Immer mehr Menschen werden gezwungen für Hungerlöhne zu arbeiten. Das belegt eine neue Studie der Hans-Böckler-Stiftung, die am vergangenen Donnerstag vorgestellt wurde. Die Studie mit dem Titel Aktivierungspolitik und Erwerbsarmut kommt zu dem Ergebnis, dass in Europa immer mehr Menschen arm sind, obwohl sie arbeiten.
Die beteiligten Wissenschaftler des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Stiftung haben untersucht, wie sich arbeitsmarkt- und sozialpolitische Maßnahmen in 18 EU-Ländern von 2004 bis 2014 ausgewirkt haben, die allesamt darauf abzielen, Arbeitslose in Billiglohnarbeit zu zwingen.
Nach dieser Auswertung waren 2014 im Durchschnitt rund zehn Prozent der Beschäftigten in den untersuchten Ländern im Alter von 18 bis 64 Jahren arbeitende Arme (working poor). Sie müssen mit weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens in ihrem Land auskommen. Am höchsten war ihr Anteil in Rumänien mit 18,6 Prozent, gefolgt von Griechenland mit 13,4 Prozent und Spanien mit 13,2 Prozent.
In Deutschland verdoppelte sich die Zahl der arbeitenden Armen von knapp 1,9 Millionen oder 4,8 Prozent aller Beschäftigten im Jahr 2004 auf fast 4,1 Millionen oder 9,6 Prozent im Jahr 2014. Die Zunahme fällt in absoluten Zahlen noch höher aus, weil die Gesamtzahl der Erwerbstätigen in Deutschland in diesem Zeitraum von 39,3 auf 42,6 Millionen anstieg. In Deutschland galt 2014 ein Alleinstehender mit weniger als 986 Euro netto im Monat als arm. Bei einem Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren lag die Schwelle bei 2072 Euro.
„In den meisten Ländern ist die Erwerbsarmut schon vor Beginn der Krise im Euroraum gestiegen“, heißt es in der Studie. Im Zuge der Krise habe sich die Lage in etlichen Staaten aber noch verschärft: „Die Rezepte zur Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit sahen eine weitere Deregulierung der Arbeitsmärkte sowie eine Kürzung von Transferleistungen vor.“
In Griechenland, wo mit der Syriza-Regierung die soziale Konterrevolution in Europa ihren schärfsten Ausdruck findet, kommt die hohe Arbeitslosigkeit durch die Zerstörung von regulären Arbeitsplätzen, die brutale Kürzung von Arbeitslosenunterstützung und Renten zusammen. Aufgrund des allgemeinen sozialen Verfalls in Griechenland ist dort der statistische Anstieg bei der Erwerbsarmut relativ niedrig.
Das Beispiel Deutschland, wo die Zahl der Beschäftigten -anstieg, sei daher „besonders bemerkenswert“, schreiben die Forscher der gewerkschaftseigenen Hans-Böckler-Stiftung. „Offensichtlich ist der Zusammenhang zwischen Beschäftigungswachstum und Armut komplizierter als gemeinhin angenommen.“ Das ist eine euphemistische Umschreibung für die soziale Konterrevolution, die sich in den letzten zehn bis zwölf Jahren Bahn gebrochen hat.
Die Zunahme von unsicheren, zeitlich befristeten, niedrig entlohnten, Teilzeit- und Leiharbeitsverhältnissen für Millionen von Menschen ist ein internationales Phänomen und das Ergebnis einer bewussten Politik der Herrschenden.
„Die positive Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt beruhe zu einem großen Teil auf einer Zunahme atypischer Beschäftigung, vor allem Teilzeit, häufig im Dienstleistungsbereich und im Niedriglohnsektor“, konstatiert die Studie. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors sei durch weitgehende Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Kürzung von Transferleistungen und verschärfte Zumutbarkeitsregelungen beschleunigt worden. Der Druck auf Arbeitslose sei gestiegen, möglichst schnell eine Arbeit zu finden.
Die Gewerkschaften in allen Ländern hatten an dieser Entwicklung großen Anteil, indem sie in der Krise von 2008/2009 dem Kapitalismus zu Hilfe eilten und die Errungenschaften, die Arbeiter sich in Jahrzehnten erkämpft hatten, den Banken und ihren Regierungen auf dem Silbertablett serviert haben. Das ist auch der Grund für die diplomatische Zurückhaltung der WSI-Forscher, deren ermittelte Zahlen über die Armut unter Arbeitern eine Anklage an das bestehende System sind.
Das explosive Wachstum des Niedriglohnsektors in Deutschland ist vorher schon durch die Einführung von Hartz IV und die Agenda 2010 der SPD/Grünen-Regierung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer im Jahr 2005 durchgesetzt worden. Die Gewerkschaften haben sich 2004 bewusst gegen die Hartz-IV-Proteste und den Widerstand in breiten Teilen der Arbeiterklasse gestellt und stattdessen bei ihrer effektiven Durchsetzung mitgewirkt.
Welche konkreten Auswirkungen die immer schärferen und weitergehenden Sanktionen durch die Jobcenter hat, wohin der Druck, jegliche Art von Arbeit anzunehmen, führt, zeigt das Beispiel von Duisburg. In der Ruhrgebietsstadt mit knapp einer halben Million Einwohner leben 77.000 Menschen von Hartz IV. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten ist in den Jahren 2006 bis 2016 zwar wie überall gestiegen, um rund 15.000 auf knapp 166.000. Doch die Zahl der Vollzeitstellen sank in diesem Zeitraum um 700. Die Zahl der Teilzeit-Beschäftigten stieg dem gegenüber um rund 14.000 auf über 38.000.
Die Zahl der Leiharbeiter (davon die meisten in Vollzeit) verdreifachte sich in den letzten zehn Jahren auf 9.986 Arbeiter und Arbeiterinnen. 37.000 Duisburger haben einen Mini-Job (geringfügige Beschäftigung). 10.000 von ihnen arbeiten im Minijob zusätzlich zu ihrem normalen Beruf, weil sie sonst nicht über die Runden kommen. Fasst man diese Zahlen, die kürzlich ebenfalls von der Hans-Böckler-Stiftung veröffentlicht wurden, arbeiten in Duisburg mehr als ein Drittel aller Beschäftigten in Teilzeit, Minijob oder Leiharbeit.
Ein Verteilungsbericht des DGB, über den die Berliner Zeitung Anfang Juli berichtete, stellt fest, dass dies auch bundesweit zutrifft. Mehr als eine Million Menschen sind in Leiharbeit, 8,5 Millionen sind in Teilzeit beschäftigt. 2,53 Millionen haben befristete Arbeitsverhältnisse. Knapp zwei Millionen zählen als Scheinselbständige.
Die DGB-Studie stellt weiter fest, dass das Fünftel der Beschäftigten mit den niedrigsten Stundenlöhnen zwischen 1995 und 2015 einen Reallohnverlust von sieben Prozent hinnehmen musste. Das darüber liegende Fünftel der Beschäftigten verlor immer noch fünf Prozent. Eine Entwicklung, die die Gewerkschaften mit ihrer Tarifpolitik durchgesetzt haben.
Während die gewerkschaftsnahen WSI-Forscher versuchen, die Gründe für die verbreitete Armut trotz Arbeit durch Verweise auf „komplexe Zusammenhänge“ zwischen Beschäftigungswachstum und Armut zu verschleiern, ist klar, wer davon profitiert.
Während Millionen von Arbeitern und ihre Familien von Armut, Arbeitslosigkeit, unsicheren Arbeitsplätzen und Niedriglohnarbeit betroffen sind, häuft an der Spitze der Gesellschaft eine kleine Minderheit immer mehr Reichtum an.
Der Global Wealth Report der Schweizer Bank Crédit Suisse vom November 2016 verzeichnet für Deutschland einen starken Anstieg der Reichen und Superreichen. Danach erhöhte sich die Zahl der Dollar-Millionäre in Deutschland von Mitte 2015 bis Mitte 2016 um 44.000 auf rund 1,6 Millionen. Der Club der Superreichen, die ein Vermögen von mindestens 50 Millionen Dollar haben, vergrößerte sich um 500 auf 6100 Mitglieder. Deutschland lag damit auf dem dritten Rang nach den USA und China. Laut Forbes leben 114 Milliardäre in Deutschland. Die reichsten 36 von ihnen haben so viel Vermögen (276 Milliarden Euro) wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung.
Dieser wachsenden sozialen Ungleichheit kann nur durch eine Politik Einhalt geboten werden, die sich direkt gegen die Politik aller Parteien im Interesse der großen Banken und Konzerne richtet.
Im Wahlaufruf der Sozialistischen Gleichheitspartei zur Bundestagswahl schreiben wir:
„Die SGP kämpft für eine Gesellschaft, in der die Bedürfnisse der Menschen höher stehen als die Profitinteressen der Wirtschaft. Die großen Vermögen, Banken und Konzerne müssen enteignet und unter die demokratische Kontrolle der Bevölkerung gestellt werden. Nur so können die sozialen Rechte aller gesichert werden. Dazu gehören das Recht auf einen angemessen bezahlten Arbeitsplatz, eine erstklassige Ausbildung, bezahlbaren Wohnraum, sichere Renten, eine sehr gute Altersversorgung und Zugang zur Kultur.“