Bevölkerung innerhalb der Türkei unterbunden werden. Das Ziel des Regimewechsels und expansionistische Bestrebungen wurden vonseiten der Türkei jedoch nie aufgegeben.
Seit 2016 hat die Türkei mehrere Militäroperationen gegen die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) unter Führung der von den USA unterstützten Volksschutzeinheiten (YPG) durchgeführt. Dadurch sollte die Entstehung einer einheitlichen kurdisch kontrollierten Region verhindert werden. Gemeinsam mit der SNA hat die türkische Armee Gebiete wie Jarabulus, Afrin, Ras al-Ayn und Tal Abyad besetzt.
Am 27. November, nach Beginn der HTS-Operation, nahm die SNA die von den SDF gehaltene Stadt Tal Rifaat ein. Während das Assad-Regime in Damaskus fällt, setzt die SNA ihre Operationen gegen die SDF fort. Am Montag meldete die Agentur Anadolu, dass auch Manbidsch von der SNA eingenommen wurde.
Die SDF, die den Westen des Euphrat verloren haben, übernahmen mit dem Sturz des Regimes die Kontrolle über Städte wie Qamischli, Hasakah und das ölreiche Deir ez-Zor.
Der SDF-Befehlshaber Mazlum Abdi erklärte auf seinem X-Account Folgendes: „In Syrien erleben wir historische Momente, denn wir sind Zeugen des Sturzes des autoritären Regimes in Damaskus. Dieser Wandel bietet die Chance, ein neues Syrien aufzubauen, das auf Demokratie und Gerechtigkeit beruht und die Rechte aller Syrer garantiert.“
In einem am Freitag veröffentlichten Interview sagte Abdi, man sei offen für eine „politische Lösung“ mit der HTS. „Wir haben nicht beschlossen, HTS zu bekämpfen. Sie sind nicht in der Lage, uns zu bekämpfen... Die internationalen Mächte, die UNO, sollten diesmal versuchen, eine politische Lösung zu finden. Die Verwaltung von Nord- und Ostsyrien sollte ebenfalls Teil der Lösung sein“, sagte Abdi. Und weiter: „Wir sind offen für alle, um die Probleme zu lösen. Dazu gehört auch HTS.“
Die Interessen der kurdischen und anderer Eliten in der Region drängen zwar die SDF zu einem Kompromiss mit HTS. Doch gleichzeitig dreht sich die imperialistische Gewaltspirale im Nahen Osten weiter und der Kampf um die Kontrolle der Ressourcen deutet letztlich auf eine Verschärfung des Konflikts hin. Die SDF, die von rund 900 US-Truppen in der Region und einer schwer bewaffneten Miliz unterstützt werden, kontrollieren wichtige Öl-, Erdgas- und Getreideressourcen. Diese werden für das neue Regime in Damaskus von großer Bedeutung sein.
Die Türkei, das einzige Nato-Land in der Region, lehnt kurdische nationalistische Kräfte, die in Syrien einen Status anstreben, dort ebenso entschieden ab wie im eigenen Land. Auf die Frage nach der Reaktion Ankaras auf die Möglichkeit eines neuen Staates in Syrien sagte Fidan, Ankara sei „vorsichtig, um sicherzustellen, dass ISIS und die PKK diesen Prozess nicht missbrauchen“. Er stehe hierzu in Kontakt mit den USA. Nach Angaben der Agentur Anadolu bestätigte ein ungenannter hochrangiger US-Vertreter dies mit den Worten: „Die Türkei und die USA sind in diesen Prozess voll eingebunden.“
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Fidan sagte, es gebe „völlig legitime kurdische Seiten“ in Nordsyrien, aber „eine Erweiterung der PKK kann nicht als legitime Seite betrachtet werden“. PKK-Elemente von außerhalb des Landes „leiten die SDF, wir können sie nicht als legitim ansehen, solange sie sich nicht selbst ändern“, sagte Fidan. Er gab dabei nicht an, auf welche Art von Veränderung er sich bezog.
Die kurdisch-nationalistische Partei der Gleichheit und Demokratie der Völker (DEM-Partei) in der Türkei verbreitet folgende Erklärung: „Der Weg zur Normalisierung in Syrien sollte mit einer Übergangsverwaltung geebnet werden, die von den legitimen Vertretern der Kurden, sunnitischen Araber, arabischen Alewiten, Christen, drusischen Gemeinschaften und allen anderen Minderheiten gebildet wird. In diesem heiklen Prozess appellieren wir an alle Parteien, sich des Risikos bewusst zu sein, dass eine externe Intervention regionaler Mächte der demokratischen Zukunft Syriens einen Schlag versetzen könnte.“
Die türkischen und kurdischen Führungseliten stellen sich somit rasch ein auf die Machtübernahme in Damaskus durch Kräfte, die mit Al-Qaida verbunden sind und die unmittelbar zuvor von ihnen noch als terroristische Organisationen denunziert wurden. Pro-imperialistische pseudolinke Kräfte gehen sogar so weit, die Ereignisse in Syrien zu einer „Volksrevolution“ zu erklären
Die morenistische Partei der Arbeiterdemokratie (İDP) begrüßte den Erfolg des von den Dschihadisten stellvertretend für die Imperialisten geführten Krieges zum Regimewechsel. Die İDP schloss sich der Erklärung der Internationalen Arbeiter-Union - Vierte Internationale (UIT-CI) an, deren Mitglied sie ist. „Wir unterstützen und solidarisieren uns mit dem syrischen Volk und mit diesem ersten revolutionären Erfolg“, heißt es in der Erklärung.
Die Kriege zum Regimewechsel, die 2011 in Libyen und dann in Syrien begannen, waren jedoch nicht die Fortsetzung der revolutionären Aufstände in Ägypten und Tunesien, wie einige pseudolinke Kräfte behaupten. Sie waren vielmehr die gewaltsame Antwort der imperialistischen Mächte darauf. Geschockt von der ägyptischen Revolution 2011 setzten die USA und ihre Verbündeten islamistische Stellvertreter ein, um die Massenkämpfe der Arbeiterklasse gegen die reaktionären arabischen Regime zu unterdrücken und abzulenken und ihre eigenen geopolitischen Interessen durchzusetzen.
Der Regimewechsel in Syrien ist nur eine Front im globalen Krieg des US-Imperialismus gegen Russland, China, den Iran und ihre Verbündeten. Die USA und ihre Nato-Verbündeten stehen am Rande eines direkten Krieges mit Russland wegen der Ukraine und sehen es als entscheidend an, den russischen und iranischen Einfluss im gesamten Nahen Osten zu untergraben, unter anderem in Syrien.
Der Zusammenbruch des syrischen Regimes findet statt, während der Völkermord im Gazastreifen weitergeht und die israelische Aggression eskaliert. In all diesen Ereignissen zeigen sich Bemühungen der USA, den ölreichen Nahen Osten zu beherrschen und die Region unter amerikanischer Kontrolle neu zu gestalten. Dies wird den Konflikt sowohl in Syrien als auch in der gesamten Region verschärfen. Die jüngste Geschichte des Irak, Libyens und Afghanistans, die nach der Zerstörung ihrer Regierungen durch US-geführte Kriege in regionale oder ethnische Konflikte zerfielen, ist eine Warnung hinsichtlich der Konflikte, die jetzt in Syrien entfesselt werden.
Der eskalierende Krieg und der Völkermord im Nahen Osten müssen beendet werden, stattdessen braucht die Region Frieden, Wohlstand und Demokratie. Voraussetzung dafür ist, dass die internationale Arbeiterklasse mit einem sozialistischen Antikriegsprogramm geeint und mobilisiert wird, um die Macht zu übernehmen - gegen die imperialistischen Mächte und ihre bürgerlichen Vertreter.